Im Sommer schickte der Bundesrat die neue Strategie der Internationalen Zusammenarbeit in die öffentliche Vernehmlassung. Sein Vorschlag: Beinahe jeder achte Franken aus dem Budget der Entwicklungszusammenarbeit soll künftig in die Ukraine fliessen – in Form von humanitärer Hilfe und von Investitionen in den Wiederaufbau. Der Beitrag an die Ukraine könnte sogar noch ausgebaut werden. Die Unterstützung der Ukraine ist wichtig, richtig und dringlich. Sie darf aber zu keinem Kahlschlag bei der Entwicklungszusammenarbeit führen.
Geht es nach dem Willen des Bundesrats, fliessen 13 Prozent des gesamten Budgets der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) künftig in ein einziges Land, die Ukraine. Gleichzeitig sieht die IZA-Strategie vor, dass die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) im Verhältnis zur schweizerischen Wirtschaftsleistung (BNE) auf ein Zehnjahrestief von 0,36% (ohne Anrechnung von Asylkosten in der Schweiz) sinkt.
Selbstverständlich ist eine grosszügige Schweizer Unterstützung für die Ukraine wichtig und auch dringend notwendig. Sie sollte aber zusätzlich geleistet werden, nicht zulasten der humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Afrika, Lateinamerika und Asien. Diese Meinung teilen mit einer Ausnahme alle Parteien. So zeigt sich die FDP in ihrer Stellungnahme zum Entwurf der IZA-Strategie mit dem vorgeschlagenen Zahlungsrahmen grundsätzlich einverstanden, gibt aber zu bedenken (ab S. 69, aus dem Französischen): «Zusätzliche finanzielle Mittel sollten ausserhalb der IZA für den ‘Wiederaufbau’ der Ukraine im eigentlichen Sinne unter Einhaltung der Schuldenbremse bereitgestellt werden.»
Die Mitte schreibt in ihrer Stellungnahme (ab S. 63): «Plakativ gesagt, würde die Schweiz auf dem Buckel anderer Krisenherde zugunsten der Ukraine sparen. Dies steht im Widerspruch zur humanitären Tradition der Schweiz und kann […] nicht im langfristigen Interesse des Landes sein. (…) Die Mitte fordert daher aus Solidarität mit der Ukraine und anderen globalen Krisenherden, dass die Mehrausgaben zugunsten der Ukraine separat […] beantragt werden [und] dass die Verpflichtungskredite der vorliegenden IZA-Strategie deswegen nicht gekürzt werden.»
Breiter Konsens für ein separates Ukraine-Budget
Nebst der Forderung einer Erhöhung der Mittel für die IZA schreibt die GLP in ihrer Stellungnahme (ab S. 80): «Da der Angriffskrieg weder ein erwartetes noch ein durch den Bund steuerbares Ereignis darstellt, eine Reaktion in der Form von Unterstützungszahlungen auf diese Ausnahmesituation aber unabdingbar ist, erachten wir es als angezeigt, diese Mittel als ausserordentlichen Zahlungsbedarf (…) zu verbuchen. Dies umso mehr, als die Hilfe an die Ukraine nicht auf Kosten anderer Länder oder Regionen gehen darf.» Auch die SP und die Grünen fordern angesichts der krisengeplagten Weltlage eine Erhöhung der IZA-Mittel sowie zusätzliche Gelder für die Ukraine.
Nur die SVP findet die IZA der Schweiz noch immer zu grosszügig. Als einzige Partei begrüsst sie in ihrer Stellungnahme (ab S. 67) ausdrücklich, dass sämtliche Hilfsgelder an die Ukraine vollständig aus dem IZA-Budget gedeckt werden sollen.
Aufschlussreich sind ausserdem die Empfehlungen der Beratenden Kommission für Internationale Zusammenarbeit (BK-IZA). Die Kommission berät den Bundesrat in Fragen der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas und prüft die Prioritäten und Gesamtkonzeption. Die Kommission besteht aus 15 Mitgliedern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die vom Bundesrat auf Antrag des EDA und des WBF gewählt werden. Sie steht mit den IZA-relevanten Bundesstellen DEZA, Seco und der Abteilung Frieden und Menschenrechte im Austausch. In ihrer Stellungnahme fordert sie als minimale Konstante 0,5% des Bruttonationaleinkommen (BNE) für die öffentliche Entwicklungshilfe (APD) – unabhängig von den Asylkosten –, und schreibt (ab S. 1088): «Die BK-IZA begrüsst die Unterstützung des Wiederaufbaus in der Ukraine. Sie spricht sich jedoch grossmehrheitlich dagegen aus, dass die dafür vorgesehenen zusätzlichen Mittel zu Lasten des Rahmenkredits der IZA für die Jahre 2025-2028 gehen. Für den Wiederaufbau empfehlen wir dem Bundesrat daher die Schaffung einer neuen Gesetzesgrundlage und darauf aufbauend eines neuen, zusätzlichen Rahmenkredits nach dem Modell des früheren Rahmenkredits zur Weiterführung der Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas.»
Massive Kürzungen in ärmeren Regionen verhindern
Seit den 1990er Jahren ist die Schweiz in der Ukraine tätig. Mit ihren Partnern setzt sie sich für die Stärkung demokratischer Institutionen auf nationaler und lokaler Ebene, für eine vorausschauende Stadtentwicklung und für effizientere öffentliche Dienstleistungen sowie für die Förderung eines ressourceneffizienten und klimafreundlichen Wirtschaftswachstums ein. Im Jahr 2021 war die DEZA mit bilateraler Entwicklungszusammenarbeit in einem Umfang von rund 13 Millionen sowie mit humanitärer Hilfe von 4 Millionen, das Seco mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Umfang von rund 13 Millionen Franken präsent. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs wurde das Engagement angepasst. 2022 kamen deshalb auch 125 Millionen Franken an humanitärer Hilfe hinzu.
Sollte ab 2025 nun tatsächlich ein Grossteil des ukrainischen Wiederaufbaus aus dem IZA-Budget finanziert werden, so würde dies unweigerlich zu einem Programmabbau in vielen sogenannten Least Developed Countries, in ganzen Regionen und wichtigen Themenbereichen führen. Denn der Umfang der Ukraine-Unterstützung von 1,5 Milliarden – 375 Millionen Franken pro Jahr – wäre gemäss Finanzplan grösser als die gesamten Zahlungen an jene 24 multilateralen Organisationen, mit denen die Schweiz seit langem zusammenarbeitet (darunter etwa die Weltbank, die humanitäre Koordinationsstelle der UNO (OCHA), das UNO-Entwicklungsprogramm UNDP, UNICEF, das Welternährungsprogramm WFP, die WHO oder der Grüne Klimafonds zur Unterstützung ärmerer Länder im Klimaschutz und bei der Klimaanpassung). Der Umfang der Ukraine-Unterstützung würde auch die gesamte wirtschaftliche Zusammenarbeit des Seco mit sogenannten Upper Middle Income Countries deutlich übersteigen.
Zudem gibt es keinerlei Garantie, dass es der Bundesrat dabei bewenden lässt. Denn weil die neutrale Schweiz keine militärische Unterstützung leistet und beim Aufspüren russischer Oligarchengelder internationaler Kritik ausgesetzt ist, steht sie international unter Druck, sich wenigsten finanziell grosszügig zu zeigen und mehr in humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau zu investieren. Dabei ist noch vollkommen unklar, wie dann eine weitere Aufstockung des Ukraine-Fonds finanziert werden würde. Es wäre kaum erstaunlich, wenn sich der Bundesrat auch in Zukunft aus dem IZA-Budget bedienen würde – entgegen allen Empfehlungen und Bedenken im Rahmen der kürzlichen Vernehmlassung. Selbst im neuen, konservativeren Parlament ginge das kaum ohne Widerstand über die Bühne.
Der historischen «Zeitenwende» gerecht werden
Geht es dem Bundesrat tatsächlich darum, dass die Schweiz international grosszügig dasteht, dann ist eine Zweckentfremdung der Schweizer IZA-Gelder der falsche Weg. Die Regierung würde den weltweit guten Ruf der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit massiv und auf lange Sicht hinaus beschädigen.
Sicherheits- und friedenspolitisch konsistent wäre, für die Ukraine einen separaten Rahmen zu schaffen – ganz nach dem Vorbild des einstigen Osthilfegesetzes oder dem Kohäsionsbeitrag an die neuen EU-Mitglieder. Auf diese Weise könnte der «Zeitenwende» angemessen Rechnung getragen werden: Nicht nur profitiert die Schweiz von den europäischen Bemühungen um Frieden und Stabilität in Europa. Auf lange Sicht werden die Investitionen auch im wirtschaftlichen Interesse der Schweiz sein.