Wenn Menschen Impulse der Entwicklungszusammenarbeit in ihr eigenes Leben einbauen, findet echte Veränderung statt. Die Geschichte der Familie Shahi erzählt von diesem Weg in die Eigenständigkeit. Grossmutter Manpura Shahi kämpfte als Witwe auf dem Feld um die Zukunft ihrer Familie. Ihr Sohn Chakra Shahi konnte dank einem Helvetas-Kurs in Tiergesundheit die Existenz der Familie sichern. Enkel Govind Shahi macht das Studium zum Veterinärpraktiker – seine Familie konnte ihm dies aus eigener Kraft ermöglichen.
Die Grossmutter, Manpura Shahi, 75
«In der Nacht war es Nacht, und auch am Tag war es Nacht». So fasst Manpura Shahi zusammen, wie es ihr ging. Damals, als ihr Mann tot und sie mit ihrem vier Jahre alten Sohn Chakra allein war. Sie wohnte in einer baufälligen Hütte, die Verwandten ihres Mannes lehnten sie ab, und da war niemand, der ihr bei der Feldarbeit half.
Manpura Shahi, Bäuerin
Manpura Shahis Leben als Frau am Rand der Gesellschaft veränderte sich vor 17 Jahren, als eine Partnerorganisation von Helvetas einen Kurs für vielfältige Gemüseproduktion im Küchengarten organisierte. Manpura war 59 Jahre alt und damit für nepalesische Verhältnisse eine alte Frau. Trotzdem wollte sie am Kurs teilnehmen. «Meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben. Aber sie wusste, wie wichtig Bildung ist», sagt ihr Sohn Chakra.
«Ich war die Erste, die sich für den Garten-Kurs meldete. Die Erste!» Manpura ist stolz, dass sie es gewagt hat, über ihren Schatten zu springen. Die direkten Folgen des Kurses waren allerdings bescheiden. Und doch war dieser Kurs der Drehpunkt, der das Leben der ganzen Familie verändern sollte. Manpura erinnert sich: «Wir sprachen im Kurs auch darüber, wie wir miteinander umgehen sollen. Alle sind gleich, sagte uns der Kursleiter.»
Der Sohn, Chakra Shahi, 43
«Sie war glücklich. Mit dem Gemüsekurs hatte sie eine neue Aufgabe gefunden, und sie hatte neue Hoffnung.» Chakra Shahi ist sich bewusst, dass die Mutter mit ihrem mutigen Schritt auch sein Leben veränderte. Auch er schloss sich dem Kurs an. Er schrieb Protokolle, verwaltete die kleine Sparkasse und gewann so das Vertrauen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie schickten ihn 1999 in einen Grundkurs für Tiergesundheit, der von Helvetas finanziert war.
Chakra Shahi, Ladenbesitzer, Verkäufer von Tiermedizin
Nach 45 Kurstagen kehrte Chakra mit einem Diplom nach Koldanda zurück. Von den Kursorganisatoren hatte er ein zinsloses Darlehen von 2‘500 Rupien (damals rund 56 Franken) erhalten, damit er sich einen Grundstock an Tiermedikamenten und Gemüsesamen kaufe.
Koldanda in der Gemeinde Birpath ist ein Weiler mit 32 Familien in den hohen Hügeln der «Far West Province» Nepals. Es gibt hier weder Bodenschätze noch Tourismus. Doch die Böden sind gut, und Bauernfamilien haben begonnen, ihre Produktion auf die Bedürfnisse des Marktes auszurichten. Ein wichtiges Element für bessere Erträge ist die Fachausbildung für Bäuerinnen und Bauern und für Berufe wie Mechaniker oder Schlosser, die mit der Landwirtschaft zu tun haben.
Chakra war unter den ersten, die sich weiterbildeten, und heute hat er in Koldanda seinen eigenen Laden. Dort sind nicht nur Gemüsesamen, Entwurmungs- und Zeckenmittel aufgereiht, sondern auch Salz, Süssigkeiten, Schulhefte und Schreibstifte, Rasierklingen, Zündhölzer und Zigaretten. Sein Laden für Tiermedizin ist der einzige im Umkreis von zehn Kilometern. Chakra ist ein geachteter und wohlhabender Mann geworden, der auch Ämter im Schulrat, im Landwirtschafts- und im Wasserkomitee übernommen hat und so das Fortkommen seines Dorfes fördert.
Der Enkel, Govind Shahi, 17
«Aber die Schule kostet mehr als 100‘000 Rupien», sagte Govind, als sie in der Familie über seine Ausbildung sprachen. 900 Franken. Das ist viel Geld in einem Land, wo das Mindesteinkommen in der Landwirtschaft bei zwei Franken pro Tag liegt. Sein Vater beruhigte ihn: «Wir können das bezahlen. Geh, schreib dich ein». Die Familie legte alles Geld zusammen, um ihm den Schulbesuch zu ermöglichen. Sie betrachten es als Investition in die Zukunft.
Govind Shahi, Techniker für Tiermedizin
Als Govind von daheim wegging, um an der Gurans Mittelschule in Bardiya einen Jahreskurs mit Schwergewicht auf Veterinärmedizin und landwirtschaftliche Produkte zu besuchen, gab ihm die Grossmutter die gleiche Ermahnung mit auf den Weg, die sie schon seinem Vater mitgegeben hatte: Studiere, sei höflich und arbeite hart. «Ich bewundere sie», sagt Govind. «Sie hat dafür gesorgt, dass mein Vater zur Schule ging. Damit hat sie das Leben unserer Familie verändert».
Govinds Ausbildung ist umfassender als die seines Vaters. Er weiss jetzt, wie man eine Impfkampagne für Tiere organisiert. Wo man die Impfstoffe bekommt und wie man sie lagern muss. Wieviel frisches und wieviel trockenes Futter man den Tieren geben soll. Wie man eine einfache Buchhaltung führt und Rechnungen ausstellt. Und er hat auch gelernt, was sich im fruchtbaren Hügelland neben den traditionellen Getreiden und Hülsenfrüchten noch anbauen lässt: Kartoffeln, Zwiebeln, Walnüsse, die gelben Kurkumawurzeln, Tomaten. Die Ausbildung hat er nicht nur für sich, sondern auch für das Dorf gemacht, und er hat auch nie ernsthaft daran gedacht, ganz von hier wegzugehen.
Beim Besuch daheim zeigt Govind seinem Vater, was er über Krankheitssymptome bei Rindern gelernt hat. Er erklärt, was man aus der Konsistenz des Kuhfladens herauslesen kann, zeigt, wie man den Hals oder die Flanken einer Kuh fachgerecht abtastet. Der Vater hört gebannt zu. Vielleicht, weil er viel Neues erfährt. Vielleicht auch einfach, weil er stolz ist auf das Wissen seines Sohns.
Dass die Familie heute relativ wohlhabend ist, zeigt sich nicht auf den ersten Blick. Beim Haus und beim Laden ist nichts von dem, was in andern Familien auf den wirtschaftlichen Erfolg hinweist. Kein Fernsehgerät, kein Motorrad, nicht einmal ein Fahrrad. «Die üblichen Statussymbole gehören nicht zum Konzept. Familien wie die Shahis investieren in Bildung.» Kirti Raj Pant, Projektverantwortlicher von Helvetas in der Region.
… und dann wäre da noch die ewige Sorge der Grossmütter um ihre Enkelkinder
Nach fast einem Jahr an der Landwirtschaftsschule ist Govind wieder zu seiner Familie zurückgekommen. Die Grossmutter fährt ihm mit der Hand über das Gesicht und sagt, was alle Grossmütter sagen, wenn Enkelkinder aus der Fremde zurückkommen: «Du bist dünn geworden.» Später, beim Essen, schiebt sie ihm eine extragrosse Portion vom süssen Reispudding zu, den sie zur Feier seines Besuchs gekocht hat. Govind lässt es widerstrebend geschehen, isst dann aber doch alles auf. Wie alle Enkel auf der Welt.