Teil 1: Eine Reise in die Karibik, aber nicht ins Paradies
In wenigen Stunden wechseln wir Welten. Wir verlassen die Schweiz, die nach einem nächtlichen Regenschauer wie frisch geputzt wirkt. Nach 18 Stunden Reise landen wir in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis. Daniel, der Helvetas-Chauffeur, empfängt uns am Flughafen-Ausgang.
Kaum unterwegs im kalt klimatisierten Auto, wäscht ein tropischer Regenguss auch hier den Staub von den Bäumen und verwandelt die steilen Strassen in Bäche und Flüsse. Die Menschen gehen ungeachtet ihres Weges – ohne Eile, ohne Regenschirm. Es wird schnell dunkel. Wir sehen die Umrisse der Hügel, in denen die Stadt eingebettet ist. Erst am nächsten Morgen entdecken wir die dicht gebauten Siedlungen, die an den steilen Flanken kleben.
Im Januar 2010 bebte in Haiti die Erde. Wie viele Menschen starben, weiss niemand, denn verlässliche Statistiken zur Bevölkerungszahl gibt es keine. Schätzungen zufolge kostete das Beben mindestens eine Viertelmillion Menschenleben, vielleicht auch eine halbe Million.
Heute, 2018, erkennt man in Port-au-Prince kaum mehr Spuren des Erdbebens. Einzig die vielen Baustellen und nur halb fertig gebauten Häuser lassen einen Rückschluss zu. Doch wir suchen nicht nach Spuren des Erdbebens. Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu treffen und ihre Geschichten anzuhören. Geschichten, die durch Helvetas-Projekte eine Wendung erfahren haben. Geschichten von Leben, die sich verändert haben – hoffentlich zum Besseren.
Und wir sind auch in einer für Helvetas ungewöhnlichen Mission unterwegs: Wir sollen im Naturschutzpark «Lagon des Huîtres», der «Austernlagune» im Süden des Landes, rosa Flamingos fotografieren. Und so steigen wir schon am Tag nach unserer Ankunft und nach einer Sitzung mit dem gesamten Team von Helvetas Haiti in den Landcruiser.
Der Strassenverkehr in der Stadt ist chaotisch; Regeln gebe es keine, erklärt uns jeder, den wir fragen. Auf dem Land wird es ruhiger. Wir fahren ins Departement Artibonite nördlich von Port-au-Prince, wo Helvetas mit verbesserten Wasserfassungen und Katastrophenprävention Spuren im Land und im Leben der Menschen hinterlassen hat. Links und rechts erstrecken sich Maisfelder, Bananenstauden ragen in den Himmel, Mangos hängen von den Ästen ihrer Bäume.
Am Strassenrand werden unter anderem Limetten, Zitronen, Avocado, Papaya, Lauch und saftig reife Mangos verkauft. Wir haben eine dankbare Reisezeit gewählt, denn es ist Regenzeit, und alles, was unter der Erde nach Wasser gelechzt hatte, spriesst und grünt jetzt. Die sanften Hügel in der Ferne sehen auf den ersten Blick tropisch karibisch aus. Ins Auge springt einzig, dass es kaum Bäume hat.
Doch von Nähe betrachtet, sind die Hügel verletzt: Der Regen hat die Erde weggewaschen und tiefe Furchen hinterlassen. Steine und teils Felsen verunmöglichen landwirtschaftliche Tätigkeiten. Was das für ein Land heisst, wo zwei Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebt und sich vom eigenen Mais, von Bohnen und Hirse ernährt, ist unschwer vorstellbar.
Aufforstung ist in Haiti eine der wichtigsten Tätigkeiten von Helvetas, denn nur so kann der Boden wieder gefestigt werden und sich Humus bilden. Und nur so können die Menschen von ihrem Boden auch leben. Doch nicht Helvetas forstet auf, sondern die Menschen, welchen Helvetas nähergebracht hat, wie sie ihre Lebensgrundlage verbessern können und welche Vorteile es hat, wenn Büsche und Bäume die Erde nicht nur zurückhalten, sondern auch nähren können. Ihr Schatten schützt zudem zarte Pflanzen, die den Speiseplan aufbessern.
Zusammen mit dem Projektleiter Jean-Michel Isma, kurz Isma genannt, treffen wir Jean-Jacques Fleurilus, der in den Hügeln oberhalb von Les Verrettes lebt. Fleurilus ist der «Ziehvater» vieler der Bäume, die hier die Hügel begrünen und Wasserläufe säumen. «Früher, vor dem Projekt, konnte ich die Menschen da drüben im Hang zählen, sie stachen hervor, denn es hatte nur etwa zehn Bäumchen. Heute ist alles so bewaldet, dass man die Menschen allenfalls noch hört, aber nicht mehr sieht», erzählt Fleurilus.
Und er betont nochmals: «Noch vor ein paar Jahren sah es hier aus wie in einer Wüste, die Erde war nackt. Heute pflege ich hier 120 Hektaren Wald.» Viele der Bäume hat er, Fleurilus, gezogen, denn er hat, seit Helvetas hier aktiv, ist eine «pépinière», eine Baumschule aufgezogen. Es ging darum, das Wassereinzugsgebiet in der Gegend vor weiterer Erosion zu schützen. Tobel wurden aufgeforstet, Hangterrassen verhindern heute, dass das Regenwasser zu schnell abfliesst und Bachschwellen bremsen die Erosion von Bachläufen.
«Wir setzten 30'000 Bäume für die Holz- und Kohleproduktion, denn die Leute müssen ja weiterhin etwas verdienen. Wir setzten auch 20'000 Fruchtbäume. Und wir setzten 20'000 Bananenstauden. Helvetas hat uns gut ausgebildet und aufgezeigt, wie wir leben und Einkommen erwirtschaften können, ohne der Natur zu schaden.»
Heute gibt Fleurilus sein Wissen gerne weiter, denn es ist ihm ein grosses Anliegen, dass der Erde, die die Menschen versorgt, Sorge getragen wird. «Es ist ein gutes Projekt, weil nicht Helvetas die Verantwortung für alles übernahm, sondern wir selbst die Verantwortung übernehmen mussten für unser Gebiet. Und heute fühlen wir uns hier verwurzelter als vorher.» Mit dem Geld, das Fleurilus verdient, bezahlt er, der knapp die obligatorische Schulzeit beendet hat, das Studium seiner Töchter.
Laut Isma ist der grösste Erfolg des Projekts die Sensibilisierung der Menschen. Früher hätten sie keinen Sinn darin gesehen, Bäume zu pflanzen, hätten nach Gratis-Setzlingen gefragt. Heute seien sich die Menschen des Wertes eines Baumes bewusst und kauften Setzlinge von Menschen wie Fleurilus.
In den nächsten zwei Tagen treffen wir in der Region zahlreiche weitere Menschen, die heute Wasser aus einem Wasserkiosk holen können und wöchentlich dafür ihren Beitrag zahlen, statt es wie früher am verschmutzten Fluss zu schöpfen. Oder solche, die sogar einen eigenen Wasseranschluss haben einrichten lassen. Wir treffen Freiwillige, die sich im Katastrophenschutz engagieren, Menschen vor den Tropen- und Wirbelstürmen warnen, welche die Karibik alle Jahre aufsuchen. Bürgermeister, die dank der neuen Notfallpläne um die Verletzlichkeit des Wassersystems wissen und im Notfall nun rasch reagieren oder bei einem Cholerafall sofort handeln können.
Wir treffen aber auch Behördenvertreter, die sich über die Untätigkeit des Zentralstaats beklagen, über mangelnde finanzielle Unterstützung der Gemeinden – in allen Belangen von der Infrastruktur über die Gesundheit zur Sicherheit und Bildung.
Sonne! Hitze! Wasser?
Teil 2: Von Null auf 2000 Meter über Meer
Wir verabschieden uns vom grössten Departement des Landes. Doch bevor wir uns nun wirklich auf die Suche nach den rosa Flamingos machen, reisen wir in die Berge. Unser nächstes Ziel liegt knapp 300 Kilometer südöstlich auf 2000 Metern über Meer. Wegen des allgemein schlechten Strassenzustands müssen wir die Reise in zwei Etappen machen, denn für die rund 170 Kilometer von Port-au-Prince nach Forêt des Pins brauchen wir mindestens acht Stunden, bei Regen länger.
Doch es bleibt trocken und wir wechseln innerhalb des Landes wieder Welten: Je höher wir mit dem 4x4 klettern, desto kühler wird es und plötzlich kriecht Nebel die Berge hoch; es wird empfindlich kühl. Paul Robens, der ehemalige Projektleiter (das Projekt ist seit Ende 2017 beendet), führt uns ein: Im Nachgang zum Erdbeben beschloss Helvetas, in dieser abgelegenen und schwer zugänglichen Gegend Wasserzisternen zu bauen, damit die Menschen, die dem kargen, steinigen Karstboden ihre Lebensgrundlage abtrotzen, nicht mehr stundenlang zu einer Quelle klettern müssen – und mit der wertvollen, schweren Last wieder zurück.
Bedingung war, dass jede Familie zuerst eine Latrine bauen und auch nutzen muss. In diesem Fall bezahlte Helvetas einen Teil des Materials und der Arbeit für die Zisterne. Über 900 dieser runden Betonzisternen stehen jetzt neben einfachen Häusern. Das Regenwasser fliesst von deren Wellblechdach in eine Rinne, die bis in die Zisterne führt. Während der Regenzeit, also jetzt, füllt sich diese. In der Trockenzeit müssen die Familien damit haushalten, denn es muss für sie und wenn möglich für ihre Tiere ausreichen. Der Mais, der Lauch, die Artischocken und Bohnen müssen mit dem Regen auskommen.
So treffen wir etwas fröstelnd auf Marcilia Docius. Die kleine Frau beginnt zu tanzen, als sie Robens erkennt; die beiden umarmen sich herzlich. Robens war letztmals vor sechs Monaten in der Gegend, als das Projekt abgeschlossen wurde. Bei jeder Begegnung werden er und Helvetas mit Lob überschüttet, denn das Leben hier oben hat sich mit den Zisternen und Latrinen zum Guten verändert.
«Es ist so viel besser geworden», erzählt Marcilia. «Die Kinder wachsen besser, weil sie nicht mehr so schwer Wasser tragen müssen. Und sie haben Zeit, zur Schule zu gehen.» Früher stand sie um ein Uhr morgens auf, um das kostbare Gut zu holen. Zurück kam sie am Mittag oder sogar später. «Manchmal verschütteten wir das Wasser. Das war schlimm. Manchmal verloren wir sogar den Kessel, weil wir stolperten.» Sie und ihr Mann verdienen etwas Geld mit Gemüseanbau und Kleintierzucht.
Den Gemüseanbau hat Helvetas eingeführt. Erfolgreich ist besonders der Lauch, der es den Frauen erlaubt, in der Nähe des Hauses ein Einkommen zu erwirtschaften. Aber auch die Alternativen zur freien Kleintierzucht hat das Leben der Menschen in den Bergen verändert. Die Tiere sind heute tagsüber angebunden und nachts eingezäunt – zum Schutz vor wilden Hunden und zum Schutz der Gärten.
Irgendwie erinnert mich die Gegend an unseren Jura. Doch im Gegensatz zur Schweiz zerstören hier Wirbelstürme immer wieder die Lebensgrundlage dieser Menschen. Immer wieder gibt es Familien, die keinen Ausweg mehr sehen und ihr Glück in den Städten Haitis oder in der benachbarten Dominikanischen Republik suchen, wo sie zu schlechten Arbeitsbedingungen schuften und oft als Illegale ausgebeutet werden.
Doch wir treffen in den nächsten Tagen in den Bergen auch zahlreiche Familien, die allen Widrigkeiten trotzen. Die Helvetas ihr Trinkwasser in Reichweite verdanken und ihren Speiseplan dank des neu eingeführten Gemüseanbaus aufbessern. Die um die Wichtigkeit des Händewaschens und der Latrinen wissen, denn auch hier gibt es Cholerafälle.
Wir treffen die jungen Frauen, die als «Promotrices», Hygienefachfrauen, den Menschen zeigen, wie man korrekt die Hände wäscht, wie das Wasser aus der Zisterne aufbereitet werden muss und dass Latrinen sauber gehalten werden müssen.
Robens bleibt trotz Projektende mit Herzblut der Region und ihren Menschen verbunden. Obwohl sein Vertrag mit Helvetas ausgelaufen ist, spornt er die Familien an, ihre Zisternen zu unterhalten. Er nutzt die Gelegenheit, den «Promotrices» ins Gewissen zu reden, denn ihre Vereinigung funktioniert noch nicht wie gewünscht. Robens zeichnet uns immer wieder das grössere Bild, erklärt den haitianischen Kontext, zeigt Zusammenhänge auf und ermöglicht es uns so, das Grosse und Ganze einigermassen zu verstehen.
Einigermassen, weil es schwierig ist, in so kurzer Zeit ein Land zu verstehen, dessen Geschichte von wichtigen Errungenschaften und unbarmherzigen Rückschlägen geprägt ist und dessen Menschen zwischen Hoffnung und Aussichtslosigkeit hin- und herschwanken.
Wir treffen auch den Nationalparkdirektor Elie Desmarattes, denn ein Teil der Gegend gilt seit 1937 als nationales Schutzgebiet. Allerdings wurde dessen Schutz lange einem haitianisch-amerikanischen Holzkonzern anvertraut, der die Hügel fast gänzlich abgeholzt hat. Erst in den 1980er Jahren übernahm der Staat wieder die Kontrolle, wusste jedoch nur wenig mit diesem schwer erreichbaren Landstrich anzufangen. 2014 wurde das Schutzgebiet zum Nationalpark erklärt.
Mit der finanziellen Unterstützung der Deza und der technischen Hilfe von Helvetas erfüllte Desmarattes, wie er gerufen wird, alle notwendigen Erfordernisse, wie eine offizielle Grenzziehung, einen Bewirtschaftungsplan und Schutzvorgaben. «Am meisten mag ich die Aufforstung, denn da sieht man das Resultat – nach einem Jahr, nach sechs Jahren, nach zwölf Jahren. Und auch der Gemüseanbau gefällt mir, denn er erlaubt es den Menschen, etwas Geld zu verdienen.»
Doch Desmarattes hat nur wenig Mittel, seinen Park zu schützen. Die Ranger, die auf der Lohnliste des Umweltministeriums stehen, haben schon lange keinen mehr Lohn erhalten. Trotzdem arbeiten sie weiter, schauen zum Rechten, erkunden auf Märkten, ob jemand illegal geschlagenes Holz verkauft, informieren und sensibilisieren die Leute. Dennoch wird nach wie vor Feuer gelegt. Seltener zwar, aber doch noch. Die Idee dahinter: Land gewinnen oder die angekohlten Bäume «gratis» zu Geld zu machen.
«Ohne Helvetas wäre die Region hier zerstört. Es hätte keinen Wald, keine Bäume mehr. Alles wäre abgebrannt worden, um Nahrungsmittel anzubauen. Die Hügel hätten Narben von der Erosion. Der schon dünne Humus wäre vom Regen weggeschwemmt worden», erklärt uns Desmarrattes. Laut ihm wird das Engagement von Helvetas vom Staat sehr geschätzt. «Helvetas hat einen guten Ruf beim Schutz der Naturschutzgebiete in Haiti. Helvetas ist bekannt dafür, Wort zu halten und ihnen Taten folgen zu lassen. Zusammen mit der Deza sind wir ein gutes Team.»
Auch er wird bald auf der Lohnliste des Staates stehen. Das Parkschutz-Projekt, das technisch unabhängig vom Zisternenprojekt ist, läuft dieses Jahr aus. Da offensichtlich ist, dass das Ministerium nicht alle Kosten übernehmen wird, sucht die Parkdirektion alternative Einnahmemöglichkeiten und hofft auf sanften, alternativen Tourismus: Eine Lodge steht im Park zur Verfügung, die Gegend ist ein fantastisches Wandergebiet und der Pic de Selle, der höchste Gipfel Haitis mit über 2600 Metern Höhe, ist in einer Tageswanderung erreichbar. Die Köchin zaubert kreolische Mahlzeiten auf den Tisch mit währschaftem Frühstück und Mittagessen. Das Abendessen ist traditionell leicht. Sonntags wird Wein kredenzt.
Wir fühlen uns wohl in den Bergen, geniessen das angenehme Klima, sind allerdings froh um unsere Faserpelzjacken. Die Menschen, die hier leben, drängen sich in der kalten Jahreszeit in die Stroh- und Bananenblättergedeckten Küchenhütten, wo immer ein Feuer brennt – die Häuser sind bei Temperaturen um die 10 Grad zu kalt.
Teil 3 – Was ein Wasserfall, Kohle und Fische mit Flamingos zu tun haben
Zwei Stunden dauert die Fahrt von rund 20 Kilometern zum Abzweiger der Strasse nach Belle Anse, wo die Austernlagune mit ihren rosa Flamingos liegt. Dort wird ein weiteres Parkschutz-Projekt von Helvetas umgesetzt. Es hängt indirekt mit demjenigen der Forêt des Pins zusammen, denn das Regenwasser, das über den Bergen fällt, versickert ins Grundwasser. Dieses tritt etwas weiter unten in einem beeindruckenden Wasserfall, der Cascade Pichon, wieder aus der Erde und ist die einzige Wasserquelle für eine ganze Region mit ihren über 80'000 Menschen. Wenn das Regenwasser in den Bergen wegen der erodierten Böden zu schnell abfliesst, fehlt es im Grundwasser – und damit den Menschen im heissen Küstengebiet.
Auf der steilen Piste nach Belle Anse runter kreuzen wir Marcilias Sohn, der schweissgebadet eine riesige Metallschüssel voller Mangos den Berg hochträgt, um diese bei sich oben zu verkaufen. Wir bewundern diesen jungen Mann, der stoisch diesen Kraftakt absolviert und noch weit über 15 Kilometer den Berg hochgehen muss.
Schmetterlingsschwärme lösen die Nebelschwaden ab; Feuchtigkeit, Hitze und hellblaues Meer erinnern uns daran, dass wir in der Karibik sind. Das Helvetas-Team vom Naturschutzprojekt Cascade Pichon und Austernlagune erlebt diese Fahrt allwöchentlich. Dienstags fährt die Crew jeweils von Port-au-Prince die mindestens sechs Stunden bei guter Verkehrslage nach Belle Anse. Am Donnerstag der nächsten Woche reisen sie für ein längeres Wochenende nach Hause. Dazwischen leben und arbeiten sie in ein und demselben Haus, teilen sich die Zimmer und werden von Bernadette kulinarisch verwöhnt.
Wiederum begeistert uns das Projektteam mit seiner Energie und seinem Engagement. Es ist das zweite Projekt, das Helvetas hier in der Region umsetzt. Im ersten Projekt stand der Quellenschutz um die Cascade Pichon und die Stabilisierung der Hänge sowie der schonende Umgang mit den natürlichen Ressourcen bis ans Meer im Zentrum. Bauern und Bäuerinnen erklärten sich bereit, die Felder nahe der Quelle nicht mehr zu beackern, sondern nur noch anzupflanzen, was den Boden schont und stärkt. Dafür erhielten sie eine kleine Entschädigung.
Ziel war es, der Erosion Einhalt zu gebieten, denn die vielen Sedimente, die vom Fluss ins Meer getragen werden, schaden unter anderem dem Fischbestand – und gefährden somit die Existenz der Fischer an der Küste. Köhler lernten, nicht mehr ganze Bäume und Wälder abzuholzen, sondern nur noch einzelne Äste, damit der Baum weiterwachsen kann. Diese Methode der «coupe selective», des Teilschnitts, erlaubt den Köhlern nun mehrmals jährlich Kohle herzustellen – zwar weniger aufs Mal, aber im Total mehr als früher, als sie noch ganze Bäume fällten.
Dank der neuen Methode festigen heute mehr Bäume die Böden. Und trotzdem kann das Land mit Kohle versorgt werden, die fürs Kochen benötigt wird. Auch die Fischer erhielten Unterstützung, mit dem Ziel, die Küstenfischerei zu vermindern. Sie wurden darin ausgebildet, auf hoher See an künstlichen Riffs zu fischen statt mit kleinmaschigen Netzen an der Küste. Sie erhielten vier Motoren für hochseetaugliche Fischerboote, Kühltruhen mit Solarpanelen und Batterien.
Bäuerinnen, Köhler und Fischer sind dankbar für die neuen Techniken und teilen ihr Wissen, wenn immer möglich und nötig, mit Menschen, die diese noch nicht kennen. Das Projekt zieht weite Kreise – und doch ist die Wunschliste der Menschen in der Region lang. Ein dringender Wunsch der Fischer ist ein Kühlraum, denn bis heute müssen sie grosse Fische, die nicht in die Kühltruhe passen, in der benachbarten Dominikanischen Republik verkaufen – zu Dumpingpreisen, weil die dominikanischen Händler um den Kühlraummangel der Haitianer wissen und ihn ausnutzen. Deshalb werden sie im Rahmen des Projekts, das von der Europäischen Union finanziert wird, einen Kühlraum bauen. Die Vorfreude ist gross.
Ein wichtiger Teil des Projekts ist die Wiederaufforstung der Mangroven in der Austernlagune. 30'000 Setzlinge werden derzeit von lokalen Baumzüchtern gezogen. An Umwelttagen werden diese unter fachlicher Anleitung von Schülerinnen und Dorfbewohnern aus der Region gesetzt. Dabei lernen die Menschen beiläufig um die Wichtigkeit der Mangroven. In ihren Wurzeln suchen nämlich zum Beispiel junge Fische Schutz. Und Fisch, das ist allen klar, ist hier das Hauptnahrungsmittel. Aber die Mangroven schützen auch die Küste und das fragile Gleichgewicht der Lagune, wo viele Tiere und Vögel Schutz suchen.
Auch die rosa Flamingos, deren Zahl einst zurückging, jetzt aber ihre Austernlagune wieder aufsuchen. Sie stehen symbolisch für die Artenvielfalt und den Naturschutz, deshalb möchten wir sie sehen und fotografieren. Noch in der Woche vor unserer Ankunft zählte einer der jungen Ranger 27 von ihnen in einem der Teiche der Lagune. Er führt uns durch das Dickicht, Dornen von Kakteen dringen durch unsere Hosen.
Vorsichtig treten wir auf, um nur Fussspuren zu hinterlassen. Die Lagunen sind spiegelglatt, Krabben, handtellergross, scheinen uns mit ihren Stielaugen zu beobachten. In Meeresnähe liegen die ausgebleichten Überreste von Korallen. Doch die Flamingos, die sind nicht da – und nicht dort und auch nicht an der dritten möglichen Stelle. Sie brüten, gut versteckt und unzugänglich, ihre Eier aus, denn es ist Brutzeit. Wir wollen nicht stören; eine intakte Natur und ungestörte Tierwelt ist uns wichtiger als ein Foto mit rosa Flamingos.