A general view of a migrant processing center at the port of Shengjin, Albania | © Keystone/Vlasov Sulaj

Zweifelhafte Flüchtlingsdeals

Externalisierte Asylpolitik stärkt autoritäre Regierungen
VON: Patrik Berlinger - 15. November 2024
© Keystone/Vlasov Sulaj

Eine Reihe ärmerer Regierungen erzielt mittlerweile hohe Einnahmen, indem sie Migrierende von wohlhabenden Ländern fernhalten. Umstritten ist insbesondere die Verlagerung von Asylentscheiden in Entwicklungsländer. Für die EU ist der Ansatz verlockend. Doch die Deals sind kostspielig, ineffizient und – vor allem – nicht rechtens. Ausserdem stärken sie Autokratien. 

Im Jahr 2012 machte Australiens Regierung den Anfang und schiebt seither «Bootsflüchtlinge» auf die pazifischen Inseln Nauru und Manus ab. Im Gegenzug unterstützt Australien die Inseln finanziell und mit Infrastrukturprojekten. Resultat sind Offshore-Asylverfahren. Seither berichten Geflüchtete immer wieder von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) verurteilt diese Auslagerungspraxis: Die «Externalisierung» verlagere die Verantwortung für das Asylwesen einfach woanders hin, womit sich die Staaten internationalen Verpflichtungen entzögen. Solche Praktiken untergrüben die Rechte derjenigen, die Sicherheit und Schutz suchen, bestraften sie und brächten ihr Leben in Gefahr. 

Ungeachtet der jahrelangen und berechtigten Kritik am «Asyl-Outsourcing» experimentieren die Vereinigten Staaten gerade mit der Idee: Noch-Präsident Joe Biden hat im Juli 2024 mit Panama vereinbart, dass das zentralamerikanische Land die Grenzübergänge in Richtung Norden sperrt – gegen Geld natürlich. Denn Jahr für Jahr versuchen Hunderttausende Menschen aus lateinamerikanischen Ländern durch den Darién-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama in die USA zu gelangen. Die nötigen Flüge aus Panama zur Abschiebung der aufgefangenen Migrant:innen zurück in ihre südamerikanischen Herkunftsländer werden von den USA bezahlt

EU-Deals mit Tunesien und der Türkei 

Bereits seit 2016 gilt der Europäische Migrationsdeal mit der Türkei. Der Türkei wurden sechs Milliarden Euro dafür zugesagt, Menschen aus Syrien nicht in die EU weiterreisen zu lassen. Vergleichbare Vereinbarungen im Migrationsbereich hat die EU seit Mai 2024 mit dem Libanon, seit März 2024 mit Ägypten, seit Februar 2024 mit Mauretanien und seit Juli 2023 mit Tunesien beschlossen. 

Vor allem Italien lag viel daran, dass die EU Tunesien trotz autokratischer und offen migrationsfeindlicher Regierung mittels finanzieller Hilfe bei der «Migrationsabwehr» als Verbündeten für die neue und strengere europäische Asylpolitik gewinnt. Die Idee: Tunesien schützt seine Grenzen besser, damit im Süden weniger Migrierende einreisen und nordwärts weniger über das Mittelmeer Richtung Europa aufbrechen. Gleichzeitig nimmt Tunesien jene Menschen zurück, welche die EU gemäss dem beschleunigten Verfahren wieder verlassen müssen. Die rückläufigen Zahlen deuten darauf hin, dass der Deal für Italien die erwünschte Wirkung erzielt. Allerdings gibt es Hinweise, wonach die tunesische Regierung Migrierende in der Wüste aussetzt und verdursten lässt. Ebenfalls zeigt sich, dass Menschen nun trotz schrecklicher Geschichten von Gefangenschaft und Sklavenarbeit vermehrt über Libyen nach Italien kommen oder auf alternative Routen über Griechenland oder Spanien ausweichen.  

Grossbritannien, Italien und Dänemark brechen Tabu 

Noch härter als die EU wollte die konservative Regierung von Grossbritannien sein: Durch einen Migrationsdeal mit Ruanda sollten Asylsuchende, die den Ärmelkanal per Boot überquert haben, sich also bereits auf der britischen Insel befinden, zur Bearbeitung ihrer Verfahren nach Ruanda ausgeflogen werden. Das entsprechende Ruanda-Gesetz wurde Ende April 2024 vom Oberhaus sogar durchgewunken. Das oberste Gericht in London machte jedoch den Plänen des damaligen Premierministers Rishi Sunak einen Strich durch die Rechnung: Es erklärte das Abkommen als rechtswidrig

Inzwischen hat die neue britische Regierung das umstrittene Abkommen auf Eis gelegt. Zumal der grosse Rückstau an Asylanträgen kaum geringer werden dürfte, wenn ein paar Hundert Geflüchtete nach Ruanda ausgeflogen würden. Ausserdem werden die meisten weiterhin versuchen, nach England zu kommen, in ein Land, dessen Sprache sie verstehen. Was letztlich vom Deal übrig bleibt: Regierung und Parlament steckten absurd viel Zeit, Energie und Geld in ein Vorhaben, an dessen Erfolg man von Anfang an stark zweifeln durfte. 

Übrigens war es Dänemark, das die Grundlagen für ein Abkommen mit Ruanda über die Überstellung von Migrant:innen geschaffen hatte – 2021, mitten in der Coronapandemie. Das Land wurde dafür von der UNO kritisiert. Dänemark lässt jedoch nicht locker: Gerade mal ein Tag nach der Verabschiedung des neuen EU Pakts zu Migration und Asyl rief Mitte Mai 2024 eine Gruppe von 15 Mitgliedstaaten unter dänischer Leitung zu «komplementären Anstrengungen» auf, um die Asylpolitik gemäss Ruanda-Idee auszulagern: (Finanzielle) Anreize für Nicht-EU-Länder entlang der Migrationsrouten sollten geschaffen werden, um eine «grosse Anzahl» von Flüchtenden aufzunehmen, und um zu verhindern, dass Menschen überhaupt erst an die EU-Grenzen gelangen. 

Derweil macht Italiens Ministerpräsidentin Georgia Meloni Nägel mit Köpfen: Im Oktober liess sie für sehr viel Geld 16 Männer aus Bangladesch und Ägypten nach Albanien bringen. Auf der Grundlage eines Abkommens sollten italienische Beamte in zwei neu gebauten und von Rom finanzierten Aufnahmelagern die Asylanträge prüfen und rasche Abschiebungen durchführen. Personen mit Anspruch auf Asyl sollten nach Italien überstellt, jene mit negativem Bescheid in ihre Herkunftsländer ausgeschafft werden. Immerhin: Ausgenommen von der Verschiffung nach Albanien wären Frauen, Kinder, Kranke sowie Folteropfer gewesen. 

Inzwischen stehen die fertigen Lager in Albanien allerdings wieder leer. Ein Gericht in Rom hatte verfügt, dass die ersten Ankömmlinge nach nur zwei Tagen wieder nach Italien gebracht werden mussten. Denn weder Bangladesch noch Ägypten seien «sichere Herkunftsländer». Melonis Regierung wollte danach diese und weitere Länder per Gesetzesdekret als «sicher» definieren. Doch italienische Richter:innen entschieden am 6. November 2024, dass auch dies europäischem Recht widerspreche, welches wiederum italienischem Recht übergeordnet ist. 

Unterstützung ja, aber anders... 

Es steht ausser Frage: Länder wie Tunesien und die Türkei, Libanon und Äthiopien, Kolumbien und Ecuador, die viele Geflüchtete beherbergen, benötigen von der internationalen Gemeinschaft Unterstützung. Nur wirken die gegenwärtigen Pläne nicht gerade wie eine nachhaltige humanitäre Unterstützung. Vielmehr führen die aktuellen Migrationsdeals dazu, dass diese Länder gegenüber Asylsuchenden und Migrierenden zu repressiven Mitteln greifen und Menschen in der Wüste aussetzen, sie einsperren oder in die Illegalität drängen, damit sie den wohlhabenden Norden nicht erreichen. 

So stützen reiche Länder illiberale Regierungen – und machen sich selbst erpressbar. Als etwa die türkische Regierung im Februar 2020 ankündigte, Flüchtlinge nicht länger an der Weiterreise nach Griechenland zu hindern, machte die EU weitere Finanzzusagen und hielt sich mit Kritik an der autoritären Regierung Recep Tayyip Erdogans zurück. Immerhin wurde der Türkei-Deal ab 2021 mit humanitären Projekten in Nachbarländern in der Region begleitet.  

Statt «starke Männer» und ihre Regime zu hofieren, sollten die EU-Staaten und auch die Schweiz legale und sichere Migrationswege, bilaterale Bildungsprogramme und Asylverfahren, die internationalem Recht entsprechen, fördern. Ausserdem sollten sie ihre humanitäre Unterstützung direkt für Menschen in unsicheren Regionen und entlang der Flucht- und Migrationsrouten verstärken. Mit einer starken Entwicklungszusammenarbeit könnten sie die Integration, die Berufsbildung und die Schaffung von Arbeitsplätzen ausbauen, wodurch Perspektiven vor Ort entstehen. Und um zu verhindern, dass Menschen wegen der Folgen der Erderwärmung fliehen, braucht es seitens der wohlhabenden Länder endlich eine ambitionierte Klimapolitik und mehr Unterstützung bei Anpassungsmassnahmen zugunsten armer, exponierter Gemeinschaften.  

Mehr zur aktuellen Debatte über die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz erfahren Sie in unserem Argumentarium «Fakten statt Behauptungen». 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation
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