Vor gut einem Jahr hat der Bundesrat die langfristige Klimastrategie der Schweiz bis 2050 verabschiedet. Nachdem letztes Jahr das CO₂-Gesetz vom Stimmvolk abgelehnt wurde, startet die Regierung einen neuen Versuch, um die Strategie auf Gesetzesebene umzusetzen. Die Stossrichtung stimmt. Doch die Schweiz könnte ambitionierter sein – und vor allem: korrekt «kompensieren».
Wegen des Ukrainekriegs erhalten zurzeit viele Themen nicht die Aufmerksamkeit, die angemessen wäre. Dazu zählt der Klimawandel. Als der Weltklimarat IPCC am 4. April den dritten und letzten Teil seines Sechsten Sachstandsberichts veröffentlichte, fand er kaum Widerhall in den Medien. Die Botschaft wäre allerdings wichtig: Die Welt hat keine Zeit mehr, um zu lavieren, sondern muss jetzt handeln.
Bereits heute sind mehr als 3,3 Milliarden Menschen in Zentral- und Südamerika, in Afrika und Südasien, in Küstenregionen unmittelbar vom Klimawandel bedroht. Mit jedem Zehntelgrad mehr, werden Hitzeextreme und Dürren, Starkniederschläge und tropische Wirbelstürme noch häufiger, intensiver und zerstörerischer. Gemäss IPCC können die Pariser Klimaziele – die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad und wenn möglich auf 1,5 Grad zu beschränken – nur noch eingehalten werden, wenn die gemeinsamen Anstrengungen vervielfacht werden. Schrittweise Änderungen reichten nicht mehr, es brauche eine systemische Transformation hin zu tatsächlich nachhaltiger, weltverträglicher Entwicklung.
Lückenhafte und widersprüchliche Klimastrategie
Leitfaden für die Schweizer Klimapolitik ist die im Januar 2021 verabschiedete «Langfristige Klimastrategie der Schweiz». Die Treibhausgasemissionen sollen bis 2050 auf Netto Null gesenkt werden, ohne jedoch Wohlstand und sozialen Zusammenhalt zu gefährden – und mit maximaler Ressourcenschonung. Die Strategie zeigt mögliche Entwicklungen für die Bereiche Gebäude, Industrie, Strassen- und Luftverkehr, Landwirtschaft, Finanzmarkt sowie Abfallindustrie bis zum Jahr 2050.
Zweifelsohne weist die langfristige Klimastrategie den Weg in die richtige Richtung. Die Ambitionen reichen zur Einhaltung der Pariser Klimaziele jedoch nicht aus. Zwar hält der Bundesrat am «Paris»-kompatiblen Klimaziel Netto-Null fest. Dabei nimmt er als Rechnungsgrundlage allerdings nur die Emissionen, die innerhalb der Schweizer Landesgrenzen anfallen. Unberücksichtigt bleiben klimatreibende Finanzierungs- und Investitionsentscheide des Schweizer Finanzmarktes ebenso wie klimaschädigende internationale Flüge und die Produktion importierter Nahrungsmittel und Konsumgüter, bei der ebenfalls Treibhausgase freigesetzt werden: Mindestens zwei Drittel der Schweizer Emissionen entstehen im Ausland.
Weiterer Schwachpunkt der Strategie: Der Bundesrat legt beim Treibhausgasziel der Schweiz für 2050 (Netto-Null-Ziel) keine bestimmten Inlands- und Auslandsanteile für Emissionsverminderungen fest. Damit lässt die Strategie offen, wie ambitioniert die Schweiz ist angesichts der dringend notwendigen Transformation im Inland, bzw. in welchem Umfang die Schweiz Klimaschutzmassnahmen im Ausland an das eigene Emissionsreduktionsziel anrechnen wird.
Und schliesslich ein letzter Punkt: Zwar zeigt sich der Bundesrat in seiner Klimastrategie angesichts der grauen Emissionen, die von im Ausland produzierten Gütern ausgehen, einsichtig: Er will solche Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungsketten der Schweiz reduzieren, und die Emissionsrückgänge richtigerweise nicht dem Schweizer Reduktionsziel anrechnen. Anstatt jedoch zusätzliche Gelder bereitzustellen, will der Bundesrat die dafür notwendigen Massnahmen einfach aus dem Budget der internationalen Zusammenarbeit (IZA) finanzieren. Dies, obwohl sich die Schweiz verpflichtet hat, neue Finanzmittel für Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel (sog. Internationale Klimafinanzierung) in ärmeren Ländern aufzubringen – zusätzlich zum UNO-Zielwert von 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Entwicklungszusammenarbeit. Die Eindämmung der Klimakrise auf der einen und die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit auf der anderen Seite sind zwei internationale Verpflichtungen, die sich zwar ergänzen, aber separat und gleichzeitig erfüllt werden müssen und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
Klimaverschmutzung im Ausland kompensieren
Nachdem das revidierte CO₂-Gesetz am 13. Juni 2021 an der Urne überraschend und knapp abgelehnt wurde, unternimmt der Bundesrat derzeit einen neuen Anlauf. Mit dem neuen Gesetz will der Bundesrat die bestehende CO₂-Abgabe auf fossile Brennstoffe wie Öl und Gas mit Anreizen und Investitionen ergänzen. Im Vordergrund stehen gemäss Vernehmlassungsvorlage Massnahmen, die es der Bevölkerung ermöglichen, Emissionen im Alltag zu vermeiden. Gemäss Bundesrat sorgt das neue Gesetz im Zusammenspiel mit dem technologischen Fortschritt und der Dynamik in den verschiedenen Sektoren – insbesondere Gebäude und Mobilität – dafür, dass die Schweiz ihren Treibhausgas-Ausstoss bis 2030 halbieren kann. Zwei Drittel davon sollen im Inland erfolgen, das andere Drittel soll mit Klimaschutzprojekten im Ausland «kompensiert» werden.
Basierend auf der langfristigen Klimastrategie beabsichtigt der Bundesrat also, dass die Schweiz ihren inländischen Treibhausgas-Ausstoss nicht selbst ausgleicht, sondern einen gewichtigen Teil der Emissionsminderung im Ausland und damit verhältnismässig günstig zukauft. So soll mangelnder Klimaschutz in der Schweiz in ärmeren Ländern wie Peru, Ghana, Senegal, Georgien und Dominica kompensiert werden. Konkret: Werden in Ghana dezentrale Solaranlagen unterstützt oder werden in Peru alte Holz-Kochöfen ersetzt, wird die dadurch errechnete Vermeidung von Kohlendioxid dem Schweizer Reduktionsziel gutgeschrieben. Oder, etwas zugespitzt formuliert: Unterstützt die Schweiz in Dominica den Ausbau des elektrischen Verkehrs, braucht man sich hierzulande vermeintlich etwas weniger rasch von schweren, spritschluckenden SUVs zu verabschieden.
Zwar mag es gut für das globale Klima sein, wenn schweizerische Treibstoffimporteure Emissionsminderungen im Ausland mitfinanzieren. Die Schweiz kann so finanziell und mittels Wissenstransfer dazu beitragen, dass sich nachhaltige und emissionsarme Technologien auch in ärmeren Ländern schneller verbreiten und durchsetzen. Dabei gilt es unbedingt sicherzustellen, dass die Klimaprojekte die Umwelt nicht belasten und die lokale Wirtschaft fördern, und dass bei der Umsetzung die Menschenrechte geschützt werden. Um zu verhindern, dass die Schweiz ihre Klimaverantwortung in ärmere Länder abschiebt, sollten erzielte Emissionsminderungen im Globalen Süden jedoch nicht an das Reduktionsziel der Schweiz angerechnet werden. Denn die mitfinanzierten Projekte dürfen die Schweiz nicht aus der Verantwortung entlassen, selbst und möglichst rasch klimaneutral zu werden. Zur Erinnerung: Bis 2050 müssen sämtliche Staaten konsequent und dauerhaft raus aus klimaschädlicher fossiler Energie, damit das «Pariser» 1,5-Grad-Ziel eingehalten wird.
Die Möglichkeit zur Auslandskompensation droht gar, den sozial-ökologischen Wandel in der Schweiz zu verschleppen. Dabei würden mehr Investitionen in erneuerbare Energien und nachhaltige Technologien die Schweiz bei der Energieversorgung unabhängiger von erdölexportierenden Ländern machen und erst noch Arbeitsstellen schaffen: Eine nachhaltige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist eine riesige Chance für heimische Betriebe und den Wissensstandort Schweiz.
Schritte hin zu mehr Klimagerechtigkeit
Mittels zweier konkreter Schritte könnte die Schweiz klimagerechter handeln: Erstens sollten wir anders über «Kompensation» reden. Jürg Staudenmann, der vormalige Klimaverantwortliche bei Alliance Sud, bringt es so auf den Punkt: Anstatt unseren zu hohen Emissionsausstoss in Entwicklungsländern rechnerisch «kompensieren» zu wollen, sollten betroffene Länder für erlittene Schäden und Verluste entschädigt, sprich wirklich «kompensiert» werden. Anders gesagt: Anstatt mangelnde Klimaschutzbemühungen in der Schweiz bilanztechnisch über den Zukauf von Reduktionszertifikaten im Ausland wettzumachen, sollte die Schweiz «Kompensationsleistungen» zugunsten der Ärmsten und Verletzlichsten für die dramatischen Klimafolgen erbringen, weil sie mit ihren hohen Pro-Kopf-Emissionen die Erderwärmung mitverursacht.
Zweitens sollte der Bund trotz Niederlage an der Urne den Mut zeigen, beim zweiten Anlauf zur Revision des CO₂-Gesetzes eine verursachergerechte, zweckgebundene Treibstoff- oder Flugticketabgabe einzuführen, wie dies viele andere Länder bereits kennen. Damit könnten dringend notwendige Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen in Entwicklungsländern finanziert werden. Gleichzeitig würde vermieden, dass Klimaschutzmassnahmen einen immer grösseren Teil der Entwicklungshilfegelder zur Bekämpfung von Armut, Ungleichheit und Hunger aufbrauchen. Schliesslich könnte die Schweiz dadurch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die chronisch unterfinanzierte Anpassung der vulnerabelsten Bevölkerungsteile in klimaexponierten Ländern zu unterstützen.
Interview mit Rupa Mukerji zum zweiten Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats.