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Markt der Hoffnung

Der Libanon ist auf importierte und teure Nahrungsmittel angewiesen. Mit Hilfe von Helvetas stellen immer mehr Bauernbetriebe auf nachhaltige Landwirtschaft um.
TEXT: Matthias Herfeldt, Iris Nyffenegger - FOTOS / VIDEOS: Dalia Khamissy - 15. Juli 2022
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«Ich kenne jede einzelne Tomate. Hier zum Beispiel war eine erntereif. Sie ist nicht mehr da, jemand muss sie stibitzt haben.» Tony Khalil steht in einem seiner Gewächshäuser. Der 47-Jährige kennt sie wie seine Westentasche und beobachtet genau, wie seine Tomatenstauden wachsen, wie sie auf das Klima, den Dünger oder Wasser reagieren. Nichts will er mehr dem Zufall überlassen. Jetzt, wo er gelernt hat, wie er effizienter anbauen kann, schaut er noch genauer hin. «Das ist mein grösster Feind», sagt er lächelnd, als eine winziges Fluginsekt vorbeischaukelt. Der Befall durch den sogenannten Tomatenminierer kann zum Verlust fast der gesamten Ernte führen und damit zum Ruin. Früher hat Tony schweres Geschütz gegen ihn aufgefahren. Statt Chemie nutzt er heute Mottenfallen, die er von Helvetas erhalten hat.

Tony ist ein friedfertiger Mensch. Er sorgt nicht nur liebevoll für seine Familie und für die aus Syrien geflüchteten Frauen und Männer, die als Gastarbeitende bei der Ernte mithelfen. Er kümmert sich auch um die anderen Bäuerinnen und Bauern im Dorf und um sein Land. «Die Wirtschaftskrise im Libanon macht uns Angst, wir alle hier brauchen jede verfügbare Hilfe – auch aus dem Ausland.» Libanon. Ein Land mit einer bewegten Geschichte. Schmelztiegel verschiedenster Völker und Religionen. Bürgerkrieg von 1975 bis 1990. Massenproteste gegen die korrupte Classe politique. Und gleichzeitig ein Land, das dank seiner landschaftlichen und kulturellen Vielfalt lange ein beliebtes Reiseziel war.

Eine Autostunde von der Hauptstadt Beirut entfernt, in der Region Chouf, liegt auf einem Hügelzug das Bauerndorf Majdel El Meouch. Terrassierte Felder unterhalb der Siedlungen, teilweise mit Gewächshäusern bestückt, teilen die semi-aride Landschaft in kleine Parzellen. Auf einem der Felder diskutiert Tony mit Hanna Mikhael, einem Agronom von Jibal, der lokalen Partnerorganisation von Helvetas. Hanna begleitet Tony bei der Umstellung seiner Gemüseproduktion auf eine nachhaltige Landwirtschaft.

 

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Der Agronom Hanna Mikhael untersucht mit Tony einen Schädlingsbefall. Tony bekämpft heute Schädlinge mit natürlichen Mitteln. © Dalia Khamissy

Der Ideensäer und Ernteberater

Hanna Mikhael, 27, ist Agronom und arbeitet bei Jibal, der Partnerorganisation von Helvetas im Libanon. Er berät Bauern, naturnah zu produzieren. Seine Leidenschaft für nachhaltige Landwirtschaft reicht weit über seine Arbeit hinaus: Mit einer Handvoll befreundeter Agronominnen und Agronomen lancierte er 2020 während der Proteste im Land privat die Facebook-Gruppe «Izraa» (Pflanze!). «Es war Zeit für eine Revolution in allen Bereichen der Gesellschaft. Wir wollten, dass Bauern Fragen stellen und ihre Produkte verkaufen können», erklärt Hanna. Einmal habe ein Bauer innert kurzer Zeit zwei Tonnen Äpfel über die Gruppe verkaufen können. Der Erfolg war riesig und die Nachfrage wurde durch den Corona-Lockdown noch verstärkt. Heute hat die Plattform rund 140’000 Mitglieder – vorwiegend aus dem Libanon, aber auch aus Nachbarländern und Übersee. Hanna und seine Freunde arbeiten ehrenamtlich, aus Überzeugung. Auch steigen Bauernbetriebe dank Izraa auf bio um. Diese Erfolge und das grosse Netzwerk sind ihnen Lohn genug. An Ideen mangelt es den Izraa-Initianten nicht. Gerne würden sie eine interaktive Karte mit allen nachhaltigen Produzenten im Libanon erstellen. Und angesichts der Ernährungskrise wegen des Ukraine-Kriegs kann sich Hanna vorstellen, nach Alternativen zu Weizen zu forschen. Eine Anfrage eines ehemaligen Professors hat er schon erhalten.

Günstiger hergestellte Bio-Tomaten

«Jibal hat mir sehr geholfen. Ohne sie wäre ich bankrott gegangen», sagt Tony offen. Mit der Wirtschaftskrise im Land und der galoppierenden Inflation seit drei Jahren, ist das Leben für die meisten Menschen im Land ein Kampf ums Überleben geworden. Die Bauernfamilien verkaufen ihre Ernte im ständig schwächer werdenden libanesischen Pfund. Dünger und Pflanzenschutzmittel, Benzin und andere Inputs aber müssen sie in US-Dollar bezahlen, der Wechselkurs verschlechtert sich kontinuierlich.

Dank dem Projekt von Helvetas haben Tony und die anderen Bäuerinnen und Bauern im Dorf wieder eine Perspektive: Teure importierte Hilfsmittel wie die Plastikplanen für die Gewächshäuser, Saatgut oder landwirtschaftliche Werkzeuge haben sie erhalten. Kunstdünger und Pestizide brauchen sie nur noch selten, denn sie haben in Schulungen und individuellen Beratungen gelernt, auch ohne gute Erträge zu erwirtschaften. «Wir schonen jetzt die Umwelt und unsere Gesundheit», sagt Tony. Er stellt inzwischen seinen eigenen Kompost her und produziert aus Seife und Pflanzenteilen natürliche Spritzmittel gegen Schädlinge. Er achtet auch auf die Fruchtfolge und produziert in Mischkulturen, um optimale Resultate zu erzielen. «Früher habe ich nur Tomaten und Petersilie angebaut», erklärt Tony. Heute zeigt er stolz seine Felder und Gewächshäuser, wo unterschiedliche Farben leuchten – es gedeihen dort Mais, Auberginen, Bohnen, Gurken, Blumenkohl, Zucchini und Peperoni.

Die meisten Bäuerinnen und Bauern wissen aber kaum, was auf dem Markt gefragt ist und was wann gute Preise erzielt. «Der grösste Influencer ist jeweils der grösste Bauer im Dorf», drückt es Hanna modern aus. Wenn dieser Tomaten anbaut, machen das alle anderen auch, weil sie hoffen, ebenso erfolgreich zu werden.

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Tony baut heute zwei Sorten Tomaten an, darunter die "klassische amerikanische Sorte".  © Dalia Khamissy
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Frisch ab der Quelle: Oberhalb des Dorfes Majdel El Meouch sprudelt Trinkwasser aus dem Berg.  © Dalia Khamissy
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Tony bewirtschaftet im Dorf Majdel El Meouch, rund eine Autostunde von der Hauptstadt Beirut entfernt, drei Hektaren Land. Darauf stehen mehrere Gewächshäuser.  © Dalia Khamissy
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Dank der Beratung durch Jibal, einer lokalen Partnerorganisation von Helvetas, benutzt Tony heute natürliche Pflanzenschutzmittel und Dünger. Hier zum Beispiel Schwefel, um die Anzahl Blütenknospen zu erhöhen.  © Dalia Khamissy
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Markttag: Tony und die anderen Bauern haben Gemüse geerntet, das sie am Saison-Markt in Beirut verkaufen.
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Verliebt im Kongo

Im Gewächshaus läuft der Schweiss – bis zu 50 Grad heiss wird es hier. Im Eiltempo streift eine flinke Hand durch die Bohnenstauden und füllt die Kiste mit den kostbaren Hülsenfrüchten. Jetzt, wo kaum mehr Fleisch auf den Teller kommt, sind sie ein gefragter Proteinlieferant. Poupette Mpia Lobeye hilft ihrem Mann Tony und den Angestellten regelmässig – seit der Krise noch mehr, weil sich die Bauernfamilie kaum mehr zusätzliche Erntehelfer leisten kann.

Die 36-jährige Poupette spricht mittlerweile ganz passabel Arabisch. Sie kommt aus dem Kongo, wo Tony einst in der Forstwirtschaft gearbeitet und sich in sie verliebt hat. Inzwischen leben sie mit ihren drei Kindern wieder im Libanon und bewohnen mit Tonys Mutter Ilham dreieinhalb Zimmer im Erdgeschoss eines einfachen Hauses. «Die erste Zeit hier war sehr hart», erinnert sich Poupette. «Ich kam mir anfangs vor wie ein Kind. Ich verstand die Sprache nicht. Und vieles war anders, zum Beispiel die Art, das Essen zuzubereiten.» Vor allem vermisste Poupette ihre Mutter.

Sich als afrikanische Frau in einem libanesischen Dorf zu integrieren, war eine Herausforderung. Selbst Tonys Mutter gibt zu: «Zuerst war ich gar nicht glücklich über Tonys Wahl. Aber heute habe ich Poupette sehr gerne.» Augenzwinkernd meint Tony: «Meine Frau versteht sich besser mit meiner Mutter als ich.»

 

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Nicht immer war der Familientisch so reich gedeckt. 2015 hatten starke Winde Tonys erste Gewächshäuser und damit Existenzgrundlage zerstört und die Familie musste zeitweise hungern. © Dalia Khamissy

Direktverkauf – ein gutes Geschäft

Die Bauern von Majdel El Meouch brauchen dringend höhere Einkünfte, um ihre Familien zu ernähren. Bis anhin konnten sie sich kaum um die Vermarktung ihres Gemüses kümmern. Ihre Produkte verkauften sie an Zwischenhändler. Diese brachten die Ware nach Beirut zu Kleinhändlern. Drei Viertel der Wertschöpfung bleiben damit auf der Strecke – ein schlechtes Geschäft sowohl für die Produzenten als auch für die Kundinnen, die wegen der Krise einen immer höheren Anteil ihres Einkommens fürs Essen aufwenden müssen. Das HelvetasProjekt, das von der Glückskette unterstützt wird, setzt deshalb nicht nur bei der Produktion, sondern auch beim Vertrieb an. Es will nicht nur den Bauern helfen, sondern auch den Menschen in Beirut.

Nach der Explosion im Beiruter Hafen vor zwei Jahren war die Not so gross, dass Helvetas den Bauernfamilien ihre Erzeugnisse abkaufte und sie an Bedürftige in der Stadt abgab. Inzwischen kommen die meisten wieder selber über die Runden, wenn auch mehr schlecht als recht. Günstige und gesunde Gemüse und Früchte aus dem eigenen Land sind für sie eine grosse Hilfe. Deshalb hat Helvetas mit dem Partner Jibal einen Markt lanciert, mitten im Zentrum von Beirut. Den «Souk El Mawsam», den Saison-Markt.

Er fand im Juni zum allerersten Mal statt. Tony und sein Angestellter sind an diesem Tag früh aufgestanden, haben das letzte Gemüse geerntet, sortiert und in die Verkaufskisten gelegt. Die Bauern aus dem Dorf haben sich für die einstündige Fahrt nach Beirut zusammengetan, um teures Benzin zu sparen. Unterwegs hält der Wagen noch einige Male an, um hier Kohlköpfe zu laden und dort Gewürze. Man wünscht sich eine sichere Reise und auf dass alle wohlbehalten und in Frieden zurückkehren mögen, wie die Verabschiedungsformel auf Arabisch heisst.

 

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Die krisengebeutelte Bevölkerung von Beirut kann sich am von Helvetas mitinitiierten Saison-Markt in Beirut mit gesundem und günstigem Gemüse eindecken. © Dalia Khamissy

Ein Markt für alle

Der Markt findet auf dem Gelände einer ehemaligen Tankstelle statt. Hier hat eine Gruppe junger Libanesinnen und Libanesen nach der Explosion im Hafen angefangen, gratis Mahlzeiten an die Bevölkerung zu verteilen. Die «Nation Station» – so haben sie ihr Projekt genannt – ist im ganzen Quartier für ihr soziales Engagement bekannt.

Als der Pick-up vorfährt, warten bereits Leute. Schon bald herrscht reges Stimmengewirr, ein Kommen und Gehen, denn Preise müssen verglichen werden mit denjenigen in den umliegenden Läden. Carmen Hanna hat entschieden: «Ich komme hierher, weil die Produkte frisch und günstiger sind.» Die Hafenexplosion hat die Wohnung ihrer Familie zerstört. Seither leidet ihre Gesundheit. «Unser Leben wurde auf den Kopf gestellt: Zuerst die Revolution, dann Corona und die Explosion – warum das alles?», fragt sie verzweifelt. Viele Menschen kaufen angesichts der horrenden Teuerung nur gerade das Nötigste ein, leben von der Hand in den Mund. Fladenbrot kostete vor der Krise umgerechnet einen Franken – heute neun Mal mehr. Und der Preis für Trinkwasser hat sich vervierfacht. Eine Witwe erzählt, dass sie heute nur noch zwei Orangen kauft statt eines Kilos. Fleisch und Butter hat sie von ihrem Speiseplan gestrichen.

hr Abendessen sei ein Stück Brot mit etwas Käse. «Ich habe immer Angst, dass das Gas nicht reicht, darum koche ich nur einmal pro Woche und esse dann mehrere Tage davon. Zum Beispiel die Bohnen, die ich eben gekauft habe», erklärt sie. Der Markttag geht zu Ende, die meisten Stände sind leergekauft. Es war ein ereignisreicher Tag für Tony und die anderen Bauern aus seinem Dorf. Und es war erst der Anfang. Jeden Dienstag werden sie künftig hier stehen und ihre Ernte verkaufen. Und zusammen mit Helvetas und Jibal planen sie zusätzlich auch den Direktverkauf an soziale Lebensmittelläden, die ihre Ware ohne Profit zum Einstandspreis an die gebeutelte Bevölkerung Beiruts verkaufen. Auch Hotels und Spitäler wollen sie beliefern. Damit es aufwärts gehen kann – auf dem Land und in der Stadt. Und damit sich die Menschen wie Carmen oder die Witwe wieder gesünder ernähren können.

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«Wir schonen jetzt die Umwelt und unsere Gesundheit»

Tony Khalil, Bauer

Der Libanon im Kontext

Einst «Schweiz des Nahen Ostens» genannt, steht der Libanon heute am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Die seit Jahren prekäre Lage im krisengeschüttelten Land hat sich mit der verheerenden Explosion im Hafen Beiruts im August 2020 und der Corona-Pandemie noch zugespitzt. Das libanesische Pfund hat in den letzten drei Jahren 90 Prozent seines Wertes verloren. Strom, Benzin und sogar Lebensmittel sind für viele Menschen unerschwinglich geworden. Über drei Viertel der Bevölkerung sind von Armut betroffen, und viele können nur überleben, weil sie von Angehörigen aus dem Ausland unterstützt werden. Im Oktober 2019 demonstrierten Libanesinnen und Libanesen gegen angekündigte neue Steuern und Korruption und forderten den Rücktritt der Regierung. Die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen sind komplex und basieren zum Teil auf Seilschaften, die auf den libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) zurückgehen. Damals wie heute stehen sich diverse Fraktionen von Muslimen und Christen, Drusen und anderen gegenüber. Im Mai 2022 errangen Unabhängige einige Parlamentssitze. Zarte Vorboten eines Wandels?

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Der Markt findet auf dem Gelände einer ehemaligen Tankstelle in Beirut statt. © Dalia Khamissy
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Dank Direktverkauf stimmt der Preis: die Bauern verlieren nichts an Zwischenhändler und die Kundinnen und Kunden können günstig einkaufen.
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Bohnen sind in Zeiten, wo sich viele kein Fleisch mehr leisten können, ein wertvoller Proteinlieferant.  © Dalia Khamissy
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Die wirtschaftliche Situation im Libanon ist so katastrophal, dass viele Menschen nur noch das absolut Nötigste für sich und ihre Familie einkaufen. 
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Street vendors carry a crate filled with bread in Abobo, a suburb of Abidjan, Ivory Coast. | © Keystone/AFP/Issouf Sanogo

Angriff auf die Ärmsten

Der Ukrainekrieg vergrössert Hunger und Armut in der ganzen Welt. 
© KEYSTONE/AFP/EDUARDO SOTERAS

Helvetas fordert entschiedenes Handeln in der Ernährungskrise

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