Als ich aus dem Zug steige, weht mir ein laues Lüftchen auf die Wangen. Die Sonne scheint, und auf dem Bahnsteig wimmelt es von Menschen, die unterwegs sind, einen Kaffee zum Mitnehmen kaufen oder einen lieben Menschen zum Abschied umarmen. Es fühlt sich an wie ein ganz normaler, schöner Herbstnachmittag. Doch der gewölbte Bahnhof von Charkiw ist alles andere als gewöhnlich: Nur vierzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, können die Luftschutzsirenen hier jederzeit losgehen. Wenn sie losgehen, checken die Menschen ganz nüchtern ihre Apps. Es handle sich um einen Drohnenangriff, schreibt mir Maksym, der Sicherheitsbeauftragte von Helvetas, als er vorschlägt, in Deckung zu gehen. Meine eigene Handy-App bellt Anweisungen: Sofort in den Schutzraum gehen!
Die kalte Februarluft war bitter, als letztes Jahr eine Rakete in ein mehrstöckiges Wohnhaus einschlug. Dabei wurde Ophelias Wohnung zerstört. Die Trümmer aus Beton und Glas verschlangen auch ihre Schneiderei im selben Gebäude. Wenigstens konnten Ophelia und ihr Mann Andrej in seine Bauwerkstatt umziehen. Dort war Platz, denn Andrejs Fliesenlegerbetrieb war mit Beginn der Invasion zum Stillstand gekommen.
Ophelia und Andrej nennen Charkiw ihr Zuhause – an Weggehen dachten sie nie. Doch als ihre Ersparnisse zur Neige gingen, mussten sie einen Weg finden, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Mit ihren eigenen Rezepten begann Ophelia, Fertiggerichte herzustellen und zu verkaufen, die alle überzeugten, die sie probierten. Für den Aufbau ihres Geschäfts brauchte das Paar jedoch ein kleines Startkapital, um eine richtige Küche einzurichten. Doch trotz ihres Tatendrangs konnte ihnen keine Bank helfen. Charkiw liegt in der «roten Zone», und die Vergabe von Krediten ist für etablierte Finanzinstitute schlicht zu riskant.
Deshalb wandten sie sich an Helvetas und deren Partner, den Arbeitgeberverband von Charkiw. Ophelia und Andrej erhielten durch diese Unterstützung eine Geschäftsberatung und einen Kredit von 2’500 Franken. Mit dem Material, das Andrej davon kaufte, baute er den Grossteil der Küche selbst.
«Ich kann gar nicht genug von diesem Induktionsherd bekommen», freut sich Ophelia. Die Küche ist blitzsauber, die Belüftung funktioniert hervorragend, und der Generator steht bereit, sich einzuschalten, falls der Strom ausfällt. «Sie haben es geschafft, die hohen Hygienestandards einzuhalten», erklärt mir Anastasia Kostiuchenko, die Programmleiterin von Helvetas Ukraine. Die Lebensmittel sind ordentlich in gut beschrifteten Gläsern und vakuumversiegelten Beuteln verpackt. Das gelb-blaue ukrainische Band ist mehr als nur eine Zierde – es ist ein Statement.
Der Unternehmergeist des Paares hat sich durchgesetzt, trotz der harten wirtschaftlichen Realität so nahe an der Frontlinie. Sie haben ein virtuelles Geschäft in den sozialen Medien aufgebaut und verkaufen ihre Produkte über die erstaunlicherweise immer noch effiziente ukrainische Post. Ophelia hat bereits einen Mitarbeiter eingestellt. Stolz zeigt sie den Raum, in dem sie nun eine Erweiterung der Küche plant, die diesmal aus dem eigenen Cashflow ihres Unternehmens finanziert werden soll.
Der Abend ist noch lau, als wir uns verabschieden, und mein Bauch quietscht vor leberwurstbedingter Zufriedenheit. Während die Menschen in Charkiw sich unter den Bomben an ein normales Leben klammern, können sie bestimmt auch etwas von dem guten Zeug gebrauchen. Zum Glück bleibt Ophelias Küche genau dort, wo sie ist.