Noch ist es stockfinster in Faradiélé, einem kleinen Dorf im Südwesten von Mali. Die Grillen zirpen. Ab und zu höre ich das heisere Iah eines Esels. Erste Hähne krähen. In Mamou Sangarés Lehmhütte dreht sich ihre jüngste Tochter Nani im Schlaf und versucht sich nochmals an die Mutter zu kuscheln, doch die macht sich sanft los und steht auf. Sie zieht sich an, bindet sich ein Tuch um den Kopf und tritt ins Freie. Schon bald höre ich das rhythmische Wischen von Besen im Hof.
Wie jeden Morgen machen die Frauen der Grossfamilie den Hof sauber. Als auch ich in den Hof hinaustrete, bietet sich mir ein überraschender Anblick. Um überhaupt etwas sehen zu können, hat sich jede Frau eine Taschenlampe zwischen Hals und Schulter geklemmt. In den Lichtkreisen der Taschenlampe leuchten Staubwolken auf. Darum herum ist schwarze Nacht.
Gegen sieben Uhr kommen die Kinder aus den Hütten, den Schlaf noch in den Augen. Kniend waschen sie sich mit Wasser aus einem Krug. Die Grossen helfen den Kleinen. Mittendrin steht Zé, Mamous Ehemann, und putzt sich mit einem Ästchen die Zähne. Zum Frühstück gibt es Reis mit Erdnusssauce, die aufgewärmten Reste von gestern Abend. Der Horizont hat sich inzwischen rot verfärbt. Der neue Tag kann beginnen.
Wasser dank Sonnenkraft
Nicht immer begann der Tag im Hof so friedlich und so spät. Als Mamou noch ein Mädchen war, musste sie um vier Uhr oder noch früher aufstehen, um Wasser zu holen. «Meine Mutter versuchte immer, als Erste zum Wasserloch zu kommen. Dann war das Wasser noch einigermassen sauber. Wenn jemand vor ihr dort war, musste sie erst warten, bis sich der Schlamm wieder gesetzt hatte. Und oft reichte das Wasser nicht für alle.» Mamou lacht herzlich, während sie die mir Situation schildert. Mamou lacht immer. Mamou hat das ansteckendste Lachen von ganz Faradiélé.
Mamou Sangaré, Hausfrau und Kleinstunternehmerin
Grundwasser hat es in der Gegend genug, doch ohne Brunnen ist in der Trockenzeit kein Wasser verfügbar. Die Trockenzeit ist mit dem Klimawandel unberechenbar geworden. Der Fluss führt weniger Wasser und trocknet aus. Während der Regenzeit steigt das Wasser nicht mehr so hoch wie früher. Im Dorf gibt es weniger Bäume als noch vor zehn Jahren.
«Letztes Jahr kam der Regen viel zu spät. Sogar die Bienen sammelten sich um den neuen Brunnen, weil es sonst nirgends mehr Wasser hatte», erzählt Ousmane Makan Sidibé, der lokale Projektleiter von Helvetas.
Im Jahr 1987 baute das Dorf mit Hilfe von Helvetas einen ersten Brunnen, der in die Jahre gekommen ist. Mittlerweile hatte er manchmal im Zweiwochenrhythmus eine Panne. Ersatzteile waren nur noch schwer aufzutreiben. «Wir suchten eine Lösung, die zuverlässig und kostengünstig ist. Und die für die Menschen hier eine echte Verbesserung bringt», erzählt Ousmane.
Selbstverständlich wäre es möglich gewesen, die alte Fusspumpe zu ersetzen. Aber Ousmane, den alle als Tüftler kennen, wollte sich nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden geben. Er trommelte Fachleute aus verschiedenen Bereichen zusammen – Ingenieure, Baufachleute, Solartechniker –, um neue Ideen zu sammeln. Die Lösung, auf die sie kamen, war eine innovative Kombination von bestehenden Technologien: Sodbrunnen, Solarpumpe, Wasserzisterne und Brunnenstock.
Dieser Brunnenstock steht genau zwischen der Schule und der Gesundheitsstation, auf deren Dach die Solarpanels montiert sind. Die Energie aus den Panels speist eine elektrische Pumpe, die zu laufen beginnt, sobald das Wasser in der Zisterne unter ein bestimmtes Niveau sinkt.
Massgebend für den Start ist ein einfacher Schwimmer, wie wir ihn etwa aus den Spülkästen unserer Toiletten kennen. Aus der Zisterne, die von lokalen Handwerkern hergestellt wurde, wird das Wasser zum Brunnenstock geleitet, wo die Frauen einfach einen der beiden Hahnen aufdrehen können.
Mit 20‘000 Franken sind die Kosten für die Solarpumpe deutlich höher als für eine Fuss- oder Handpumpe. «Aber spätestens nach fünf Jahren kommt diese Lösung wesentlich günstiger, weil das System viel weniger Unterhalt verlangt», erklärt Ousmane. Seit August 2014 hat das Helvetas-Team in der Region vier weitere Solarbrunnen gebaut. «Und bei allen fünf Brunnen hatten wir noch nie ein technisches Problem. Die Pumpen funktionieren zuverlässig», sagt Ousmane.
Mamou kommt mit zwei ihrer Kinder zur Solarpumpe, kurz nachdem Brunnenwart Yacouba Diarra die Umzäunung geöffnet hat, die die Ziegen, Hühner und Kühe vom Brunnen fernhält. Die drei ziehen ihre Schuhe aus, bevor sie die Umzäunung betreten. Nichts soll die Wasserqualität beeinträchtigen, die sie im Dorf endlich erreicht haben.
Djakaridia, der älteste Sohn, schiebt den Kanister unter den Hahn und lehnt sich lässig an die Pumpe, während sich der Kanister in kürzester Zeit füllt. Nani, seine siebenjährige Schwester, spielt in dieser Zeit mit den anderen Mädchen, und Mamou unterhält sich mit den Frauen. Das Wasserholen in Faradiélé ist seit eineinhalb Jahren schon fast ein Vergnügen.
Wie sich die neue, ungewohnte und faszinierende Solartechnologie auf das Dorfleben auswirkt, zeichnet sich erst allmählich ab. Steigt der moderne Brunnen in der Achtung der Leute? Engagieren sie sich mehr für den Unterhalt? Dass Mamous ältester Sohn als Junge beim Wasserholen mithilft, ist jedenfalls keine Selbstverständlichkeit. Mamou quittiert meine Bemerkung mit ihrem typischen grossen Lachen.
Strahlend und respektiert
Am Mittag sitzt Mamou in ihrem kleinen Verkaufsstand im Zentrum des Dorfes. Den ganzen Vormittag über hat sie Beignets frittiert. Auf einem kleinen, selbst gemauerten Holzofen hält sie das Öl heiss. Eine Portion Küchlein nach der anderen holt sie aus dem Topf. Mamou wechselt mit allen Kunden ein fröhliches Wort. Ihr Angebot geht weit über die Beignets hinaus. Eine Nachbarin braucht Maggiwürfel, ein junger Mann kauft sich Fische, ein Töfffahrer hält an, um einen Bund Zwiebeln mitzunehmen. Frauen bestellen Reis, den Mamou ihnen am nächsten Tag mitbringen soll.
Um 12 Uhr ist die Schule für die Kinder der Vormittagsgruppe aus, und die Nachmittagsgruppe macht sich auf den Weg zur Schule, da aus platzgründen nicht alle zugleich auf die Schulbank passen. Kurz wird es chaotisch um Mamous Stand. Ein paar wenige Kinder können sich ein Beignet leisten. Die anderen versuchen, von Mamou eines zu erbetteln. Mamou bekommt die Rasselbande mit Hilfe ihrer Schwiegermutter in der Griff. Bestimmt, aber natürlich mit einem Lachen.
Korotoumou Samaké, Mamous Schwägerin
Mamou und ihr Mann Zé geniessen im Dorf grossen Respekt. «Die beiden haben eine enorme Energie und engagieren sich für das ganze Dorf», sagt Fatoumata Seydou Koné, die im Auftrag von Helvetas in Faradiélé und acht weiteren Dörfern als Hygieneberaterin unterwegs ist. Zum neuen Brunnen gehört auch das Wissen darüber, wie man das gute Wasser beim Transport und daheim sauber behält. Fatoumata zeigt den Menschen, wie sie gesund bleiben können. Sie hat verschiedene Veranstaltungen organisiert, für das ganze Dorf, für die Frauen, für die Schulen. «Mit ein paar Frauen habe ich ein Theaterstück einstudiert», erzählt Fatoumata. «Und die Filmvorführungen ziehen immer viele Leute an.»
In Faradiélé, wo es kaum Unterhaltung gibt, ist eine Filmvorführung ein Ereignis, das niemand verpassen will. Das kommt Fatoumata zugute – und der Hygiene. Darüber hinaus setzt Fatoumata auf Vorbilder im Dorf, wie zum Beispiel Mamou und ihren Ehemann Zé. Mit Erfolg: Händewaschen, das A und O für die Gesundheit, ist heute im Dorf eine Selbstverständlichkeit. Und auch das Wissen darum, dass jede Familie eine Latrine braucht.
Begehrtes Wasser
Später Nachmittag. Die Schule ist auch für die Nachmittagsgruppe aus. Bevor die Kinder nach Hause gehen, holen sie am Solarbrunnen das Wasser, das die Schule für den nächsten Tag braucht. Auch Kadiatou, die ältere Tochter von Mamou ist dabei. Die Elfjährige geht gern zur Schule und erklärt selbstbewusst, dass sie einmal Ärztin werden will. Aber jetzt ist Wasserholen angesagt. Ein Lehrer steht am Zaun und sorgt dafür, dass alles diszipliniert abläuft. Nicht mehr als drei Kinder auf einmal lässt er in die Umzäunung. Auch die Kleinsten helfen mit. Ihre Gefässe sind oft so gross, dass es schwer vorstellbar ist, wie sie die Kanister und Kübel überhaupt hochheben können.
Ein Junge in einem FC-Barcelona Shirt-und einer grossen Anzugjacke versucht, sich cool vorzudrängen. Erfolglos. Der Lehrer pfeift ihn zurück. Ein Huhn hat die kurze Verwirrung genutzt, um in die Umzäunung reinzukommen. Die Kinder scheuchen es mit lautem Rufen davon. Draussen wartet das nächste Problem: Die Ziegen und Kühe haben Durst, und jedes offene Gefäss ist eine Einladung. Die Kinder verteidigen ihr Wasser, werfen mit Steinen nach dem Vieh und schauen, dass sie so schnell wie möglich wegkommen.
Die beiden grösseren Buben spielen im Hof mit einem Fussball, den sie aus Plastikresten gebastelt haben. Tropenabende sind kurz, und schnell ist es stockfinstere Nacht. In einem Topf auf dem Herdfeuer kocht Maisbrei, Mamous Lieblingsessen. Nach dem Essen geht es bald ins Bett. Die Batterie, an der eine einsame Glühbirne hängt, soll geschont werden.
«Wie wird es weitergehen für die Familie?», frage ich die beiden noch. «Ich habe Mamou für den Alphabetisierungskurs angemeldet», sagt Zé. Mamou wollte das nicht. Sie habe sich bisher ohne Lesen und Schreiben gut durchgekämpft, wandte sie ein. Sie habe Wichtigeres zu tun, als die Schulbank zu drücken. «Er hat mich dann doch überzeugt», sagt sie und lacht. Zé freut sich sichtlich, dass sie auch über sich selber lachen kann.
Für ihre Kinder wünscht sich Mamou, wie jede Mutter, nur das Beste. «Sie sollen grosse Persönlichkeiten werden. Arzt oder Polizist», meint sie. «Auch wenn sie Bauern bleiben, brauchen sie eine solide Ausbildung als Grundlage für ihre Zukunft», ergänzt Zé. «Aber vor allem sollen sie gesund bleiben.» Dem kann ihm Mamou nur zustimmen. Sie tut das, wen wunderts, mit einem herzlichen Lachen.