Irma erschrak, als sie den Raum betrat, den die Gemeinde ihr für das Frauenbüro zugewiesen hatte. Es war ein dunkles, feuchtes Zimmer im Erdgeschoss, kalt ausgeleuchtet von einer Sparlampe, die von der Decke herunterhing. Sonst war da nichts. Kein Tisch, kein Stuhl, weder Schreibmaschine noch Computer. «Da war nur dieser leere Raum», sagt Irma. Für sie war er wie ein Symbol dafür, wie wenig das Frauenbüro der Gemeinde bedeutete. Oder, etwas positiver, ein Zeichen für die Hilflosigkeit, mit der die Gemeindeoberen den Forderungen nach Gleichberechtigung begegneten.
Wider die Überforderung der Behörden
Die Gemeindebehörden von Concepción Chiquirichapa waren überfordert mit der Dezentralisierung, die ihnen mehr Kompetenzen bei der Planung von Strassen und Wasserversorgungen, bei den Schulen oder im Gesundheits- und Sozialwesen zuwies. Sie hatten keine Erfahrung darin, ein Projekt sauber zu planen, Budgets zu erstellen und Finanzierungsgesuche zu formulieren. Ausserdem waren sie es gewohnt, die Bürgerinnen und Bürger nicht als Partner, sondern als untergeordnete Bittsteller zu behandeln. Im Projekt Servime schult Helvetas die lokalen Verantwortungsträger darin, die neuen Aufgaben transparent und effizient zu lösen. Das ist für die Zukunft des Landes entscheidend, denn es fördert auch das Vertrauen der Menschen in die Behörden und die Politik.
Concepción Chiquirichapa ist eine Gemeinde mit 20’000 Einwohnern, die entweder im Hauptort oder in einem der vielen Aussendörfer leben. Hier, im westlichen Hochland Guatemalas, haben sich grosse Teile der Mayakultur erhalten. Die Bearbeitung der Felder, die Sprache, die traditionelle Tracht der Frauen. Doch die malerische Fassade versteckt, dass viele Familien auseinanderfallen, weil der Vater in die Vereinigten Staaten migriert ist. Teenagerschwangerschaften gehören zum Alltag. Alkoholismus und Gewalt gegen Frauen sind weit verbreitet. Mädchen brechen die Schulbildung öfter und früher ab als Knaben, und in politischen Gremien sind Frauen kaum vertreten.
Irma Dolores Hernández, aufgewachsen in einer grossen Familie mit traditionellen Werten, hat sich schon als Kind gegen die Vorstellung gewehrt, Frauen seien den Männern unterlegen. Im Alter von 13 Jahren half sie, einen lokalen Jugendklub zu gründen. Sie arbeitete als Freiwillige bei Habitat, einem Hilfswerk für würdiges und gesundes Wohnen. Sie gründete eine Vereinigung für Weberinnen und gab dort Kurse im Kochen und im Nähen. Obwohl sie keine weiterführenden Schulen besuchte, wurde sie in Concepción zu einer bekannten Person.
Irma Dolores Hernández, Leiterin des Frauenbüros
Den Frauen eine Stimme geben
Als die Gemeinde eine Leiterin für das Frauenbüro suchte, bewarb sich Irma und wurde zu ihrer eigenen Überraschung engagiert. Sie war 36 Jahre alt, kämpferisch, und sie hatte sich eine zentrale Aufgabe gestellt: Sie wollte die Fähigkeiten und das Selbstbewusstsein der Frauen stärken und all jenen eine Stimme geben, die in Guatemala keine haben. Den Frauen, den Jungen und den Indigenen. Sie alle sollten lernen, sich öffentlich zu äussern und sich gegen den Spott oder die Widerstände der Männer, Älteren, Einflussreichen durchzusetzen.
Genau das sind auch die Ziele des Projekts von Helvetas. In den Kursen lernte Irma, das Büro für Frauenfragen zu organisieren und die Finanzierung zu sichern. Heute ist ihr Büro eingerichtet und sie hat ein Budget für ihre Veranstaltungen. Am Vormittag berät sie Frauen, die mit ihren Problemen zu ihr kommen. Alkoholismus, Gewalt, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Untreue und Scheidungen. Am Nachmittag besucht sie die Aussendörfer und spricht dort über häusliche Gewalt, Erziehung und über die brachliegenden Fähigkeiten von Frauen. Sie ermuntert alle, an Versammlungen aktiv zu werden, und sie organisiert Kurse gegen die Angst, vor Publikum zu sprechen.
Irma hat diese Angst schon lange verloren. Wenn sie aufsteht und messerscharf argumentiert, können die etablierten Gemeindepolitiker nicht mithalten. Irma kennt die Regeln der Verwaltung und die fein verästelten Beziehungen in der Gemeinde. Könnte sie es sich vorstellen, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren? Sie wehrt ab: «Nicht jetzt. Es ist zu früh. Ich muss mich politisch noch besser vorbereiten. » Dann sagt sie: «Ich verlange von mir mehr, als ich von anderen verlange.» Sie schliesst die Bürotür hinter sich ab, und wir treten hinaus in die Helle des Marktplatzes. Es ist zwar Fronleichnam, eines der hohen Feste im katholischen Kirchenjahr, doch die Menschen kaufen und verkaufen, als sei es ein ganz gewöhnlicher Markttag. Es riecht nach gebratenem Fleisch und nach Maiskolben. Angetrunkene junge Männer rufen jungen Frauen etwas zu. Diese machen sich lustig über sie. Ein Bild aus gefärbtem Sägemehl, das alte Männer am Morgen zu Ehren des Leibes Christi auf die Strasse gestreut haben, ist verwischt und nicht mehr erkennbar.
Politische Schulung im Hinterhof
Wir gehen an der Kirche vorbei, hinein und hinauf in eine der Gassen, klopfen an und treten in einen Hinterhof, wo Flora, Olga und Susanne einer Gruppe von Frauen die kommenden Wahlen erklären werden. Im Hof stehen einige Stühle, ein grosses Gestell mit keimenden Saatkartoffeln, allerlei Behälter und Gerätschaften, die noch brauchbar sind oder auch nicht.
Die drei jungen Frauen haben sich vorbereitet. Sie haben eine fiktive Parteienliste zusammengestellt, fiktive Wahlplakate aufgehängt, auf denen nicht Parolen von Kraft und Einigkeit aufscheinen, keine Parteisymbole und keine Politikerköpfe, sondern bekannte Trickfilmfiguren. Klapperschlange, Löwe, Schwein, dazu die Katze aus dem Dorf der Schlümpfe. Es ist nicht als sarkastischer Kommentar gedacht.
Draussen krachen die Böller, die hier jeden Feiertag begleiten. Wenn jemand an die Blechtür klopft, die zur Gasse hinausführt, scheppert es laut und fordernd. So muss es gewesen sein, damals in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als der General und Diktator Rios Montt zusammen mit der Armee einen erbarmungslosen Krieg gegen die Indigenen führte und jeder Knall, jedes laute Klopfen an eine Haustür die Leute zusammenfahren liess. Montts Krieg war geprägt von einer tiefen Verachtung für die Mayas, Garífunas, Xunicas und für all die anderen Völker des Landes. Einer Verachtung, die die lateinamerikanische Gesellschaft seit der Eroberung durch die Spanier prägt und die bis heute anhält.
Im vollgestellten Hinterhof in Concepción Chiquirichapa ist diese Verachtung weit, sehr weit weg. Olga, Susanne und Flora stehen selbstbewusst und lächelnd vor ihren Zuhörerinnen, von denen einige so alt sind wie ihre Mütter. «Wir haben Rechte», sagt Flora. «Wir haben das Recht zu reden und das Recht, uns zu versammeln.» Die Frauen nicken. «Wir haben das Recht, auf die Gemeinde zu gehen und Trinkwasser zu fordern», fährt Flora fort. «Wir haben das Recht, unsere Kinder in die Schule zu schicken. Und wir haben das Recht zu wählen.» Ihre Stimme ist fest. Die Zuhörerinnen nicken. Die Worte kommen an. «Ich war schüchtern, sehr schüchtern», erzählt Flora später. In der Schule habe sie eine Riesenangst davor gehabt, dass die Lehrerin sie zur Wandtafel rufen könnte, damit sie den Mitschülerinnen und -schülern etwas erkläre. «Ich schwitzte, und manchmal weinte ich», sagt sie.
Flora Beatriz Cabrera Lorenzo, Aktivistin und Erwachsenenbildnerin
Selber denken ist Pflicht
Flora Beatriz Cabrera Lorenzo ist in einer vielköpfigen Kleinbauernfamilie aufgewachsen und musste ihren Wunsch, Psychiatrie zu studieren, schon früh begraben. In der grossen Familie war kein Geld da für Studien, und der Vater fand, vor allem für ein Mädchen genüge es, die Grundschule zu besuchen. Mit Unterstützung ihrer kämpferischen und selbstbewussten Mutter konnte sie immerhin die bescheidene Ausbildung zur Unterstufenlehrerin machen, und dank Kursen von Helvetas ist sie heute Erwachsenenbildnerin und bei der Gemeinde angestellt.
Flora bewundert Irma, die Lehrerin und Mentorin einer neuen Generation von jungen Frauen. «Meine Freundinnen und ich konnten durch die Türen gehen, die Irma für uns geöffnet hat», sagt sie. Jetzt, im Alter von 22 Jahren, versucht sie in einem Hinterhof von Concepción Chiquirichapa, auch anderen Frauen Türen zu öffnen. «Wir vertrödeln unsere Zeit damit, Telenovelas zu schauen, dabei wäre es gut, manchmal auf die Nachrichten umzuschalten», sagt sie den Frauen im Hinterhof. Für die Wahlen müsse man informiert sein, nur wenn man gut nachdenke, mache es Sinn, an den Wahlen teilzunehmen. Und sie schliesst: «Nachdenken ist eine Pflicht, auch unserem Volk gegenüber.»
Wovon Flora hier nicht spricht, sind die grundsätzlichen Zweifel, die auch sie manchmal verfolgen. Guatemala geht es nicht gut. Die Kriminalität grassiert. Drogen. Entführungen. Raubüberfälle. Die Mordrate ist eine der höchsten der Welt. Die Aufklärungsrate für Gewaltverbrechen liegt nahe bei null. Immer häufiger nehmen die Leute das Gesetz in die eigenen Hände. Meldungen über Lynchmorde an vermeintlichen Delinquenten häufen sich. Viele richten ihre Verzweiflung auch gegen sich selbst. Allein in Concepción Chiquirichapa, erzählt Irma, haben sich im letzten Jahr sechs Menschen umgebracht. Mädchen, die viel zu früh ungewollt schwanger wurden. Männer und Frauen, die unter der Schuldenlast zusammenbrachen. Jugendliche, die dem engen Regime bei sich daheim nicht entkommen konnten.
Aus dem Schatten treten
Besserung ist nicht in Sicht. Die meisten Politiker, die in diesem Jahr bei den nationalen Wahlen antraten, wollten möglichst nahe an die Geldquellen des Staates herankommen. Staatsaufträge werden nicht an die Besten vergeben, sondern an die Vertrauten eines Ministers oder Bürgermeisters. «Ich sehe nur Politiker, die an sich selbst denken», sagt Flora. Sie will es anders machen und aus dem Schatten heraustreten, der den Frauen armer Familien zugedacht ist. Vor einigen Wochen hat sie daheim angekündigt, dass sie in die lokale Politik einsteigen wolle. Es war an einem Abend im Juni. Die Frauen und Mädchen sassen zum Essen um den Herd herum, der Vater sass allein am Tisch.
«Ich will mich in die Entwicklungskommission unseres Dorfes wählen lassen», sagte Flora in die stille Küche hinein. Der Vater reagierte gereizt: «Du meinst also, dass Frauen das Dorf dirigieren sollen?» «Warum sollen wir Frauen das nicht können? Haben wir etwa keinen Kopf, mit dem wir denken können?» «Wenn schon die Männer scheitern, wie sollen es da die Frauen schaffen?», insistierte der Vater. «Wir haben die gleichen Rechte wie ihr», gab Flora zurück und ärgerte sich, dass ihr Vater so rückschrittlich denkt. Flora ist eine jener Frauen, die in ihrer nächsten Umgebung erleben, woran das Land krankt. Sie spürt die Resignation, mit der alle die Politik kommentieren, und hört Geschichten von der Unzuverlässigkeit der Behörden. Sie erlebt den alltäglichen Machismo. Als Mädchen hat sie sich empört, wenn ihr Nachbar seine Frau misshandelte, und als junge Frau hat sie in den Kursen von Helvetas gelernt, diese Empörung in Aktion umzusetzen. «Autoestima» war das wichtigste Wort, das sie aus ihrem ersten Kurs mit nach Hause nahm. Selbstachtung. Selbstwertgefühl. Das Gefühl, Fähigkeiten zu haben – und diese einsetzen zu können.