Viele afrikanische Länder zeigen sich bezüglich des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine deutlich weniger entsetzt als Europa oder die USA – oder halten sich mit Kritik zurück. Bei UNO-Abstimmungen gegen Russland enthielten sich viele der Stimme. Die Gründe dafür sind vielfältig. Das muss Entwicklungsakteure aufrütteln.
Für Europa steht Russlands Krieg gegen die Ukraine für eine «neue», eine bedrohliche Zeit. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg überfiel ein Staatschef in Europa einen souveränen Nachbarstaat. Er lässt Bomben abwerfen und nebst feindlichen Soldaten in voller Absicht und wider das Völkerrecht auch unschuldige Männer, Frauen und Kinder töten.
Im Globalen Süden hingegen hält sich die Empörung über den Ukraine-Krieg trotz seiner Brutalität in Grenzen. Für die Menschen bedeutet dieser Krieg keine Zeitenwende. Angesichts der Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit – etwa Bomben, Kriegsgräuel und das Leid in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Jemen – ist dies auch nicht wirklich erstaunlich. Viele Entwicklungsländer haben Russlands Angriff daher zwar verurteilt (siehe unten), doch beteiligen sich die wenigsten an den Sanktionen.
Afrikas Zurückhaltung
Am 24. Februar forderte der Vorsitzende der Afrikanischen Union (AU) alle Akteure auf, «das Völkerrecht, die territoriale Integrität und die nationale Souveränität der Ukraine unbedingt zu achten. […] Beide Parteien sollen einen sofortigen Waffenstillstand schliessen und unverzüglich politische Verhandlungen […] aufnehmen, um die Welt vor den Folgen eines planetarischen Konflikts zu bewahren». Eine schärfere gemeinsame Stellungnahme wäre bei den AU-Mitgliedern wohl nicht durchzusetzen gewesen. Denn viele afrikanische Regierungen zeigen sich zurückhaltend beziehungsweise neutral. Sie beliessen es bestenfalls bei dieser Aufforderung an Russland, die Truppen zurückzuziehen und den Konflikt friedlich beizulegen. Wohl auch, um nicht in eine allfällige Wiederauferstehung des Kalten Krieges hineingezogen zu werden, in dem viele afrikanische Länder nur Stellvertreter waren.
Ein Blick auf die UNO-Generalversammlung verdeutlicht, wie gespalten Afrika in dieser Frage ist: Am 2. März stimmten 28 der 54 afrikanischen Staaten für die UNO-Resolution «Aggression against Ukraine», die Russlands Angriff als Verstoss gegen die UNO-Charta «aufs Schärfste missbilligte» und den unverzüglichen Rückzug seiner Truppen forderte. Die restlichen 26 enthielten sich der Stimme oder zogen es vor, nicht teilzunehmen. Eritrea stimmte dagegen.
Noch deutlicher wurden die Vorbehalte am 7. April bei der Aussetzung der Mitgliedschaftsrechte Russlands im Menschenrechtsrat. Gerade einmal zehn afrikanische Staaten stimmten der Resolution zu, neun waren dagegen und 35 enthielten sich der Stimme oder waren abwesend. Die Resolution wurde mit 93 zu 24 Stimmen bei 58 Enthaltungen angenommen. Russland hatte vergeblich versucht, die Suspendierung abzuwenden und verschiedene Staaten aufgefordert, mit «Nein» zu stimmen. Eine Stimmenthaltung werde als unfreundlicher Akt betrachtet und die bilateralen Beziehungen beeinträchtigen.
Russlands Charmeoffensive und Militärpräsenz
Viele Regierungen in Afrika pflegen traditionell gute Beziehungen zu Moskau. Darunter sind jene, die aus Befreiungsbewegungen entstanden sind, die im Kalten Krieg von der Sowjetunion unterstützt wurden. Das gilt für Südafrika ebenso wie für Angola, Mosambik oder Simbabwe. Während westliche Staaten damals zu den Feinden zählten, hatte die Sowjetunion auf der Seite der Befreiung gestanden. Die nostalgische Verbrämung der damaligen Unterstützung kommt dem heutigen Moskau zugute.
Manche afrikanische Länder dulden den russischen Angriff auf die Ukraine aber nicht nur aus antiwestlichem Reflex oder historischer Loyalität. Sie tun es wegen der aktuellen Verbindungen. In den letzten Jahren startete Moskau eine Charmeoffensive, um seinen Einfluss in Afrika zu vergrössern. Ausdruck davon war der Russland-Afrika-Gipfel im Oktober 2019 in Sotschi mit 40 afrikanischen Staats- und Regierungschefinnen und -chefs. Insgesamt nahmen rund 10'000 Personen aus allen 54 afrikanischen Staaten daran teil. In der Abschlusserklärung beschlossen die teilnehmenden Staaten eine verstärkte politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit. Ob der für Ende 2022 in St. Petersburg geplante zweite Gipfel stattfinden wird, steht angesichts der Kriegstreiberei Russlands in den Sternen.
Mit dem Gipfel verfolgte Russland vier strategische Ziele: (1) seine Macht auf der Weltbühne durch Unterstützung seitens afrikanischer Länder auszuweiten, (2) sich Zugang zu den Rohstoffen und natürlichen Ressourcen Afrikas zu verschaffen, (3) seine Dominanz als Lieferant von Waffenexporten und Sicherheit auszubauen und (4) die Entwicklung der Energie- und Stromversorgung durch russische Unternehmen zu unterstützen. Auch wenn Russland mit seinem Überfall auf die Ukraine international jeden Kredit verspielt hat, konnte Moskau bei einigen der genannten Ziele durchaus «Erfolge» erzielen.
So erweiterte Russland seinen militärischen Einfluss in Afrika. Zum einen ist es mit einem Anteil von 44 Prozent der grösste Waffenlieferant Afrikas bei schweren Waffen. Zum anderen unterstützt es Regierungen, die innenpolitisch unter Druck stehen oder international isoliert sind, indem es Waffen oder paramilitärische Einheiten wie die staatsnahe Söldnertruppe Wagner zur Bekämpfung von Rebellen schickt, zum Beispiel in die Zentralafrikanische Republik, nach Libyen und nach Mali. Bezahlen lassen diese sich oft mit Einkünften aus Minen, im Sudan zum Beispiel mit Gold.
Trotz des feierlichen Bekenntnisses zu Partizipation und Zusammenarbeit in Sotschi sind viele afrikanische Staaten seit jeher de facto von russischen (und ukrainischen) Weizenlieferungen abhängig. Ihre Weigerung, Russlands Angriffskrieg direkt zu verurteilen, ist also sicherlich auch Ausdruck der Sorge um die Nahrungsmittelversorgung. Schliesslich waren Russland und die Ukraine bis anhin die grössten Lieferanten von Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenöl. Dennoch ist mittlerweile die Ernährungssicherheit Afrikas wegen des Kriegs langfristig bedroht und die Hungernot verschärft sich.
Europas Versäumnisse
Die Zurückhaltung Afrikas ist aber auch die Folge von Versäumnissen und Fehlern in der Politik des Westens. Dabei geht es nicht nur um vergangene Zeiten, als die Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten, um die menschlichen und natürlichen Ressourcen in den beherrschten Gebieten zu plündern. Wesentlich dazu beigetragen hat auch, dass der Westen seine vermeintliche moralische Überlegenheit in letzter Zeit durch eigenes Zutun Lügen gestraft hat: Sei es zum Beispiel mit dem beschämenden Abzug aus Afghanistan nach 20 Jahren Krieg, dem menschenunwürdigen Umgang mit Asylsuchenden aus dem Süden oder dem Impf-Nationalismus reicher Länder in den ersten zwei Jahren der Coronapandemie. Zudem sind nordafrikanische und Sahel-Staaten von Europa seit jeher enttäuscht wegen seiner unzureichenden migrationspolitischen Unterstützung. Auch in der Sicherheitspolitik vermissen afrikanische Staaten angesichts der zunehmenden «hybriden Bedrohungen», einer Kombination aus klassischen Militäreinsätzen, wirtschaftlichem Druck, Cyberangriffen sowie Propaganda in Medien und sozialen Netzwerken, die Bereitschaft des Westens zur Zusammenarbeit. In der Konsequenz haben sich viele Staaten Russland (und China) zugewendet.
Aktuell versuchen die westlichen Verbündeten zurecht alles, um Putins Russland in die Knie zu zwingen. Doch spätestens wenn die Waffen in der Ukraine schweigen, wird der Westen auf die Länder des Globalen Südens zugehen müssen. Er muss aufzeigen, dass eine Welt, in der liberale Demokratien das Sagen haben, besser ist als alles, was Autokratien wie Russland oder China bieten. Viele Menschen im Süden sind davon allerdings nicht überzeugt. Die westliche Welt muss sich das Vertrauen des Globalen Südens neu erarbeiten; muss zuhören und ernst nehmen, warum jeder fünfte Staat in der UNO nicht gegen Russland stimmte; muss ärmere Länder dabei unterstützen, mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges – Stichwort Lebensmittelpreise – fertig zu werden. Vor allem aber müssen die westlichen Staaten vom hohen Ross steigen und afrikanische Staaten als ebenbürtige Partner ansehen – wirtschaftlich, sicherheits- und gesellschaftspolitisch – und nicht als Hilfs- und Befehlsempfänger. Dafür braucht es insbesondere eine fair gestaltete internationale Handels-, Steuer- und Migrationspolitik, bei der es keine Verlierer gibt.
Wenn das nicht gelingt, wenn der Westen die Alarmzeichen nicht erkennt, werden afrikanische Staaten ihre Partner noch verstärkt woanders suchen – gerade auch in China und Russland. Dies würde die «Agenda 2063: The Africa We Want» der Afrikanischen Union gefährden, der Masterplan für eine Transformation des Kontinents mittels «inklusiver sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung, kontinentaler und regionaler Integration, demokratischer Regierungsführung sowie Frieden und Sicherheit». Die Agenda 2063 ist Ausdruck des Strebens nach Einheit, Selbstbestimmung, Freiheit, Fortschritt und gemeinsamem Wohlstand. Eine solches Szenario liesse aber auch befürchten, dass der Kampf gegen den Klimawandel erschwert, die Menschenrechte geschwächt, die Rechtsstaatlichkeit untergraben und die globale Friedensarchitektur ernsthaft gefährdet würden. Damit würden auch die Ziele der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung in den Hintergrund rücken.