Mali | © Fatoumata Diabate

Kinder auf den Migrationsrouten 

Verbesserungen bei Bildung und Integration bergen grosses Potenzial 
VON: Regis Blanc, Nicolas Cacciuttolo , Corinne Massardier , Pascal Fendrich - 27. Oktober 2023
© Fatoumata Diabate

Millionen Kinder sind auf internationalen Migrationsrouten unterwegs. Sie sind besonders verletzlich und hätten gemäss Kinderrechtskonvention Recht auf Bildung, Integration und besonderen Schutz. Ein neues und innovatives Schweizer Projekt der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) in West- und Nordafrika zielt darauf ab, ihnen Lehr- und Lernmöglichkeiten zu eröffnen, um Kinder und Jugendliche in ihrer Autonomie zu stärken – und sie besser zu schützen.  

Gemäss UNICEF sind schätzungsweise 35,5 Millionen Kinder weltweit auf Migrationsrouten unterwegs – «on the move». Sie überqueren Grenzen; in Begleitung oder allein. In den Diskussionen rund um Migration wird ihnen nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sie – egal wo sie sich befinden – speziell geschützt werden sollten. Dies fordert die Internationale Kinderrechtskonvention.   

Daten über Kinder, die grenzüberschreitend migrieren, gibt es kaum. Internationale Expert:innen wollen deshalb die Lücke füllen. Denn ohne Zahlen und Informationen können weder Länder noch Organisationen den Bedürfnissen dieser jungen Menschen gerecht werden.  

Besonders viele Kinder sind zwischen Ländern Afrikas unterwegs: 2017 – aktuellere Daten gibt es nicht – war dort jede vierte migrierende Person ein Kind. Das sind mehr als doppelt so viele wie im weltweiten Durchschnitt; gemäss UNICEF belief sich die Zahl 2017 in Afrika auf über 6,5 Millionen Kinder auf Migrationsrouten, davon vier Millionen auf der Flucht. Weitere schätzungsweise sieben Millionen Kinder waren in ihrem eigenen Land vertrieben worden. Die Dunkelziffer dürfte angesichts der zunehmenden Flucht- und Migrationsursachen sowie wegen fehlender Daten weit höher liegen.   

Die Gründe, warum Kinder und Jugendliche ihre Heimat verlassen, sind vielfältig: Gewalt, politische Instabilität, Konflikte und Umweltprobleme beeinflussen den Entscheid, aufzubrechen. Auch der Verlust der Eltern oder extreme Armut, mangelnde wirtschaftliche Perspektiven und Jobaussichten für die Jugendlichen, der Wunsch nach einer soliden und interessanten Bildung oder ganz einfach die Suche nach einem besseren Leben gehören dazu. Hinzu kommen traditionelle, familiäre oder gesellschaftliche Gründe, zu migrieren.    

Mädchen und junge Frauen sind zusätzlich mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten, gesellschaftlichen Erwartungen und Diskriminierung konfrontiert, was einen Migrationsentscheid ebenfalls beeinflusst. Menschen, die sich im LGBTQI+-Spektrum definieren, verlassen ihre Heimat, weil sie oftmals ihre Identität nicht ausleben können.   

Recht auf Bildung und Integration  

Die Länder, wo sich die Kinder gerade aufhalten, sind verantwortlich für ihren Schutz und ihre Sicherheit, für Bildung und Integration in die Gesellschaft. Oftmals werden dafür Nothilfe- und Schutzmassnahmen ergriffen – eine wichtige Unterstützung, die allerdings die grundlegenden und langfristigen Herausforderungen nicht angeht. Häufige Folge dieser Massnahmen ist der Aufbau von Parallelstrukturen, z.B. Schulen in Flüchtlingslagern.   

Eigentlich bräuchte es passende und angepasste Angebote für Minderjährige auf den Migrationsrouten. Die Realität der Migration müsste in die Lebenswirklichkeit der Aufenthalts- und Durchgangsländer integriert werden. Dafür bräuchte es auf lokaler, nationaler und überregionaler Ebene passende Rahmenbedingungen. So könnten die mit Migration verbundenen Chancen genutzt und der besondere Schutzbedarf von Kindern und Jugendlichen besser abgedeckt werden.  

 

Bestehende Institutionen stärken  

Ein Schweizer Projekt der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), das von Helvetas, Terre des hommes, der deutschen GIZ und zahlreichen weiteren Partnerorganisationen umgesetzt wird, zielt nun darauf ab, in Guinea, Mali, Niger, Marokko und Tunesien bestehende Strukturen derart zu stärken, dass migrierende Kinder und Jugendliche dort, wo sie sich gerade befinden, Zugang zu Schule und Bildung erhalten.  

Das Projekt soll ohne Parallelstrukturen funktionieren, sondern in Zusammenarbeit mit bestehenden Institutionen und lokalen Bildungsexpert:innen. Diese lernen, die Auswirkungen der Migration sowie die Bedürfnisse der Migrierenden und, um Konflikten vorzubeugen, auch jene der heimischen Bevölkerung zu verstehen. In der Folge sollen sie ihre Dienstleistungen wie Schul- oder Berufsbildung so anpassen, dass sie auch migrierenden Kindern und Jugendlichen zugänglich werden.   

Derzeit sind die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen in den Aufenthaltsländern dieser Kinder und Jugendlichen nicht inklusiv genug, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Um Schwachstellen zu verbessern, fehlen entweder das Wissen, die Kapazitäten und/oder der Wille. Die Herausforderung besteht darin, migrierende Kinder und Jugendlich sowie die Bildungsinstitutionen zusammenzubringen. Dies geschieht entweder durch Beeinflussung der Nachfrage, z.B. indem junge Migrierende vom Nutzen einer Ausbildung überzeugt werden. Oder durch eine Angebotsverbesserung, indem Ausbildner:innen die administrativen Hürden senken und etwa die Stundenpläne derart gestalten, dass junge Menschen auch Zeit haben, etwas Geld zu verdienen, um zu überleben. Ebenfalls wichtig sind Massnahmen wie Sprachkurse, Anerkennung früherer Zertifikate, Förderunterricht und psycho-soziale Unterstützung.  

Wenn Jugendliche mit Jugendlichen arbeiten  

Um nicht an den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen vorbeizuplanen, hat einer der Projektpartner, das Mouvement Africain des Enfants et Jeunes Travailleurs (MAEJT), das sich aus Kinder- und Jugendgruppen zusammensetzt, mit verschiedenen Mitteln eine Bedürfnisabklärung und jugendfreundliche Umfragen in den verschiedenen Ländern gemacht. Dank dieser vom MAEJT gesammelten Informationen können für Kinder und Jugendliche nun passende Angebote erarbeitet werden, die sie tatsächlich interessieren dürften und die auf sie zugeschnitten sind.  

In den meisten Fällen reicht dies jedoch nicht aus. Zahlreich sind die Barrieren zwischen Kindern und Jugendlichen, die unterwegs sind, und den bestehenden Dienstleistungen, die sie in Anspruch nehmen möchten: Begleitpersonen von Kindern fehlen Informationen über die Möglichkeiten und Rechte beim Zugang zur Schule. Um sich für eine Ausbildung zu registrieren, braucht es oft eine Identitätskarte, Zertifikate, manchmal sogar eine Geburtsurkunde oder eine Aufenthaltsgenehmigung – Papiere, die vielen migrierenden Menschen fehlen.  

Eine gründliche Analyse dieser Hindernisse hilft, geeignete Lösungen zu entwickeln. Mittels Pilotprojekte werden Erfahrungen gesammelt und Verbesserungen vorgenommen. In Marokko beispielsweise gibt es eine nationale Strategie zur Integration von Kindern, die unterwegs sind. Im Land hapert es jedoch vor allem an den Schulleitungen, die sich ihrer Verantwortung dafür noch nicht bewusst sind. In Guinea wiederum steht unter anderem die pädagogische Ausbildung von Lehrkräften im Zentrum, um mit der Vielfalt in ihren Klassenzimmern umzugehen. In Mali können bestehende Berufsbildungsprojekte an die Bedürfnisse und Möglichkeiten junger Migrant:innen angepasst werden.   

Grosses Potenzial bergen digitale Angebote. Diese erlauben es jungen Menschen auf den Migrationsrouten, ortsunabhängig zu lernen. Eine Online-Lernplattform soll auf bestehende Bildungsressourcen verweisen, die den Bedürfnissen dieser Kinder und Jugendlichen entsprechen könnten. Während der Coronapandemie haben viele Länder bereits schulische Inhalte entwickelt. Darauf aufbauend, könnten diese Kindern und Jugendlichen unterwegs zugänglich gemacht werden. Module, die spezifische Informationen zu sicherer Migration liefern, können ergänzend eingefügt werden.  

Die Stimmen der Kinder stärken 

Um die Veränderungen nachhaltig zu verankern, müssen in allen Ländern zahlreiche Akteure überzeugt werden, mobilitätsbedingte Schwachstellen in der Bildungs- und Beschäftigungspolitik zu verbessern. Gleichzeitig gilt es, die Stimmen von Kindern und Jugendlichen auf den Migrationsrouten zu stärken, indem sie in die Prozesse eingebunden werden und gebeten werden, sich zu beteiligen – von der Schule bis zu nationalen Konsultationen.   

Erhalten Kinder und Jugendliche auf Migrationsrouten eine solche Chance auf Bildung und Integration, entfaltet Migration nachhaltiges Potenzial: Kinder und Jugendliche werden autonomer und können besser geschützt werden. Transit- und Zielländer können von fähigen Arbeitskräften und qualifizierten Berufsleuten profitieren. Gleiches gilt für die Herkunftsländer, wenn diese (aus)gebildeten Kinder und Jugendlichen entscheiden, heimzukehren. Migration muss menschenwürdig gestaltet werden – und das ist auch Aufgabe der Schweiz und ihrer Internationalen Zusammenarbeit.  

Bearbeitet von Rebecca Vermot, Original: Migrant Children in Africa: A major challenge for education systems