Daulima baut an ihrer Zukunft

Ein Jahr nach dem Erdbeben in Nepal kämpft Daulima für ein neues Zuhause.
TEXT: Patrick Rohr - FOTOS / VIDEOS: Patrick Rohr

Es ist später Nachmittag in Marbu, die Frühlingssonne taucht das Dorf am Fusse des Himalaya in ein warmes Licht. Auf dem kleinen Platz neben ihrem neuen Haus treffen wir Daulima Sherpa. Sie kniet auf einer Plastikplane und trennt die Spreu von der getrockneten Hirse. Die 40-jährige Daulima hat ein sehr schweres Jahr hinter sich. Doch bald kann sie in ihr neues Haus einziehen. Es ist das erste, das in Marbu nach den verheerenden Erdbeben vom vergangenen Jahr gebaut wurde.

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Daulima Sherpa trennt die Spreu von der getrockneten Hirse. © Helvetas

Die zwei Erdbeben zerstörten am 25. April und am 12. Mai 2015 in Nepal insgesamt 750’000 Häuser und kosteten über 8800 Menschen das Leben. Der Distrikt Dolakha, in dem Marbu mit seinen weit verstreuten neun Weilern liegt, gehört zu den besonders stark betroffenen Gebieten. Marbu liegt zuhinterst in einem entlegenen Seitental, etwa neun Fahrstunden entfernt von Kathmandu.

Das erste Beben richtete in Marbu noch verhältnismässig wenig Schaden an, weil das Epizentrum etwas weiter entfernt lag. Nach der zweiten, fast ebenso heftigen Erschütterung etwas mehr als drei Wochen später war in Marbu allerdings kein Haus mehr bewohnbar. Auf einen Schlag wurden die 1900 Bewohnerinnen und Bewohner obdachlos. Menschen kamen glücklicherweise keine zu Schaden.

Das Haus von Daulimas Familie stand am oberen Rand des grössten Weilers. Es war das Elternhaus ihres Mannes Nim Tsiring, den sie jung geheiratet hatte. Nur drei Monate vor dem ersten Beben, im Januar 2015, starb Nim Tsiring - woran genau, weiss Daulima nicht. Er sei einfach immer schwächer geworden, und plötzlich sei er gestorben, erzählt Daulima. Seither muss sie allein für ihre vier Kinder und die 92-jährige Schwiegermutter sorgen.

Daulima kämpft mit den Tränen, als sie vor der Ruine ihres alten Hauses steht.
«Mein Mann fehlt mir sehr, das Leben ohne ihn ist schwer.»

Daulima 40, Bäuerin und Erdbebenopfer

Zusammen mit ihren zwei jüngsten Söhnen Sukima, 13, und Ando, 9, führt uns Daulima zu den Trümmern ihres Hauses. Schon nach dem ersten Beben war das Haus nicht mehr sicher, beim zweiten stürzte es ein. Es war ein traditionelles mehrstöckiges Steinhaus. Daulima erzählt uns, wie es ausgesehen hatte, bevor es durch die unfassbare Naturgewalt zerstört wurde.

Am Tag des schweren Bebens war Daulima am Arbeiten auf dem Feld. Sie hat drei Kühe und eine Ziege, und seit sie Witwe ist, hilft sie ab und zu für einen kleinen Lohn auch bei anderen Bauern im Dorf aus. Es war Nachmittag, als die Erde plötzlich heftig zu zittern begann. Daulima sah, wie Häuser einstürzten.

«Mein einziger Gedanke war: Wo sind meine Kinder?»

Im ersten Moment war Daulima wie erstarrt, überall schrien Leute. Sie rannte los, suchte ihre Kinder. Daulima hatte Glück, sie fand sie ganz in der Nähe. Zusammen mit ihren Söhnen stieg sie hinauf zu ihrem Haus oben am Steilhang – es war in sich zusammengebrochen, das Dach lag auf dem Boden. Sie ging hinunter zur Dorfstrasse, wo ihrer Familie ein Stück Land gehört, das sie für den Ackerbau benutzte. Noch bevor die Nacht einbrach, baute sie hier mit Hilfe ihrer Söhne und Nachbarn einen behelfsmässigen Unterstand, in dem sie mit den Kindern und ihrer Schwiegermutter Schutz fand. «Die ganze Nacht bebte die Erde weiter. Wir sassen beieinander und hatten grosse Angst.»

Ab diesem Tag war der Unterstand ihr neues Zuhause. Der einfache Verhau aus Bambus und geflochtenen Matten ist bis heute Küche und Wohnzimmer für die Familie sowie Schlafstatt für Daulimas zweitältesten Sohn Mingma, 17, und ihre Schwiegermutter. Daulima schläft mit den zwei jüngsten Söhnen ein paar Meter weiter in einem Zelt, das sie ein paar Tage nach dem Erdbeben bekommen hat. Das neue Haus steht gleich daneben. «Erst wollten die Kinder nicht im Zelt schlafen, aber wir hatten ja keine Wahl. Daulima ist froh, dass das Leben im Provisorium bald ein Ende hat.

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Neben Daulimas neuem Haus, stehen noch die Zelte der Notunterkunft. © Helvetas
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Der Unterstand, den Daulima und ihre Kinder am Tag des ersten Erdbebens gebaut haben, dient bis heute auch als Küche der Familie. © Helvetas
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Sukima (L.) und Ando machen im Zelt auf dem Bett ihrer Mutter die Hausaufgaben. Sie selber schlafen auf einer Matte auf dem Boden. © Helvetas
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Im Zelt lagert Daulima auch ihre Vorräte. © Helvetas
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Ando macht sich auf den Weg zur Schule. © Helvetas
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Im neuen Haus fehlt nur noch der Innenverputz. Das Haus ist einstöckig und hat zwei Zimmer, die Daulima sich mit ihren drei jüngeren Söhnen teilen wird. Ihr ältester Sohn, Nima, 20, ist bereits vor dem Erdbeben - wie viele junge Nepali - als Gastarbeiter nach Malaysia gegangen. Wenn er für sich, seine Mutter und seine Geschwister genug Geld verdient hat, möchte er zurückkommen und auf dem Grundstück seines Elternhauses ein eigenes Haus bauen. Das neue Haus erfüllt Daulima mit Stolz und Freude.

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Daulima hat an ihrem Haus selber mitgebaut. © Helvetas

Bis Ende 2016 bildet Helvetas im Auftrag der DEZA 3000 Menschen, die ihr eigenes Haus im Erdbeben verloren haben, in erdbebensicherem Bauen aus. In einem 50-tägigen Training, das zu 80 Prozent aus praktischer und zu 20 Prozent aus theoretischer Ausbildung besteht, lernen die Teilnehmenden, worauf es beim Bau sicherer Häuser ankommt. Bis Ende 2018 sollen so 4000 neue und erdbebensichere Häuser gebaut werden.

«Dank der Ausbildung weiss ich heute, welches Material für den erdbebensicheren Hausbau entscheidend ist.»

Daulima 40, Bäuerin und Erdbebenopfer

Daulima gehörte in ihrem Dorf zur ersten Gruppe, die ausgebildet wurde. Und ihr Haus ist auch das erste, das gebaut wurde. Die Dorfgemeinschaft entschied, dass sie als Witwe mit ihren Söhnen es am nötigsten hatte. Der Trainingsgruppe diente es auch gleich für den praktischen Teil der Ausbildung.

Daulima packte dank der Ausbildung nicht nur beim Bau des eigenen Hauses tatkräftig mit an - sie hilft jetzt auch anderen Absolventinnen und Absolventen beim Wiederaufbau ihrer Häuser. Zudem werden die frisch ausgebildeten Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter auch von Leuten angestellt, die die Ausbildung nicht absolviert haben, was ihnen eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit gibt.

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Die frisch ausgebildeten Handwerkerinnen und Handwerker unterstützen die Dorfbevölkerung beim Hausbau. © Helvetas

Das nötige Wissen für ein sicheres Haus

Auch Mitra Tamang, 35, wurde von Helvetas im Bauen von erdbebensicheren Häusern ausgebildet. Der Vater von zwei kleinen Kindern arbeitete im Ausland, bevor er kurz vor den Erdbeben wieder nach Marbu zurückkehrte und von der Hühnerzucht und vom Gemüseanbau lebte. Mitras Haus ist das zweite, das wieder aufgebaut wurde. Dank dem Training hat Mitra eine neue Berufung gefunden. Er, der nur 5 Jahre in der Schule war und nie einen Beruf lernen konnte, bestreitet heute sein Einkommen als Bauarbeiter.

Ingenieur Rajendra Panti (rechts), einer der Helvetas-Trainer, zeigt Mitra, worauf es beim Mauerbau ankommt.
«Ich bin sehr glücklich, dass ich dank dem Training für erdbebensicheres Bauen die Möglichkeit bekommen habe, als Handwerker zu arbeiten.»

Mitra Tamang, 35 Jahre

Auch Mitras Haus ist bald fertig. Noch fehlen das Dach und der Verputz im Innern. Wie Daulima, ist auch Mitra froh, hat die Zeit in der Notbehausung jetzt dann ein Ende. Aber noch glücklicher macht ihn, dass er und seine Familie künftig ruhig schlafen können, weil ihr neues Haus erdbebensicher ist. Auf dem Platz vor dem fast fertigen Haus erklärt er uns, was der Unterschied zu seinem alten Haus ist, das durch die Erdbeben komplett zerstört wurde.

Es braucht also verschiedene Elemente, um ein lokales Steinhaus erdbebensicher zu machen. Mitras Trainer Rajendra Panti, 28 und sein Kollege Bishnu Bishwokarma, 22, zeigen an Daulimas Haus, worauf es ankommt. Zentral sind die horizontalen Holzbänder an der Innen- und Aussenseite, die querverstrebt sind und insgesamt auf vier Ebenen, angefangen beim Fundament, auf die Mauer gelegt werden. Zusätzlichen Halt geben die doppelten Tür- und Fensterrahmen.

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Die beiden Trainer Rajendra Panti (L.) und Bishnu Bishwokarma diskutieren über das Holzband und die Ecksteine. © Helvetas
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Das Holzband ist so breit wie die Mauer und sowohl quer- als auch längsverstrebt. © Helvetas
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Das leichte Dach aus Holz und Wellblech würde bei einem Erdbeben viel geringeren Schaden anrichten als ein Steindach. © Helvetas
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Mehrere kleine Zimmer und doppelte Tür- und Fensterverstrebungen machen das Haus stabiler. © Helvetas
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Mitra mit seiner Familie vor dem neuen Haus. © Helvetas
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Für die Hausecken werden Steine zu stabilen Quadern gehauen, die ausserdem breiter und länger sind als die Steine, die sonst für die circa fünfzig Zentimeter dicken Mauern verwendet werden. Weil mehr tragende Mauern mehr Sicherheit geben, werden mehrere Zimmer mit starken Zwischenwänden gebaut. Und weil ein schweres Steindach grossen Schaden anrichten kann, ist das Dach eine leichte Konstruktion aus Holz und Wellblech. Schliesslich verleihen dem Haus starke vertikale Pfeiler in jeder Ecke und bei jeder Zwischenwand zusätzliche Stabilität.

Nach einem schwierigen Jahr und einem harten Winter fassen die Menschen in Marbu neuen Mut. Auch Daulima, die im letzten Jahr ihren Mann, ihr Haus und all ihre Habseligkeiten verloren hat, darf wieder auf eine bessere Zukunft hoffen. Und nach und nach werden alle Menschen in Marbu wieder ein Dach über dem Kopf haben. Eines, das auch starken Erderschütterungen standhält.

Mit Foto- und Videoausrüstung in Nepal

Patrick Rohr arbeitete 15 Jahre beim Schweizer Fernsehen, bevor er 2007 in Zürich eine Medien- und Kommunikationsagentur gründete. Nach einer Fotografieausbildung an der Fotoacademie Amsterdam arbeitet er auch als Porträt- und Dokumentarfotograf und als Multimediaproduzent. Kürzlich reiste er mit den Helvetas-Mitabeiterinnen Susanne Strässle (Kommunikation) und Astrid Rana (Fundraising) nach Nepal, um über die Situation ein Jahr nach den verheerenden Erdbeben zu berichten.

«Ich war zum ersten Mal in Nepal. Mich hat beeindruckt, mit welcher Energie und Zuversicht die Menschen ein Jahr nach den Erdbeben an der Zukunft ihres Landes bauen.»

Patrick Rohr

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