Zeitnot verspüren reiche wie arme Menschen. Aber Armutsbetroffene können weniger frei über ihre Zeit entscheiden. Das hat mit ungleichen Machtverhältnissen zu tun. Sorgen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für mehr Zeitgerechtigkeit, wirkt sich dies positiv auf soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe aus.
Wie sähe eine Gesellschaft aus, wenn mehr Alleinerziehende und Armutsbetroffene sie mitgestalten könnten? Die Publizistin Teresa Bücker geht in ihrem Buch «Alle_Zeit“ unter anderem dieser Frage nach. Zeit, so Bücker, sei dabei der entscheidende Faktor.
Herkunft und Geschlecht haben grossen Einfluss auf die Zeit
Zunächst einmal ist frei verfügbare Zeit meist abhängig von anderen. Zum Beispiel von Vorgesetzten, die Aufträge zeitlich realistisch einschätzen. Oder von Angehörigen, die im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung helfen. Gerade diese unbezahlte Care-Arbeit wird immer noch mehrheitlich von Frauen erledigt – in der Schweiz zu 61,1 Prozent, weltweit sind es sogar 75 Prozent. Das raubt besonders ihnen Zeit – und Geld, das sie in dieser Zeit nicht verdienen können.
Zeit ist aber auch abhängig von Geld. Gut situierte Menschen können Arbeiten eher auslagern, an Menschen, die die Tochter hüten, den kranken Vater pflegen oder die Wohnung putzen. Vielfach sind es Migrantinnen, die diese ausführen, meist gegen geringe Bezahlung. Menschen, die die Möglichkeit nicht haben, sich so «Zeit zu kaufen», gibt es weltweit Milliarden und auch in der Schweiz, wo mehr als 722’000 Menschen von Armut betroffen und 1,3 Millionen armutsgefährdet sind.
Das führt dazu, dass Menschen, die schlecht oder nicht bezahlte Arbeiten ausführen, weniger frei über ihre Zeit entscheiden können und somit «nicht zeitsouverän» sind. Erst recht, wenn sie weitere Jobs annehmen müssen, um ihre Miete und Rechnungen zu bezahlen. Damit fehlt ihnen Zeit für individuelle Anliegen: für Hobbys, Sport oder auch einfach, um Kraft zu tanken. Sie haben aber auch keine Zeit für gesellschaftliche Anliegen, etwa um für bessere Bedingungen zu kämpfen. Die Folgen sind Erschöpfung, soziale Vereinzelung und gesundheitliche Einschränkungen oder Ohnmacht – welche sich auch wieder auf ihre Lebenszeit auswirken.
Zeitreichtum und Zeitarmut ist deshalb – wie Bücker illustriert – immer abhängig von der gesellschaftlichen Klasse, der Herkunft und dem Geschlecht.
Menschen ohne Zeit und Geld bleiben auf der Strecke
Wie sähe nun eine Gesellschaft aus, in der alle mitwirken könnten – politisch und ehrenamtlich? «Wehrhafter», antwortet Teresa Bücker. Doch es brauche Zeit, sich zu informieren, nachzudenken, Visionen zu entwickeln. Es brauche Zeit, sich zu bilden, an Demos zu gehen, sich in politischen Gremien zu engagieren, um abzustimmen, zu wählen oder für Wahlkämpfe.
Und es brauche Zeit, um sich als handlungsfähig begreifen zu können und politisch wehrhaft zu sein, sagt die Publizistin und fügt an: «Auch Solidarität setzt Zeit voraus», um sich mit den Lebensrealitäten von anderen Menschen und ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen.
Auch brauche es gemeinsame Zeit, um sich auszutauschen, um politische Anliegen zu bündeln und aus vielen einzelnen Stimmen eine gewichtige zu machen. Alleine und vereinzelt in Sachzwängen gefangen, lassen sich weder Klimakrise noch Armut oder Unterdrückung bewältigen.
Während Menschen in gesicherten finanziellen Verhältnissen mit Praktika, Überstunden und Weiterbildungen ihre beruflichen Chancen erhöhen, haben Menschen mit kleinem Budget auch hier das Nachsehen. Menschen, die nicht über frei einteilbare Zeit verfügen, bleiben unterrepräsentiert in politischen Gremien. Fehlen ihre Stimmen, finden auch ihre Anliegen zu wenig Gehör. In der Politik zementiert dies soziale Ungerechtigkeiten, statt sie aufzulösen. «Der Zugriff auf die eigene Zeit ist daher eine Gerechtigkeitsfrage», sagt Bücker.
Zeitungerechtigkeit ist ein weltweites Thema
Um solche Ungerechtigkeiten aufzulösen, ist es zentral, dass alle – gerade auch ärmere Menschen im Globalen Süden – sich für bessere Lebensbedingungen einsetzen können. Im Streben nach mehr Gerechtigkeit und besseren Lebensbedingungen sind sie mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Während viele von ihnen ums Überleben kämpfen, ist ihre Zeit zusätzlich fremdbestimmt: Immer stärker spüren sie z.B. die Folgen der Klimaerwärmung. Es ist also vornehmlich ihre Zeit, die damit besetzt wird, sich gegen Klimakatastrophen zu wappnen, ihre Häuser nach einem Wirbelsturm wieder aufzubauen und gegen klimabedingten Hunger anzukämpfen.
In der Entwicklungszusammenarbeit ist Zeit-Sensitivität ebenso wichtig, gerade für Frauen, Mädchen und Jugendliche. Für sie ist eine gerechte Umverteilung der Zeit notwendig, damit sie ihr Leben selbstbestimmter gestalten können: Schulungen sollten nicht während der Erntezeit stattfinden, oder wenn Kinder aus dem Haus gehen oder zurückkommen.
Weil Frauen kaum an ganztägigen Schulungskursen teilnehmen können, müssen diese in kleinen zeitlich machbaren Tranchen geplant werden – im besten Fall in kleineren Gruppen, so dass eine andere Gruppe die Betreuungsarbeit übernehmen kann. Die Kurse können zeitlich rotieren, damit alle die Möglichkeit haben, teilzunehmen. Workshops vor Ort vermeiden zudem lange Reisen. Die Ausbildung von Ausbilder:innen und die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten durch Gleichaltrige sollte ebenso gefördert werden.
Auch müsse die Teilnahme an der Ausbildung in manchen Fällen irgendwie entschädigt werden, für die Teilnehmenden oder die Familien, sagt Agnieszka Kroskowska, Gender- und Inklusionsberaterin bei Helvetas. So könnten auch Menschen an Ausbildungen teilnehmen, die dringend auf ein Einkommen oder Kinderbetreuung in dieser Zeit angewiesen seien. Eine Entschädigung ermögliche die Teilnahme ohne zusätzliche finanzielle Belastung und ohne Abhängigkeiten von anderen zu schaffen. «Wir müssen uns aber auch fragen, wie Menschen langfristig entlastet werden können und eine echte Wahl darüber erhalten, wofür sie ihre Zeit wirklich einsetzen wollen», sagt sie.
Je nachdem werden in Projekten die Arbeiten im Haushalt neu verhandelt. Oder Behörden werden ermutigt, Kinderbetreuungsangebote zu schaffen oder Gemeinderatssitzungen zu familienfreundlichen Zeiten anzusetzen, damit auch Frauen daran teilnehmen können.
Infrastruktur und neue Technologien können ebenfalls helfen, Zeit einzusparen: Hängebrücken, Brunnen in Dörfern statt weit entfernter Quellen, zeitunabhängige Online-Kurse und vieles mehr. Solche Alternativen müssen jedoch mit Bedacht entwickelt werden: Für einige Frauen sei der Weg zum Brunnen beispielsweise eine gute Möglichkeit, sich im geschützten Rahmen auszutauschen, sich sozial zu engagieren und Informationen zu erhalten, sagt Kroskowska. «Dafür braucht es Alternativen und deshalb ist es wichtig, Frauen von Anfang an in die Projektgestaltung und Ideenentwicklung einzubeziehen.»
Politik als Form der Care-Arbeit begreifen
Zeit zu haben für «anderes» darf nicht Privileg einer wohlhabenderen Gesellschaftsschicht sein, sondern muss allen ermöglicht werden. Die Politik sollte daher für fair bezahlte Entlastungsangebote (z.B. für Kinderbetreuung), faire Sozialleistungen sowie angemessene und würdevolle Entlöhnung sorgen. Die Politik sollte auch jene Menschen fördern, die aus wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder familiären Gründen weniger Zeit haben, sich politisch einzubringen. Überhaupt sollte sich die Politik um das Wohlergehen aller sorgen und so eine Art von Care-Arbeit sein, die allen zugutekommt. Letztlich ist dies im Interesse einer stabilen, inklusiven und tragfähigen Demokratie.
«Alle_Zeit: Eine Frage von Macht und Freiheit», Teresa Bücker, 2022, Ullstein Verlag, teresabuecker.de