Ab Januar wird die Schweiz als nicht-ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates am berühmt-berüchtigten runden Tisch am UNO-Hauptsitz in New York Platz nehmen. Gemeinsam mit weiteren 14 Staaten wird sie Fragen der globalen Sicherheit debattieren. Die Schweiz muss die Gelegenheit nutzen, echte Veränderungen anzustossen. Dafür braucht es eine engagierte Agenda und ambitionierte Ziele.
Am Mittwoch warb Pascale Baeriswyl, die Chefin der Ständigen Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen, vor der UNO-Generalversammlung ein letztes Mal um die Wahl der Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat. Mit der offiziellen Wahl am Donnerstag, 9. Juni tritt die Schweiz, zusammen mit Malta, die Nachfolge von Irland und Norwegen an, die derzeit die regionale Gruppe westeuropäischer Staaten im Sicherheitsrat vertreten. Fast genau 20 Jahre nach dem Beitritt der Schweiz zur UNO – als 190. Mitglied und dank einem denkbar knappen Volksentscheid 2002 – gilt diese Wahl zu Recht als Meilenstein der Schweizer Aussenpolitik.
Nicht minder schwer dürfte der Stein gewesen sein, der Aussenminister Ignazio Cassis und damit auch dem Aussendepartement (EDA) vom Herz gefallen ist – beide, EDA und Cassis, hatten angesichts des festgefahrenen Europadossiers einen aussenpolitischen Erfolg dringend nötig. Entsprechend viele Ressourcen wurden in das Prestigeprojekt investiert. Mit der Lancierung der Kandidatur vor über zehn Jahren durch die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey liess die offizielle Schweiz eine hoch professionelle diplomatische PR-Initiative vom Stapel, um sich den UNO-Mitgliedsstaaten für den Sicherheitsrat zu empfehlen.
Unter dem Motto «A+ for Peace» («Ein Plus für den Frieden») erläuterte das EDA auf der eigens für die Kandidatur erstellten Website und über Social Media der Welt den Beitrag der Schweiz zum Weltfrieden, hob ihre Guten Dienste als Vermittlerin in Konfliktsituationen sowie ihre humanitäre Tradition hervor und stellte konkrete Beiträge zu sicherheitsrelevanten Fragen in Aussicht. Gleichzeitig galt es zuhause Bedenken zur Verträglichkeit der Kandidatur mit der Schweizer Neutralitätspolitik zu zerstreuen. Zuletzt im März 2022, als die SVP unter Verweis auf den Krieg in der Ukraine im Parlament ein letztes Mal versuchte, das Projekt zu stoppen – allerdings ohne Erfolg. Obwohl viele vorwiegend bürgerliche Parlamentarier und Parlamentarierinnen angesichts der neu entfachten Neutralitätsdebatte plötzlich wieder Zweifel hegten, ob die Schweiz im Sicherheitsrat wirklich gut aufgehoben wäre, wollten sie der Kandidatur nicht im letzten Moment den Stecker ziehen.
Chance packen oder vertun
Umso mehr freut sich das EDA nun darüber, dieses Prestigeprojekt endlich ins Trockene gebracht zu haben. Optimistische sehen in den zwei Jahren im Sicherheitsrat denn auch allerhand Chancen: Weltweite Visibilität der Schweiz als Vermittlerin und Friedensstifterin, eine Wiedererstarkung des Internationalen Genfs, das in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat, sowie eine Stärkung der globalen nachhaltigen Entwicklung: «Die Schweiz wird dort auch ihren Willen zur Umsetzung der Agenda 2030 (…) und ihre Aktionen für das humanitäre Völkerrecht, die humanitäre Hilfe und die Menschenrechte fortsetzen können», schreibt zum Beispiel Laurent Wehrli, FDP-Nationalrat und Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA).
Kritische Stimmen hingegen erwarten wenig bis nichts von den zwei Jahren im Sicherheitsrat. Die UNO sei reformunfähig, der Sicherheitsrat ein paar Nummern zu gross für die kleine Schweiz und ohnehin blockiert. Tatsächlich wird das 15-köpfige Gremium nach wie vor durch die Vetomächte Russland, China, Frankreich, Grossbritannien und USA – den sogenannten P5 – dominiert, die sich dank ihrer Sonderstellung alle unangenehmen Fragen vom Leib halten können. So haben China und Russland Ende Mai eine Erklärung zur humanitären Krise in Myanmar blockiert, die ihren eigenen Interessen zuwidergelaufen wäre. Ebenso bodigte Russland Ende Februar eine Resolution, die ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine verlangt hätte.
Dasselbe Schicksal erfuhr wenige Monate zuvor eine Erklärung zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die globale Sicherheit. «Oftmals reicht (…) bereits eine Vetoandrohung oder allein das Wissen der anderen SR-Mitglieder um eine drohende Vetoabsicht, um den P5 unliebsame Initiativen oder Beschlüsse (…) im Keim zu ersticken», schreibt Fabian Merz vom Center for Security Studies der ETH. Immerhin hat die UNO-Generalversammlung Ende April eine Resolution verabschiedet, welche die P5 in Zukunft dazu verpflichtet, über jedes Veto Rechenschaft abzulegen. Ob das dessen Gebrauch wirklich einschränkt und den Sicherheitsrat ein klein wenig demokratischer machen wird, kann bezweifelt werden.
Pessimistische schliesslich befürchten gar negative Konsequenzen für die Schweiz: Ex-Diplomat Paul Widmer etwa warnt davor, dass das Land seine international respektierte Rolle als neutrale Vermittlerin in Kriegs- und Krisensituationen ohne Not aufs Spiel setzen würde, wenn sie sich im Sicherheitsrat zu laufenden Konflikten positionieren müsse. Andere warnen davor, dass solche neutralitätspolitischen Spannungsfelder weitere ideologische Gräben in der Schweizer Bevölkerung aufreissen würden.
Antizipieren statt reagieren
Die Wahrheit liegt am Ende wohl irgendwo dazwischen. Die offizielle Schweiz tut aber sicherlich gut daran, solche Bedenken ernst zu nehmen und mögliche Schwierigkeiten zu antizipieren. Dann können die kommenden zwei Jahre durchaus eine Chance sein, das eine oder andere zu bewirken – und zu zeigen, dass globale Sicherheitspolitik nicht bloss Auf- und Abrüstung bedeutet, sondern vor allem mit menschlicher Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung im Sinne der Agenda 2030 zu tun hat.
Dabei lohnt sich ein Blick nach Irland, das noch bis Ende Jahr und zusammen mit Norwegen Westeuropa im Sicherheitsrat vertritt: Ein verhältnismässig kleines Land, das ebenfalls eine neutrale Aussenpolitik verfolgt und gegenwärtig in einem etwas schwierigen Verhältnis mit dem unmittelbaren Nachbarn steht. Trotzdem konnte Irland im Sicherheitsrat dank geschickter und selbstbewusster Diplomatie seit Anfang 2021 immer wieder kleinere und grössere Erfolge erzielen. Daraus kann die Schweiz lernen.
Lektion 1: Koalitionen bilden und Themenführerschaft übernehmen
Zusammen mit Norwegen hat Irland von Beginn weg als sogenannter Penholder den Lead im höchst umstrittenen Dossier zur humanitären Situation in Syrien übernommen. So haben sie erreicht, dass der Sicherheitsrat im Juli 2021 in einem seltenen Moment der Einigkeit beschloss, den einzigen Zugang für humanitäre Hilfe in Syrien für weitere zwölf Monate offen zu halten. Was aus weltpolitischer Sicht wie eine Randnotiz erscheint, ist für abertausende Menschen in Syrien eine Frage des Überlebens. Angesichts der höchst problematischen Rolle verschiedener Grossmächte in der Region war dieser Erfolg keineswegs selbstverständlich.
Für die Schweiz bedeutet dies, dass sie auch vor vermeintlich verfahrenen Konflikten nicht zurückschrecken sollte – ganz besonders im Zusammenhang mit Ländern, in denen sie selbst stark präsent ist. Zum Beispiel Myanmar, einem Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit: Durch den internen bewaffneten Konflikt hat sich die humanitäre Lage im Land seit Anfang 2021 drastisch verschlechtert, während viele Hilfsorganisationen nach wie vor keinen Zugang zur notleidenden Bevölkerung haben.
Auch wenn die Lage derzeit aussichtslos erscheint, muss die Schweiz im Sicherheitsrat alles daransetzen, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht endlich einen Konsens über die Verteilung von Hilfe und die Sicherheit der Helfenden in Myanmar zu erreichen. Dasselbe gilt im Zusammenhang mit den hunderttausenden nach Bangladesch vertriebenen Rohingya, deren Zukunft weiterhin ungeklärt ist. Als Mitglied des Sicherheitsrats muss sich die Schweiz für ihr Recht auf eine freiwillige, sichere und würdige Rückkehr einsetzen - entgegen aller zu erwartenden Widerstände.
Lektion 2: Bestehende Initiativen weiterführen
Zusammen mit Niger arbeitete Irland mit Nachdruck an einer Resolution, die klimabedingte Sicherheitsrisiken als festen Bestandteil der UNO-Konfliktprävention etablieren wollte. Damit führte man das Engagement früherer nicht-ständiger Mitglieder wie Schweden oder Deutschland weiter – und scheiterte am Ende nur knapp am Veto Russlands. Wenige Tage danach resümierte der irische Aussenminister Simon Coveney: «Wir wussten zwar um das Risiko eines Vetos, versuchten es aber trotzdem. Die Enthaltung Chinas hingegen war ein Erfolg. (…) Aber auch wenn es in den kommenden Monaten keine neue Resolution dazu geben wird: Auf die eine oder andere Art wird der Klimawandel auf die Agenda des Sicherheitsrats zurückkommen. (…) Es ist nicht alles verloren.»
Ebenfalls von Beginn weg engagierte sich Irland zusammen mit Mexiko gegen geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Konfliktsituationen (Women, Peace and Security, kurz WPS-Agenda) – auch dies ein Thema, das bereits zuvor andere nicht-ständige Mitglieder bearbeiteten. Im Herbst 2021 luden die beiden Länder 16 Vertreterinnen der Informal Expert Group on WPS in den Sicherheitsrat ein, so viele wie noch nie. Und auch wenn sich die Diskussion oft im Kreis zu drehen scheint, muss die Schweiz den wiederholten Versuchen, hart erkämpfte internationale Standards zum Schutz von Frauen wieder zu verwässern, im Sicherheitsrat entschieden entgegentreten. Zuversichtlich stimmt in dieser Hinsicht, dass der Nationalrat im Mai das Postulat 21.3122 zur Rolle der Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung angenommen und die Schweiz zudem im Leitungsgremium der WPS-Agenda der UNO Einsitz genommen hat.
Lektion 3: Einen offenen Dialog pflegen
Schon früh zeigte die irische Öffentlichkeit reges Interesse an der Kandidatur ihres Landes für den Sicherheitsrat – was die Regierung für eine offensive und regelmässige Kommunikation zu nutzen wusste. Das hat nicht zuletzt mit dem irischen Aussenminister zu tun, der sich auch schwierigen Fragen stellt und es immer wieder schafft, den Nutzen der oft abstrakt scheinenden diplomatischen Arbeit ganz konkret zu erklären. Angesichts der kontroversen politischen Debatte in der Schweiz zum Sicherheitsrat steht der Bundesrat also in einer besonderen Verantwortung, der Öffentlichkeit zu erläutern, welche Ziele die Schweiz im Sicherheitsrat verfolgt, weshalb gewisse Dinge laufen und andere nicht. Im Vergleich zur oft ungelenken Kommunikation rund ums EU-Dossier kann er es eigentlich nur besser machen.