Tag für Tag verlassen über 1500 meist junge Menschen Nepal. Sie gehen mit Arbeitsverträgen für einige Jahre in die Golfstaaten, nach Malaysia, Korea oder Indien. Sie sind fest dazu entschlossen, ihre Erwartungen sind hoch – doch die wenigsten haben eine Vorstellung davon, was sie dort erwartet. Ihnen fehlt das Wissen, wie sie sich vorbereiten müssen, damit der Aufbruch nicht zum Albtraum wird.
Schlange stehen im Passbüro
Suraj Ghalan wartet im Department of Passport in Kathmandu mit Hunderten anderen auf seine Papiere. Endlich hat er es geschafft: Der 21-jährige Bauernsohn zeigt uns stolz seinen neuen Pass, den er soeben in Empfang genommen hat. Nach Saudi-Arabien will er, ein Nachbar habe ihm erzählt, dort lasse sich gutes Geld verdienen. Über Saudi-Arabien weiss er, dass man dort die Frauen nicht anschauen darf. «Und sonst? Hast du auch Bedenken?» – «Was für Bedenken?»
Nepal selbst kann der jungen Generation bei weitem nicht genügend Jobs bieten. Über eine halbe Million Nepalesinnen und Nepalesen verlassen das Land deshalb jedes Jahr, um im Ausland zu arbeiten. Die Geldüberweisungen von Landsleuten in die Heimat entsprachen 2014 bereits 29 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Nepal.
Jeder zweite Haushalt profitiert davon. Tatsächlich schaffen viele Familien dank dieser Gelder den Schritt aus der extremen Armut. Doch die Risiken für die Migrantinnen und Migranten sind hoch, wenn sie schlecht vorbereitet sind.
Immerhin, Suraj macht noch einen Abstecher ins Informationszentrum für sicherere Migration gleich vor den Toren der Passbehörde. Die Beratungsstelle ist Teil einer gemeinsamen Initiative mit der nepalesischen Regierung, die Helvetas im Auftrag der DEZA in Nepal umsetzt. Ihr Ziel ist, Arbeitsmigrantinnen und -migranten besser zu schützen.
Die Berater erklären Suraj, worauf er bei der Suche nach einer seriösen Vermittlungsagentur achten muss. Wie wichtig es ist, dass er sich offiziell registriert. Wie viel besser er gestellt sein wird, wenn er eine berufliche Grundausbildung vorweisen kann. Und wo er sich für eine solche Ausbildung anmelden kann.
Ausbildung gegen Ausbeutung
Im Balaju Technical Training Center in Kathmandu erhalten junge Menschen, die sich entschlossen haben, einen Arbeitsvertrag im Ausland einzugehen, eine 30- bis 45-tägige Grundausbildung. Die Lehrgänge sind gratis, nur wer abbricht, muss eine Entschädigung zahlen.
Der 20-jährige Elektrikerlehrling Harka Bahadur Sunar lernt an diesem Morgen einen Schaltkreis zusammenzubauen, Operation gelungen, die Glühlampe auf seinem Werktisch brennt. Er wird bald nach Katar gehen. Sein Bruder und sein Vater seien schon dort und hätten ihn aufgefordert, nachzukommen.
Harkas Lehrer Raghubar Lal Joshi hat selber langjährige Auslanderfahrung, das ist Voraussetzung für diese Stelle. Er bringt den Lernenden neben Fachwissen auch Themen wie Baustellensicherheit näher, bereitet sie auf die Arbeits- und Lebensbedingungen vor. Sie erhalten auch Hilfe für ihre Bewerbung, und sie lernen ihre Rechte und Pflichten kennen.
Raghubar Lal Joshi, Harkas Lehrer
Der 23-jährige Sukul Bahadur Kumal hat sich für eine Sanitärlehre entschieden: «Ich habe von meinem Cousin gehört, dass der Sanitärberuf in Kuwait sehr gefragt ist.» Er wisse, wie wichtig eine Ausbildung sei. Nach Abschluss wolle er den Cousin mit einem Touristenvisum besuchen, um vor Ort eine Stelle zu finden. Gut, dass ihm sein Sanitärfachlehrer sogleich klar machen kann, dass dies keine gute Idee ist. Das wäre nicht nur illegal: Ohne Vertrag und offizielle Registrierung wäre der junge Mann seinem Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert.
Rechtshilfe in der Not
Vieles kann schief gehen, wenn die Arbeitssuche im Ausland nicht seriös vorbereitet und abgesichert wird. Das versteht, wer auch nur ein paar Stunden im Rechtsberatungsbüro des “People Forum”, einer Partnerorganisation von Helvetas, verbringt.
«Mein Mann sitzt in Katar fest, er wurde von seiner Firma an eine andere weitergereicht, bekommt dort keine Arbeit und keinen Lohn. Doch sie halten seinen Pass unter Verschluss», klagt Ranjita Mehta der Anwältin Manju Subedi. Ranjita Mehta hat zuhause ein kleines Mädchen und eine kranke Schwiegermutter zu versorgen. Sie kämpft dafür, dass ihr Mann endlich heimkehren kann.
Zahlreiche Frauen und Männer drängen sich im Gang vor den Beratungszimmern. Die Anwältinnen und Anwälte werden die Geschichte eines jeden anhören und die nötigen Schritte einleiten. Gleich nebenan liegt die offizielle Beschwerdestelle der Regierung, wo sie ihre Anträge einreichen können. Anwältin Manju Subedi weiss von vielen traurigen Schicksalen, aber sie weiss auch, wie viel sie erreichen kann, wenn sie Geschädigten zur Seite steht im Kampf gegen dubiose Vermittlungsagenturen, die zu viel Geld kassieren, falsche Versprechungen machen oder ihren Pflichten nicht nachkommen.
Sicherer Hort for Heimkehrerinnen
Besonders gefährdet in der Migration sind Frauen, die sich im Ausland als Haushaltshilfen verdingen. Sie sind ihren Dienstherren meist völlig ausgeliefert. Da immer mehr Frauen ins Ausland gehen, um Geld für die Familie zu verdienen, ist es wichtig, dass es auch für sie Ausbildungen gibt, die eine geregelte und offizielle Arbeit, etwa in einem Nähatelier, ermöglichen. Auch das nimmt Helvetas in Angriff, doch Jobs in Privathaushalten sind nach wie vor die Norm.
Viele der Frauen erleben in der Fremde Ausbeutung, Gewalt oder Missbrauch. Jenen, die traumatisiert und mittellos heimkehren und nicht wissen, wohin, steht die Partnerorganisation Pourakhi zur Seite. Manju Gurung leitet das Frauenhaus in Kathmandu in dem Frauen nicht nur ein Obdach, sondern auch Unterstützung, therapeutische Hilfe und Wärme finden. Sie erklärt, wie ihr Team vorgeht:
Manju Gurung, Leiterin Frauenhaus Kathmandu
Eine von ihnen ist Sunita (Name geändert). Sie lebt seit zwei Wochen im Frauenhaus. Die Hausherrin in Kuwait habe ihr eine Affäre mit ihrem Gatten unterstellt, nur weil der anständig zu ihr gewesen sein, erzählt sie. Sie wurde von ihrer Arbeitgeberin geschlagen – und schlug eines Tages zurück.
Natürlich wurde Sunita sofort verhaftet. Wer in den Golfstaaten seine Stelle verliert, ist rechtlos und verwirkt unverzüglich auch seine Aufenthaltsgenehmigung. Im Gefängnis hätten ihr manche der arabischen Polizistinnen aber sogar gut zugesprochen: «Recht hast du, wir wissen, wie ihr behandelt werdet.»
Es folgte monatelange Abschiebehaft. Dann wurde Sunita zurückgeschafft und sich selbst überlassen. Sunita ist psychisch angeschlagen. Im Frauenhaus findet sie Ruhe, Sicherheit und therapeutische Hilfe.
«Die Frauen haben Schlimmes erlebt, sie müssen wieder zu sich finden», sagt Therapeutin Muna Gautam, die einst selbst als Haushaltshilfe im Ausland war. «Wir führen Gespräche mit ihnen, und wir bieten Meditation, Entspannungsübungen, Bewegungs- und Ausdruckstherapien an.» Die Frauen arbeiten, wie das ganze Team, aber auch gemeinsam mit in der Küche und im Garten.
Manisha (Name geändert) geht es bereits besser. Auch sie wurde in Kuwait von ihrer Arbeitgeberin drangsaliert. «Nach sechs Monaten bezahlten sie mir keinen Lohn mehr. Die Hausherrin beschimpfte mich, sie warf mein Handy ins Wasser, schlug mich.» Ohne Pass, Handy oder Geld musste sie Hals über Kopf fliehen. Nach der Rückkehr nach Nepal lebte sie ein paar Wochen im Frauenhaus, konnte dann zu ihrer Familie zurückkehren. Heute kommt sie noch ab und zu in die Therapiestunden.
Dass sich die Frauen hier geborgen und sicher fühlen können, ist auch das Verdienst von Khet Kumari Ghimire. Man glaubt ihr kaum, dass auch sie vor 20 Jahren im Ausland Böden schrubbte. Heute ist sie Security Guard. Ungewöhnlich für eine Frau in Nepal – und ein Segen für das Frauenhaus. Sie wacht darüber, dass niemand unbefugt eindringt. Sie schützt aber auch die Frauen vor sich selber: Immer wieder wird sie gerufen, um zu verhindern, dass sich eine verzweifelte Frau das Leben nimmt. Ihr Beruf ist für sie mehr als ein Job, es ist eine Berufung:
Khet Kumari Ghimire, Security Guard des Frauenhauses