Zugang zu sicherem Wasser ist ein Menschenrecht. Es einzufordern, ist keine Wohltätigkeit, sondern demokratische Pflicht einer jeden Person, sagt Pedro Arrojo-Agudo, Uno-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Versorgung.
Eine Studie der Eawag, dem Wasserinstitut der ETH Zürich, zeigt, dass vielleicht 4,4 Milliarden Menschen ohne Zugang zu sicherem Wasser sind. Das sind doppelt so viele wie bisher angenommen. Sind sie überrascht?
Ehrlich gesagt, nein. Die Schätzung kommt der Wahrheit wohl nahe. Auf meinen Reisen sehe ich, wie Regierungen Trinkwasser mit Leitungswasser gleichsetzen. Doch was aus dem Hahn kommt, ist nicht per se trinkbar. Immer öfter sind Wasserressourcen mit giftigen Schadstoffen belastet, etwa mit Pestiziden oder Schwermetallen aus dem Bergbau oder von unverantwortlichen Industrien.
Auch im Leitungsnetz selbst wird Wasser verunreinigt, weil zu wenig gechlort wird oder die Leitungen alt sind. Städte verlieren über 40% Wasser in ihren Leitungsnetzen, weshalb sie die Bewohner:innen anders zu versorgen versuchen. Wegen des damit verbundenen Druckabfalls oder wenn das Wasser gar abgestellt wird, dringen Schadstoffe an den Leckstellen ein.
Vor 15 Jahren hat die Uno-Generalversammlung bestätigt, dass Wasser und sanitäre Versorgung ein Menschenrecht sind. Kann das je erreicht werden?
Ja. Dafür müssen Regierungen aber überdenken, wie sie Wasserressourcen und Wasserökosysteme bewirtschaften und die Prioritäten anders setzen. Gemäss WHO beläuft sich das lebensnotwendige Minimum für ein menschenwürdiges Leben auf 50 bis 100 Liter pro Person und Tag. Das sind weniger als fünf Prozent des gesamten Wasserverbrauchs; kein Fluss wird deswegen austrocknen. Es würde also ausreichen, dem Menschenrecht Vorrang einzuräumen, um allen Menschen Zugang zu Wasser zu garantieren, was eigentlich eine Pflicht einer jeden Regierung ist. Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit bräuchte es strenge Gesetze, die es unter Strafe verbieten, Flüsse und Grundwasser zu verschmutzen. Selbst Armut ist keine Entschuldigung, das Menschenrecht auf Wasser hintan zu stellen.
Was wurde bisher erreicht?
Weniger als nötig ist. Aber es gibt Fortschritte. Immer mehr Länder nehmen das Menschenrecht in ihre Verfassungen auf, wenige aber erlassen entsprechende Gesetze und Verordnungen. Es gibt Länder, die gesetzlich verbieten, armen Familien das Wasser abzustellen, zum Beispiel in Frankreich. In Spanien hat jeder Mensch Anrecht auf 100 Liter Wasser pro Tag – auch wer es nicht bezahlen kann. Südafrika ist trotz seiner Armutsrate ein Vorbild bei Gesetzgebung und Umsetzung. Am meisten Fortschritte machen Städte, die regeln, dass Familien in prekären Lebensumständen das Wasser nicht abgeschaltet werden darf – so in Lyon oder in Medellín in Kolumbien.
Welches sind die grössten Herausforderungen? Und warum?
Indigene Gemeinschaften, Bauernfamilien und Menschen in den verarmten Randgebieten von Grossstädten stehen vor den grössten Herausforderungen, wobei Frauen und Kinder besonders betroffen sind. Gründe dafür sind primär fehlende Investitionen in Wasserinfrastrukturen, weil die öffentliche Hand andere Prioritäten setzt. Land- und Wassergrabbing sowie Umweltverschmutzung in ländlichen und indigenen Gebieten sind ein weiterer Faktor. Die politische und soziale Marginalisierung der Betroffenen führt dazu, dass ihre Stimmen in den Entscheidungsgremien nicht gehört werden.
Pedro Arrojo-Agudo, Uno-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Wasser
Was können Sie für Menschen tun, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen bei Ihnen melden?
Ich erhalte ständig Beschwerden und Hinweise über schwerwiegende Verstösse, die meine Kapazitäten als Berichterstatter und die meines Zweierteams in Genf übersteigen. Was ich tun kann und auch tue, ist, ein Brief an die Regierungen zu schreiben. Sie erhalten zwei Monate Zeit zu antworten, bevor ich den Brief veröffentliche. Vor dem Menschenrechtsrat in Genf und vor der Uno-Generalversammlung in New York kann ich Vorwürfe thematisieren und Vorschläge machen. Die internationale Sichtbarkeit dieser Berichte und die Medienberichterstattung in den jeweiligen Ländern erzeugen zweifellos Druck und stärken gleichzeitig die sozialen Bewegungen, die sich für das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Versorgung einsetzen. Kurz: Ich kann Probleme sichtbar machen, Vorschläge und Empfehlungen unterbreiten, die den Regierungen, aber vor allem den betroffenen Bevölkerungsgruppen nützen.
Wie kann die Zivilgesellschaft eingebunden werden?
Im Rahmen der Vereinten Nationen und auch mit Mitgliedstaaten sprechen wir oft von der Notwendigkeit, den Dialog mit allen Akteuren zu stärken. Wir haben meist kein Problem, mit grossen privaten Betreibern von Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsanlagen oder mit grossen Bergbauunternehmen oder Lebensmittelproduktions- und -vermarktungsunternehmen zu reden.
Doch tauschen wir uns auch ausreichend mit sozialen Bewegungen aus? Etwa mit dem Red de Acueductos Comunitarios de América Latina, einem Netzwerk, das mehr als 100 Millionen schwer verarmte Menschen in ländlichen Gebieten vertritt, die ihre Dienste so gut wie möglich über kommunale Einrichtungen selbst verwalten? Die Antwort auf diese Frage ist meist ein beschämtes Schweigen. Meiner Meinung nach liegt die grosse Herausforderung darin, mit solchen sozialen Bewegungen in den Dialog zu treten und diese anzuerkennen. Sie kämpfen täglich für ihre Rechte, was oft zu ihrer Kriminalisierung und Unterdrückung führt.
Was können NGOs wie Helvetas beitragen?
NGOs spielen eine entscheidende Rolle. Sie können die Zivilgesellschaft vor Ort stärken und ihren Anliegen auf allen Ebenen Gehör verschaffen – auch bei Regierungen und internationalen Institutionen. Ein solcher Dialog ist der Schlüssel zum Verständnis und zur Achtung traditionellen Wissens und traditioneller Praktiken, aus denen wir lernen können – sowohl im Hinblick auf die ökologische Nachhaltigkeit als auch auf die demokratische Handhabung lebenswichtiger Güter wie Wasser. Dabei muss Wasser als Gemeingut verstanden und verwaltet werden, um im Geiste der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung niemanden zurückzulassen.
Steht das Menschenrecht auf Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen im Widerspruch zur Privatisierung von Wasserdienstleistungen? Oder gibt es Grautöne?
Es gibt mindestens Grautöne. Und auch schwerwiegende Widersprüche, wenn man davon ausgeht, dass Managementkonzepte auf Menschenrechte basieren sollten. In meinem letzten Bericht an den Menschenrechtsrat habe ich erklärt, ich wiederhole mich, dass Wasser als Gemeingut verstanden und bewirtschaftet werden muss, das allen zugänglich ist und das sich niemand aneignen kann. Dieses Konzept steht in vollem Einklang mit der Idee von Trinkwasser und sanitären Einrichtungen als Menschenrecht.
Ich bin nicht gegen den Markt. Aber ich bin dagegen, den Markt als Instrument für Werte zu nutzen, die er weder versteht noch verstehen muss. Der Markt ist nicht das richtige Instrument, um Menschenrechte und Werte wie die Nachhaltigkeit von Ökosystemen oder Gerechtigkeit zu verwalten – Werte, die die Wasserbewirtschaftung aber bestimmen sollten. Daher halte ich es für einen Fehler, Wasser- und Abwasserdienstleistungen mit Hilfe von Privatisierungsstrategien zu verwalten – und zwar sowohl dann, wenn diese direkt und eindeutig sind, als auch dann, wenn sie durch öffentlich-private Partnerschaften verschleiert werden. Ein Privatisierungsmodell, das von grossen europäischen Betreibern gefördert wird.
Welche Folgen beobachten Sie bei der Privatisierung von Wasser?
Die vorherrschenden Privatisierungsstrategien konzentrieren sich auf die Verwaltung von Wasser- und Abwasserdienstleistungen durch Verträge, mit denen die öffentliche Hand die Kontrolle für lange Zeiträume an den betreffenden Betreiber abtritt. Diese Verträge machen es schwierig, einen auf den Menschenrechten basierenden Managementansatz zu entwickeln. Die Konzessionslaufzeiten von mehr als 25 Jahren machen es teuer, einen Vertrag vorzeitig aufzuheben, weil der Betreiber den erwarteten Gewinn für die Restlaufzeit einfordern wird.
Zudem wird der Markt verzerrt, denn Betreiber können eigenen Unternehmensgruppen ohne öffentliche Ausschreibung Aufträge erteilen und so den Preis bestimmen, was zu höheren Kosten führt, die auf die Abgaben umgelegt werden, die die Bevölkerung entrichten muss. Hinzu kommen mangelnde Transparenz und fehlende öffentliche Beteiligung, denn private Betreiber müssen ihre Geschäftsstrategie nicht öffentlich machen. Schliesslich sind die lokalen Kontrollinstanzen aufgrund der Machtasymmetrien oft nicht in der Lage, die Betreiber wirksam zu regulieren. Vor allem, wenn es an politischem Willen mangelt und die Entscheidungsträger entweder miteinbezogen oder vereinnahmt werden.
Gibt es erfolgreiche Beispiele für die Privatisierung von Wasser?
Die öffentliche Hand ist keineswegs Garantin für ein gutes Management von Wasser- und Abwasserdienstleistungen. Es gibt viele Beispiele für eine undurchsichtige, bürokratische und ineffiziente öffentliche Verwaltung. Es ist durchaus möglich, dass Privatisierungsprozesse Verbesserungen anstossen. Ich halte es jedoch generell für einen Fehler, Probleme der Undurchsichtigkeit, Bürokratie und Ineffizienz durch Privatisierung zu begegnen. Besser wäre es die öffentliche Verwaltung zu demokratisieren, die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu fördern. Und zwar basierend auf einer angemessenen Professionalität, die öffentliche Verwaltungen gewährleisten können und sollten.
Was halten Sie von lokalen Unternehmen, die – beispielsweise im Auftrag einer Gemeinde oder des Staates – Wassersysteme bauen, warten und möglicherweise auch verwalten? Was ist bei der Einbindung lokaler Unternehmen zu beachten?
Ein Managementkonzept, das auf Menschenrechten basiert, ist eine demokratische Herausforderung, der sich der Staat und insbesondere die Kommunen stellen müssen. Sie sind in den meisten Ländern für die Verwaltung dieser Dienstleistungen zuständig. Bestimmte Aufgaben an private Unternehmen zu vergeben, mag vernünftig sein. Zentral ist aber, dass die Verwaltung und die tatsächliche Kontrolle der Dienstleistungen bei der öffentlichen Hand verbleiben. Und diese muss die Bevölkerung miteinbeziehen und anhören, Transparenz gewährleisten und ist rechenschaftspflichtig. Wenn kleine, lokale Unternehmen unter Vertrag genommen werden, verringern sich die Risiken, die sich aus Machtasymmetrien ergeben. Ein solches Vorgehen entbindet die Verantwortlichen jedoch nicht davon, einen auf Menschenrechte basierenden Managementansatz zu gewährleisten.
Zum Schluss noch: Was kann jede einzelne Person tun, um das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung zu stärken?
Wir alle tragen Verantwortung. Es ist unsere Pflicht, uns an der Bewirtschaftung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zu beteiligen. Wir müssen von den Verantwortlichen Transparenz, Rechenschaft und Einbezug fordern, da Wasser ein Gemeingut ist. Wir können und sollten auch zuhause dem Wasser Sorge tragen, aber unser Beitrag zum Wassersparen ist weit geringer, als wenn Leitungsnetze repariert werden. Und wenn wir alle unsere Regierungen auffordern, dem Menschenrecht auf Wasser nachzukommen, ist das keine Übung in Wohltätigkeit, sondern schlicht und einfach eine Frage der demokratischen Verantwortung.
(Das Interview wurde schriftlich geführt.)