Deforestation | © Richard Carey/Adobe Stock

Grosse grüne Schritte in der EU

Die Europäische Union setzt auf Renaturierung und entwaldungsfreie Lieferketten
VON: Patrik Berlinger - 15. November 2024
© Richard Carey/Adobe Stock

Weil Schutzgebiete allein nicht ausreichen, um in Europa die Artenvielfalt zu erhalten, treibt die EU die Renaturierung voran. Auch international macht der supranationale Zusammenschluss vorwärts: In internationalen Lieferketten müssen Wälder besser geschützt werden. Für Mensch und Umwelt liegen die Vorteile einer raschen und ambitionierten Umsetzung beider Gesetze auf der Hand. 

Laut einem UNO-Bericht von 2019 sind weltweit eine Million von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Gründe sind der Verlust von Lebensraum und die grossräumige, pestizidintensive Landwirtschaft, der Klimawandel und invasive Arten, etwa Ratten und Insekten. Expert:innen sprechen vom sechsten Massenartensterben in der Geschichte der Menschheit. 

Betroffen vom Artenschwund ist auch Europa, wo laut der Europäischen Umweltagentur 80 Prozent der Lebensräume erheblich geschädigt sind. Der schlechte Zustand der Biodiversität war ein Alarmsignal, das die EU-Kommission hörte.  

Ambitioniertes Renaturierungsgesetz 

Am 17. Juni 2024 beschlossen die europäischen Umweltminister:innen das EU-Renaturierungsgesetz: Wälder und Wiesen, Moore und andere Biotope sollen nicht mehr nur einfach geschützt, sondern gestärkt – renaturiert – werden. Das Gesetz, das sich in den Green Deal der Europäischen Kommission einfügt, fördert Massnahmen, um bis 2030 mindestens 20% der Land- und Meeresflächen der EU und bis 2050 alle sanierungsbedürftigen Ökosysteme wiederherzustellen. Die EU will das Insektensterben stoppen und städtische Grünflächen schützen. Trockengelegte Fluss-Auen und Moore sollen wieder vernässt werden, und die Flüsse wieder frei fliessen. Davon profitiert nicht nur die Biodiversität, sondern es schützt auch Mensch und Infrastruktur vor Überschwemmungen. Zudem nützen Renaturierungen dem Klimaschutz, da renaturierte Biotope grosse Mengen Kohlenstoff binden.  

Während der Artenschutz in der Schweiz mit der Ablehnung der Biodiversitäts-Initiative einen herben Dämpfer erlitt und die gegenwärtigen Pläne des Bundesrats laut Umweltfachleuten und der Wissenschaft völlig unzureichend sind, macht die EU vorwärts: Sämtliche Mitgliedstaaten müssen nun nationale Wiederherstellungspläne vorlegen, aus denen hervorgeht, wie sie die Ziele erreichen wollen. Ihre Fortschritte müssen sie dann anhand von EU-weiten Biodiversitätsindikatoren überwachen und darüber berichten. Bis 2033 wird die Kommission die Auswirkung des Gesetzes auf den Landwirtschafts-, Fischerei- und Forstwirtschaftssektor überprüfen. 

Versöhnung von Landwirtschaft und Naturschutz  

Es gab auch Widerstand gegen das Gesetz: Konservative Parteien und Verbände von Landwirten warnten vor übermässigen Eingriffen in ihre Wirtschaftsweise und sprachen von einer «Ökobürokratie». Progressive Parteien hingegen unterstrichen, das Gesetz sei eine Chance, damit sich Landwirtschaft und Naturschutz annäherten – eine Chance für nachhaltige Land- und Forstwirtschaft. Zumal Bäuerinnen und Bauern immer häufiger und unmittelbar erleben, wie gefährlich die Erderwärmung für ihre Böden, Ernten und die Nahrungsmittelproduktion wird. Gar begeistert zeigten sich Umweltorganisationen und Wissenschaftler:innen: Trotz Abschwächungen im Laufe der zweijährigen Verhandlungen habe das Gesetz, das am 18. August 2024 in Kraft trat, das Zeug zum echten Game-Changer. Der Klimawandel entscheide darüber, WIE wir leben; der Artenschwund darüber, OB wir leben. 

Mit der Entwaldungsverordnung macht die EU auch international vorwärts 

Auch international setzt sich die EU für einen stärkeren Arten- und Klimaschutz ein. Mit dem Ziel, die von der EU verursachte weltweite Entwaldung zu stoppen, hat das Europäische Parlament neue Massnahmen gegen Abholzung beschlossen: Künftig müssen Unternehmen weltweit sicherstellen, dass für Produkte, die sie in der EU verkaufen, keine Wälder abgeholzt oder geschädigt werden. 

Wie gross das Problem der weltweiten Entwaldung ist, zeigen Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). So wurden von 1990 bis 2020 rund 420 Millionen Hektar Wald in landwirtschaftlich genutzte Fläche umgewandelt, was einer Fläche entspricht, die grösser ist als die gesamte EU. Für etwa zehn Prozent dieser entwaldeten Fläche sind europäische Konsument:innen verantwortlich, wobei über zwei Drittel davon auf Palmöl und Soja entfallen. 

Mit der Verordnung (EU Deforestation Regulation, EUDR), die ebenfalls Teil des Green Deals ist, dürfen Unternehmen Produkte künftig nur noch dann in der EU verkaufen, wenn die entsprechenden Lieferanten eine Sorgfaltserklärung hinsichtlich des Schutzes von Wäldern abgeben. Ebenfalls müssen die Unternehmen nachweisen, dass die Produkte den Rechtsvorschriften des Erzeugerlandes entsprechen. Will heissen, die Menschenrechte und die Rechte der betroffenen indigenen Völker müssen geachtet werden. 

Wie im ursprünglichen Kommissionsvorschlag vorgesehen fallen unter die neuen Rechtsvorschriften Rinder und Leder, Kaffee, Kakao und Schokolade, Palmöl und Soja sowie Holz und Möbel. Dem Parlament gelang es in den Verhandlungen, die Vorschriften auch auf Kautschuk, Holzkohle und Papier auszuweiten. Künftig sollten in europäischen Supermarktregalen also keine Produkte mehr landen, welche mit der Asche abgebrannter Regenwälder bedeckt sind und die Lebensgrundlage indigener Völker vernichtet haben. 

Bislang nicht tangiert von den neuen Regeln ist Gold. Dabei gibt es allein im Amazonas-Regenwald rund 4000 illegale Goldminen. Viele davon befinden sich auf gestohlenem, indigenem Land und verseuchen Flüsse und Böden. Rund ein Drittel des aus Brasilien stammenden Goldes stammt aus solchen Minen. Bei der Umsetzung der Verordnung böte sich der EU also die Chance, Gold mit auf die Liste der betroffenen Rohstoffe zu setzen. 

Kritische Stimmen aus dem Globalen Süden 

Eine faire, erfolgreiche und wirksame Umsetzung der Verordnung hängt letztlich von einem ausreichenden Support der ärmeren Erzeugerländer ab. So beklagen sich Äthiopien, Ghana oder El Salvador, dass für das von der EU verlangte Kartografieren und die aufwändige Datensammlung als Beweis, dass keine Wälder abgeholzt werden, keine Unterstützung und Ressourcen von Abnehmer-Unternehmen und der EU vorgesehen sind. Die Länder kritisieren die Entwaldungsrichtlinien also nicht grundsätzlich, es brauche aber besonderen Schutz und gezielte Unterstützung für Kooperativen und Kleinproduzenten. 

Auch Mercosur-Staaten wie Brasilien und Argentinien, deren gigantischen Grossbetriebe Soja und Rinder exportieren, oder Indonesien, bekannt für seinen Palmöl- und Holzexport, kritisieren die Verordnung als «regulatorischen Imperialismus» oder als «neokolonial», weil sie anderen Ländern eigene Regeln aufdränge. Dabei ist es umgekehrt: Die EU übernimmt mit der Verordnung endlich die Verantwortung für die von europäischen Ländern durch Konsum und Handel verursachte Entwaldung. Insofern stellt das Gesetz einen Meilenstein im internationalen Waldschutz dar und ist eine Chance, Handelsbeziehungen mit Ländern zu vertiefen, die die ökologischen Werte und Ambitionen der EU teilen. 

Trotz Verzögerungen wegweisend – auch für die Schweiz 

Am 16. Oktober 2024 hat der Rat der Europäischen Union vorgeschlagen, dass der Geltungsbeginn um zwölf Monate verschoben wird. Damit gibt die EU Drittländern und Mitgliedstaaten ebenso wie Marktteilnehmern und Händlern mehr Zeit, sich darauf vorzubereiten und ihre Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Sprich, sicherzustellen, dass bestimmte Rohstoffe und Erzeugnisse, die in der EU verkauft werden, ohne die Zerstörung von Wäldern bzw. entwaldungsfrei sind. Am 14. November 2024 haben christlich-konservative Parteien die Verordnung im EU-Parlament abgeschwächt. Ob die Einführung um ein Jahr verschoben wird oder doch bereits per Ende Jahr erfolgt, ist noch offen.

Die Schweizer Schokoladeindustrie ist vom entwaldungsfreien Lieferkettengesetz direkt tangiert, da ein grosser Teil der Schokolade im europäischen Markt verkauft wird. Schweizer Produzenten müssen sich daher ohnehin an die neue Verordnung anpassen. Dass die Schweiz eine ähnliche Regelung wie die EU einführen muss, um Nachteile beim Export in die EU zu verhindern, ist unbestritten. Klar ist: Die EU hat die Entwicklung hin zu nachhaltigen und verantwortungsvollen Wertschöpfungsketten vorgespurt. Diesem Trend kann sich die Schweiz nicht entziehen. 

Mehr zur aktuellen Debatte über die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz erfahren Sie in unserem Argumentarium «Fakten statt Behauptungen». 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation
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