Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gelten derzeit 58 Staaten als fragil. Solche Staaten sind nicht in der Lage, ihre Kernaufgaben wahrzunehmen – etwa den Schutz der Bevölkerung, eine funktionierende Infrastruktur oder soziale Dienstleistungen. Fragile Staaten weisen grosse rechtsstaatliche Defizite auf und sind vielfach Schauplatz gewaltsamer Konflikte. Eine Mehrheit dieser Staaten gehört zu den ärmsten Entwicklungsländern. Daher muss die Überwindung von Fragilität ein strategischer Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit bleiben.
Syrien, Libyen, Somalia, Irak, Südsudan – fragile Staaten dominieren die Schlagzeilen. In den vergangenen Jahren führte der blutige Feldzug des IS einmal mehr erschreckend vor Augen, was es heisst, wenn keine staatlichen Institutionen das Leben der Bevölkerung schützen können, gewalttätige Organisationen ganze Länder destabilisieren und Angst und Schrecken verbreiten können. Oder wenn, wie in Libyen, Milizen und Regierung seit Jahren rücksichtslos um die Macht kämpfen und dabei Flüchtlinge in Konzentrationslagern gegenüber Europa als Feigenblatt nutzen, sie gleichzeitig aber missbrauchen, verkaufen und versklaven. Oder wenn, wie in Somalia, der rücksichtslose Kampf gewalttätiger Warlords Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat. Solche Beispiele sind nur die Spitze des Eisbergs.
Fragile Staaten und der New Deal
Fragile Staatlichkeit umfasst unterschiedlichste Bereiche. Immer dann, wenn ein Staat nicht in der Lage oder willens ist, seine Kernaufgaben zu erfüllen und den Schutz und die Rechte seiner Bevölkerung zu gewährleisten, gilt er als fragil. Die OECD untersucht in ihrem regelmässig erscheinenden Bericht «States of Fragility» die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und sicherheitsrelevanten Dimensionen von Fragilität. Im Bericht von 2018 zählte die OECD 58 fragile Länder, davon 35 in Sub-Sahara Afrika, neun im Nahen Osten und Nordafrika, zehn in Asien sowie vier in Lateinamerika und Karibik. Von diesen qualifiziert die OECD 15 Länder als extrem fragil, meist geprägt von lang andauernden Gewaltkonflikten.
Gut zwei Drittel der fragilen Länder gehören gleichzeitig zu den am wenigsten entwickelten Ländern. Grosse Teile der Bevölkerung verfügen dort nicht über ausreichend Nahrungsmittel, leben in extremer Armut oder sind auf der Flucht vor Gewalt und Elend. Der «Fragile States Index 2019» der privaten Denkfabrik Fund For Peace zeichnet ähnliche Bilder für viele Länder in Subsahara-Afrika und in der Region Naher Osten & Nordafrika: Die Situation in neun Ländern gilt als «hoch bzw. höchst alarmierend», 22 weitere als «alarmierend».
In den letzten zehn Jahren haben die mit Fragilität verbundenen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen auf der internationalen politischen Agenda deutlich an Bedeutung gewonnen. 2011 entwarfen fragile Staaten und EZA-Geberländer den sogenannten «New Deal für ein Engagement in fragilen Staaten», in dem sich auch die Schweiz engagiert. Gemeinsam legten sie darin eine Reihe von staats- und friedensbildenden Zielen fest. Zentrale Themen waren und sind Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Beschäftigung und verantwortungsvolle Dienstleistungserbringung. Trotz der bisher eher durchzogenen Bilanz wird der aus dem New Deal entstandene «International Dialogue on Peacebuilding and Statebuilding» zurecht weitergeführt.
Entwicklungszusammenarbeit auf dem Prüfstand
Fragilität findet ihren zerstörerischen Ausdruck in Form traumatisierter Gemeinschaften, zerbrochener Beziehungen, wirtschaftlichem Desaster. Die vielfach gezielt terrorisierte Zivilbevölkerung steht dabei immer auf der Seite der Verlierer. Der Verlust von Angehörigen und Eigentum, die Erfahrung von systematischer Gewaltausübung, Exekution, Folter und sexuellem Missbrauch fügen den Menschen unbeschreibliches Leid zu. Dies hinterlässt Spuren über mehrere Generationen hinweg. In den unbewältigten Traumata liegen die Wurzeln künftiger Konflikte, sei es innerhalb der Familie, der Gemeinschaft oder des Staates.
In diesem Kontext müssen sich die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit fragen, wie sie angesichts des konfliktgeprägten Umfelds nachhaltig Wirkung erzeugen können. Dabei bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen menschlicher Sicherheit und Entwicklung: Einerseits braucht es Investitionen in Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und leistungsfähige staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen. Andererseits will die Entwicklungszusammenarbeit Entwicklungsimpulse auslösen, damit benachteiligte und arme Bevölkerungsgruppen weniger krisenanfällig werden und ihre Lebenssituation verbessern können. Es muss vermieden werden, dass die Sicherheitsperspektive diesen Entwicklungsfokus zu stark einengt.
Doch ist dies alles andere als einfach. Das Engagement in fragilen Kontexten steht vor grossen Herausforderungen, insbesondere in Konfliktregionen, wo sich Situationen und Konfliktlinien jederzeit ändern können. Hilfswerke wissen aufgrund langjähriger und vielfältiger Erfahrungen um die Risiken im Umfeld fehlender oder fragiler Staatlichkeit. Indem sie diese Kenntnisse zum Ausgangspunkt ihres Handelns machen, sind sie in der Lage, einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung zu leisten, deren Selbsthilfekapazitäten zu fördern und sie dabei zu stärken, ihre Rechte gegenüber staatlichen Stellen zu verstehen und wahrzunehmen.
Überwindung von Fragilität muss strategisches Ziel der Schweiz sein!
Während die Internationale Zusammenarbeit der Schweiz in den Strategieperioden 2013-2016 und 2017-2020 speziell auf die Herausforderungen fragiler Staatlichkeit fokussierte, scheint dieser Fokus nun verloren zu gehen. Der Entwurf der Botschaft für die Internationale Zusammenarbeit 2021-2024, der 2019 in die Vernehmlassung ging, verweist zwar darauf, dass die Prioritäten in den fragilen Staaten Subsahara-Afrikas auf gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit liegen werden. Eine strategische Ausrichtung der IZA auf die Überwindung von Fragilität aber sucht man vergebens. Lieber spricht der Bundesrat von den «Interessen der Schweiz» und lässt offen, was darunter zu verstehen ist. Sind damit Stabilität, Frieden und Sicherheit gemeint, wie seitens der DEZA-Verantwortlichen beteuert wird, dann müsste das Engagement in fragilen Staaten in allen Regionen ein strategischer Schwerpunkt bleiben. Sollte es hingegen vor allem um handels- und aussenwirtschaftliche Interessen der Schweiz gehen, ist zu befürchten, dass der Fokus sich zunehmend auf stabile Länder und Regionen mit Perspektiven für den Privatsektor verschieben wird.
Anders die OECD: Für sie hat der Kampf gegen Fragilität oberste Priorität, gerade auch, um dem Versprechen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, niemanden zurückzulassen, gerecht zu werden. Daher richtet sie verschiedene Schlüsselbotschaften an ihre Mitglieder, unter anderem: die Komplexität von Fragilität verstehen und alle ihre Dimensionen ansprechen, mehr Hilfe in fragilen Kontexten investieren, die Bemühungen um Prävention, Frieden und Sicherheit verstärken und Regierungen darin unterstützen, umfassende Lösungen für ihre eigene Fragilität zu finden. Die OECD-Mitgliedstaaten sollen das Ziel nicht aus den Augen verlieren, allen Menschen in fragilen Kontexten Hoffnung zu vermitteln und ein besseres Leben zu ermöglichen. Das gilt auch für das OECD-Mitglied Schweiz. Bundesrat, Verwaltung und Parlament sind gefordert, dem gerecht zu werden.