Nicht der Ukrainekrieg und Ernteausfälle sind schuld an den weltweit steigenden Lebensmittelpreisen, sondern in erster Linie durcheinander geratene Handelsströme, die industrielle Tierhaltung mit ihrem riesigen Futterbedarf, Agrotreibstoffe und Lebensmittelverschwendung. Mit der vorherrschenden industriellen Landwirtschaft und den aktuellen Konsummustern schaden wir Umwelt und Klima. Es braucht eine Transformation hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen und agrarökologischer Landwirtschaft.
Der Krieg in der Ukraine unterbricht globale Versorgungsketten und treibt die Preise für Getreide, Pflanzenöle und Milchprodukte, aber auch für Treibstoffe und Dünger in die Höhe. Im März kletterte der Lebensmittel-Index der UNO-Welternährungsorganisation FAO auf einen neuen Höchststand. Nach einer leichten Entspannung im April und Mai liegt der Index derzeit 23 Prozent höher als vor einem Jahr.
Werden Grundnahrungsmittel teurer, ist dies gerade für Menschen, die den grössten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen, ein grosses Problem. Besonders betroffen sind die 1,8 Milliarden Menschen, die mit weniger als 3,20 US-Dollar am Tag auskommen müssen. Die Zahl akut an Hunger leidender Menschen, die auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, ist seit 2019 von 150 Millionen auf 276 Millionen per Februar 2022 angestiegen. Bis Ende Jahr rechnet das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) sogar mit 323 Millionen akut hungernden Menschen.
Rückfall in alte Denkmuster
Die weltweit steigenden Nahrungsmittelpreise lösen eine kontroverse Debatte aus – auch in der Schweiz. Die SVP will, dass die Schweiz einen grösseren Teil ihrer Lebensmittel selbst erzeugt. Die Partei verlangt vom Bundesrat, sofort einen «Plan für eine Anbauschlacht 2.0» auszuarbeiten und spielt damit auf den Zweiten Weltkrieg an, als selbst auf der Zürcher Sechseläutenwiese Kartoffeln angebaut wurden. Gleichzeitig seien «unsinnige Ökoprojekte» zu sistieren. Ins gleiche Horn stösst der Schweizerische Bauernverband, der ebenfalls wenig von Biodiversitätsförderflächen und staatlichen Vorgaben im Umweltschutz hält, sondern eine landwirtschaftliche Intensivierung als Königsweg sieht.
Gar eine Abkehr von der biologischen Landwirtschaft fordert der Chef von Syngenta. In einem kürzlich erschienenen Interview mit der NZZ am Sonntag meinte der US-Manager des Basler Konzerns, reiche Länder stünden in der Pflicht, ihre Agrarproduktion zu erhöhen, um eine weltweite Hungerkrise zu verhindern. Weil die Erträge im Biolandbau tiefer seien und wir immer mehr Bioprodukte essen, müssten Menschen in Afrika hungern.
Dass allerdings der Agrarkonzern die biologische Landwirtschaft schlechtredet, ist nicht erstaunlich. Das Unternehmen verdient Millionen mit dem weltweiten Verkauf von synthetischen Pflanzenschutzmitteln für die grossflächige und pestizidintensive Landwirtschaft. Anpassungen bei der Landwirtschaft in Richtung mehr Nachhaltigkeit, Gesundheitsschutz und Ökologie würden dem Geschäftsmodell grosser Agrarmultis schaden. Es drängt sich deshalb der Verdacht auf, dass der Krieg in der Ukraine als Vorwand dient, um die vorherrschende konventionelle Landwirtschaft als alternativlos darzustellen und gleichzeitig Entwicklungen hin zu nachhaltigeren Produktionsformen Steine in den Weg zu legen.
Herausforderung Globalisierung
Erstaunlicherweise bleibt trotz des Ukrainekriegs die weltweite Getreideproduktion relativ stabil. Tatsächlich sind also nicht Produktionseinbussen verantwortlich für die happigen Preisanstiege, sondern in erster Linie Unterbrüche im internationalen Handel, Exportstopps durch Produktionsländer und das Horten von Getreide sowie Spekulation an den internationalen Agrarrohstoffmärkten.
Hinzu kommt, dass es eigentlich mehr als genug Nahrungsmittel gäbe, um die Welt zu ernähren. Die Probleme liegen anderswo: Zu viel Getreide wird an Tiere verfüttert, als Agrarkraftstoff verwendet oder einfach verschwendet. Auf rund 33 Prozent der weltweiten Anbaufläche wird Viehfutter angebaut; in der EU liegt diese Zahl bei 60 Prozent. Ein Zehntel des weltweit verbrauchten Getreides und Maises wird für Agrosprit verwendet. Zudem wird ein Drittel der Nahrungsmittel verschwendet: Sie landen im Abfall oder verderben auf den Feldern.
Als Antwort auf die gegenwärtige Nahrungsmittelkrise fordern deshalb 660 Expertinnen und Experten aus aller Welt in einer Erklärung mehr Mittel für das Welternährungsprogramm zum Kauf von Getreide, um kurzfristige Schocks zu bewältigen, sowie den Ausbau der sozialen Sicherung, um negative Auswirkungen der steigenden Lebensmittelpreise für arme Haushalte abzufedern. Gleichzeitig müssten gemäss den Expertinnen und Experten drei Hebel in Bewegung gesetzt werden: Erstens müssten die Menschen rasch weniger tierische Erzeugnisse essen. Das vermindere die für Tierfutter benötigte Getreidemenge. Zweitens müsse die Produktion von Hülsenfrüchten gesteigert und die Agrarpolitik ökologisiert werden – auch um die Abhängigkeit von russischem Stickstoffdünger und Erdgas zu verringern. Und drittens müsse die Lebensmittelverschwendung verringert werden. Allein in der EU entspricht die Menge an vergeudetem Weizen etwa der Hälfte der Weizenexporte der Ukraine.
Mit Agrarökologie raus aus der Ernährungskrise
Die Welt könnte längst an einem anderen Ort sein, als sie heute ist: Seit mehr als zehn Jahren weist der von UNO und Weltbank initiierte Weltagrarbericht den Weg hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Wichtiger Bestandteil ist eine organische, regenerative, agrarökologisch betriebene Ernährungswirtschaft. Agrarökologie wird von der FAO vorangetrieben und von der DEZA bewusst unterstützt. Sie stellt eine Alternative zur grossflächigen, exportorientierten Landwirtschaft und zum industriellen, konzerngetriebenen Ernährungssystem dar: Agrarökologie gründet auf lokalem, traditionellem Wissen und verbindet es mit Erkenntnissen der modernen Wissenschaft. Ackerbau und Viehwirtschaft werden gemischt betrieben, was die Biodiversität, die Bodengesundheit, die Ernährungsvielfalt und die Widerstandsfähigkeit der Landwirtschaft gegenüber Hitze oder Starkregen erhöht.
Dank starken, einheimischen Kapazitäten in der Nahrungsmittelproduktion und regionalen Absatzmärkten wird so eine ortsnahe Versorgung mit gesunden und erschwinglichen Lebensmitteln gefördert. Indem beispielsweise verschiedene Getreidesorten angebaut werden, kann bei Ausfällen weltweiter Lieferanten die Nahrungsmittelversorgung besser gewährleistet werden. Agrarökologische Ansätze verursachen ausserdem weniger Klimagase: Der Verzicht auf eine intensive Tierhaltung vermindert den Ausstoss von Ammoniak durch Hofdünger und von Methan bei Wiederkäuern. Tiere werden ohne industriell hergestelltes Kraftfutter gehalten, das wegen Waldrodungen und intensivem Ackerbau für hohe Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist und auf deren Landfläche oft Nahrungsmittel angebaut werden könnten.
Für die Schweiz bedeutet ein Wandel hin zu nachhaltiger Agrarwirtschaft, dass nicht nur die Landwirtschaftspolitik angepasst werden muss, sondern gleichermassen die Umwelt- und Klimapolitik sowie die Handels- und Gesundheitspolitik. Doch die Schweiz tut sich schwer damit: Das Parlament hat in der Frühlingssession 2021 die künftige und nachhaltiger angelegte «Agrarpolitik ab 2022» (AP22+) sistiert und damit den Status quo zementiert. Immerhin ist der Bundesrat nun aufgefordert, noch in diesem Jahr Wege aufzuzeigen, wie die schweizerische Landwirtschaftspolitik in Richtung einer ganzheitlichen und kohärenten Politik für gesunde Ernährung und weltverträgliche Lebensmittelproduktion weiterentwickelt werden kann.
Die Richtung ist vorgespurt: Am UNO-Ernährungssystemgipfel 2021 setzte sich die Schweizer Delegation für die Umsetzung der 13 Prinzipien von Agrarökologie ein. Und in der Strategie Nachhaltige Entwicklung (SNE 2030) sowie im aktuellen Länderbericht zur Umsetzung der Agenda 2030 wird Agrarökologie als erfolgsversprechender Weg und relevanter systemischer Ansatz für die Transformation hin zu widerstandsfähigen und nachhaltigen Ernährungssystemen angepriesen. Worauf wartet die Schweiz?
Interview mit Rupa Mukerji zum zweiten Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats.