Wer Yezinas Geschichte verstehen will, muss nach Tanqua fahren. Zwei Busstunden von Bahir Dar gegen Norden, dann zu Fuss querfeldein über steinharten Boden und ausgetrocknete Bachläufe. Eine Stunde ist es für Yezina. Und das nur, weil die kleingewachsene Frau trotz einer Gehbehinderung so läuft, wie sie ihr ganzes Leben lebt: flink, unbeirrt und ausdauernd.
Im Weiler angekommen, erfährt Yezina, dass ihre verwitwete Mutter zu einer Beerdigung gerufen wurde. Das einfache Haus aus Ästen, Brettern und Lehm, in dem Yezina aufwuchs, ist an diesem Tag leer. Nur ein Kalb steht in der Küche mit der offenen Feuerstelle.
Schwestern aus unterschiedlichen Welten
Falls Yezina enttäuscht ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Das Wiedersehen mit ihrer Schwester Mitikie ist umso herzlicher – vier Küsse, Lachen. Sie setzen sich auf das Bett im Haus der Mutter, im dunklen Raum stehen Vorratsbehälter aus Lehm, die Utensilien für Haushalt und Feld sind unter dem Wellblechdach befestigt.
Hier haben Yezina und Mitikie früher geschlafen. Die beiden sind sich nah – und leben doch in unterschiedlichen Welten. Mitikie ist im Dorf geblieben, sie ging nie zur Schule, ist heute 35 und hat fünf Kinder, Feld- und Hausarbeit sind ihr Alltag. Yezina wirkt dagegen grossstädtisch, mit ihren Kleidern, dem sorgfältig geflochtenen Haar, erst recht, wenn sie übers Handy die Betreuung ihrer Tochter zuhause organisiert.
Sie hängt an ihrem Dorf und den Menschen. Aber man spürt, sie ist auch stolz, als das hierher zurückzukehren, was sie heute ist: eine Frau auf eigenen Beinen mit einer Familie, einer Arbeit, einer Zukunft.
Dass die energische junge Frau in der Stadt Bahir Dar ein eigenes kleines Schneidergeschäft führt, ist alles andere als selbstverständlich. Die Zukunft sah nicht vielversprechend aus, als Yezina vor 27 Jahren als Zweitjüngste von neun Geschwistern zur Welt kam.
Als Kleinkind erkrankte sie schwer, wahrscheinlich an Kinderlähmung, ihr Bein wurde deformiert. Das Gehen bereitet ihr seither grosse Mühe. Doch ausgerechnet ihr Handicap sollte zu einer Chance für sie werden. «Weil Feldarbeit nicht in Frage kam, war ich die Einzige in der Familie, die mein Vater zur Schule schickte», erzählt sie. Alle ihre Geschwister können weder lesen noch schreiben.
Für faire Bildungschancen
Die Hauptstadt der Region Amhara, in deren Grossraum über eine halbe Million Menschen leben, ist bekannt für ihre Inselklöster auf dem Tana-See und die Wasserfälle des Blauen Nils. Heute erlebt die Stadt aber auch einen enormen Zustrom junger Menschen vom Land, womit Bahir Dar zu den am schnellsten wachsenden Städten Äthiopiens gehört.
Was das heisst, zeigt sich jeden Morgen an den grossen Kreuzungen der Stadt: Hunderte warten am Strassenrand in der Hoffnung, ein Lastwagen möge anhalten und sie auf eine der Baustellen mitnehmen. Die meisten warten vergebens.
Ein Abschluss in drei Monaten
Dass Yezina sich heute nicht mehr mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten muss, ist dem Berufsbildungsprogramm zu verdanken, das Helvetas 2015 lancierte. Plakate machten das Angebot bekannt, bei der Stadt erfuhr Yezina mehr darüber: Da gab es eine dreimonatige Berufsausbildung für junge Menschen aus bedürftigen Familien. Und ganz besonders für benachteiligte Menschen wie sie: Frauen mit einer Behinderung, Alleinerziehende oder AIDS-Waisen.
Yezina besuchte einen der ersten Lehrgänge und absolvierte nach drei Monaten erfolgreich die staatlich anerkannte Abschlussprüfung. Nicht nur sie: Von den rund 1’100 Personen – davon fast vier Fünftel Frauen –, die 2015/16 auf diesem Weg ausgebildet wurden, haben 90 Prozent die Prüfung bestanden und 76 Prozent fanden bereits kurz nach Lehrabschluss eine solide Anstellung oder machten sich erfolgreich selbständig.
Ein Grund für die eindrückliche Bilanz ist die erfolgsbasierte Entschädigung der Lehrinstitute: Die Ausbildungsstätten werden erst vollständig entlöhnt, wenn die Absolventinnen und Absolventen ein gesichertes Einkommen erwirtschaften.
Chalachew Gebeyehu, Helvetas-Projektleiter
Für faire Bildungschancen
Bislang werden zehn Berufe angeboten, darunter Möbelschreinerei, Gastgewerbe & Hotellerie, Automechanik, das Coiffeur-Handwerk – und die Schneiderei.
Kundenservice inbegriffen
Vor knapp einem Jahr ist Yezina ins Geschäft eingestiegen. Es ist kein wohlhabender Stadtteil, in dem sie lebt und arbeitet, aber ein lebendiger. Frauen rösten vor ihren Häusern am Strassenrand Getreide, andere sitzen auf niedrigen Bänken im Freien.
Die Strasse, in der Yezinas Geschäft liegt, ist aus gestampfter Erde, sie ist gesäumt von einfachen Häuschen aus Wellblech und Brettern. Eine Wäscheleine ist quer über der Strasse gespannt, mit Autoverkehr rechnet hier niemand. «Die Leute haben nicht viel Geld», sagt auch Yezina. Genau deshalb war ihr klar, dass Schneiderei das Richtige ist: «Kleider brauchen die Menschen immer, und haben sie zu wenig Geld, lassen sie alte Sachen flicken.» Yezina erzählt, wie es ihr mit dem neuen Geschäft läuft – und was sie tut, damit die Kundinnen und Kunden zu ihr kommen, statt zu anderen zu gehen.
Yezina hat eine eigene Marketingstrategie: Wer nur einmal ein Kleidungsstück zum Flicken bringt, bezahlt mehr als Stammkunden. Genau umgekehrt ist es bei neuen Kleidern: Wer erstmals bei ihr schneidern lässt, profitiert von einem Kennenlernrabatt.
Doch diesmal bleibt Yezina hart. Eine grossflächige Stickerei ist für weniger als 600 Birr, 27 Franken, nicht zu haben. Freundlich, aber bestimmt erklärt sie Anchinalu Getinet, wie gross der Aufwand für sie ist. Für die Nachbarin ist das trotzdem zu viel. Sie möchte eines der traditionellen äthiopischen Gewänder, wie sie die Frauen an Festen oder zur Kirche tragen, nähen und besticken lassen.
Die Verhandlungen sind wortreich. Schliesslich einigen sie sich auf ein einfacheres Muster für 500 Birr. Yezina hat sich einen Auftrag und das Vertrauen einer neuen Kundin gesichert.
Ein Lächeln für die Kunden
Jeden Morgen stellt Yezina ihre Nähmaschine kurzerhand vor der kleinen Hütte auf die Strasse, aus Platzmangel, aber auch, damit jeder sieht: Ich nähe für euch! Dass sie oft ihre eigenen Designs trägt, versteht sich von selbst. Wie sie es anstellt, dass die Kundinnen zu ihr kommen? «Guter Service», sagt Yezina.
Yezina Zeru, Geschäftsfrau
Was am Ende des Monats übrig bleibt, spart sie, und sie möchte beim Frauenfonds ein zinsloses Darlehen für eine bessere Nähmaschine beantragen. Neben Fachwissen umfassen alle Ausbildungen im Helvetas-Programm auch ein Modul in Geschäftsführung, damit Absolventinnen und Absolventen das Wichtigste über Marketing, Buchhaltung und Kundenservice lernen, aber auch, wie man am sichersten spart und einen Businessplan erstellt.
Sie erfahren zudem, dass sie dank ihrem anerkannten Abschluss bei der Stadt zinslose Investitionsdarlehen oder eine subventionierte Geschäftsräumlichkeit beantragen können.
Für die jungen Frauen und Männer geht es um weit mehr als um Fachwissen. Sie brauchen eine Perspektive, um ihren Platz im Leben zu finden. Das gilt besonders für die Frauen.
Oft bewahrt sie eine Ausbildung vor einer frühen Verheiratung. Mit einem eigenen Einkommen gewinnen sie in der Familie an Status und Mitspracherecht. Das war auch bei Yezina so, wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen.
Yezina Zeru, Schneiderin, Ehefrau und Mutter
Sie liess sich davon nicht beirren. «Ich wusste, dass Tadele der Richtige ist», sagt Yezina über ihren heutigen Ehemann.
Tadele Desta hat ebenfalls eine Behinderung: Seine Hand ist gelähmt, das Sprechen bereitet ihm Mühe. Dennoch flickt auch er Kleider, mit dem Handrücken gelingt es ihm, den Stoff unter das Füsschen der Maschine zu schieben. An der Nähmaschine hatte Yezina ihn zum ersten Mal gesehen. Er gefiel ihr.
Heute sind Yezina und Tadele mit dem ansteckenden Lachen ein gutes Team, das alle Entscheide gemeinsam trifft. Und sie sind stolze Eltern der zweijährigen Yabsira. Ihr ganzes Bestreben gilt der Zukunft ihrer Tochter. Mitgeben will ihr die Mutter später vor allem eins: «Bildung, so viel wie nur irgend möglich.»