Schon während der Coronakrise sind Nahrungsmittel immer teurer geworden. Der russische Überfall auf die Ukraine verstärkt diesen Trend zusätzlich. Nebst dem sofortigen Ende der Gewalt braucht es dringend weltweit konkrete Massnahmen, um die unmittelbare Not zu lindern und die langfristige Ernährungssituation nachhaltig zu verbessern.
Überall auf der Welt verschärfen sich die humanitären Krisen. Das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) geht davon aus, dass 2022 die Zahl der akut an Hunger leidenden Menschen wegen dem Ukrainekrieg um knapp 50 Millionen ansteigen könnte – auf einen traurigen Rekordwert von bis zu 323 Millionen Frauen, Männer und Kinder weltweit.
Dabei war die Situation schon vor Kriegsausbruch dramatisch. Gemäss UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) befindet sich die Welt an einem «kritischen Punkt»: Fast jeder zehnte Mensch leidet an Hunger – wegen extremer Armut und Ungleichheit, wegen gewaltsamer Konflikte, wegen zunehmender Extremwetterereignisse im Zusammenhang mit der Klimaveränderung – und wegen Corona. Bereits im ersten Coronajahr 2020 stieg die Zahl der Menschen, die aufgrund der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Corona-Folgen «keinen Zugang zu angemessener Ernährung» haben, auf 2,37 Milliarden Menschen – ein Anstieg um 320 Millionen gegenüber dem Vorjahr.
«Wirbelsturm des Hungers»
Der Ukrainekrieg, der auch in Europa Lebensmittel und Rohstoffe verteuert, verschärft in ärmeren Ländern die bestehenden Versorgungskrisen massiv. UNO-Generalsekretär António Guterres wählte dafür drastische Worte: Die «Kornkammer Europas» werde bombardiert. 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte stammen aus Russland und der Ukraine. Hinzu kommen Produkte wie Sonnenblumenöl und Dünger, der in der industriellen Landwirtschaft in vielen Weltgegenden zum Einsatz kommt.
Für Guterres ist die russische Invasion auch «ein Angriff auf die am meisten gefährdeten Menschen und Länder der Welt»; es drohe ein «Wirbelsturm des Hungers». 45 afrikanische und am wenigsten entwickelte Länder der Welt importieren mindestens einen Drittel ihres Weizens aus der Ukraine oder Russland, 18 Länder – darunter Ägypten, Libyen und Somalia, Libanon, Senegal und der Kongo sogar über 50 Prozent. Weil bereits Millionen von Menschen akut hungern, sind viele dieser Länder schon heute auf humanitäre Hilfe und Nahrungsmittellieferungen angewiesen. Das Problem dabei: Ausgerechnet aus der Ukraine stammt über die Hälfte des Weizens, den das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) in ärmeren Ländern verteilt.
Entwicklungsländer stehen vor grossen Herausforderungen
Die ukrainische Landwirtschaft ist stark eingebrochen. Anstatt ihre Felder zu bestellen, müssen viele Bauern kämpfen. Und anstatt für Traktoren wird der Diesel für Panzer gebraucht. Für Entwicklungsländer, die stark von ukrainischem Weizen abhängig sind, ist dies ein Problem. Nebst Produktionseinbussen kommt hinzu: Die Ukraine, Russland und auch einige EU-Länder wie beispielsweise Ungarn haben Getreideexporte komplett oder zumindest in einige Länder gestoppt. Das verknappte Angebot auf den Weltmärkten, Spekulation mit Nahrungsmitteln sowie steigende Handelskosten und der fehlende Zugang zu wichtigen Häfen im Asowschen und im Schwarzen Meer lassen die Preise für Nahrungsmittel stark ansteigen; allein im Monat März laut der FAO um 12,6 Prozent. Dabei steigen die Preise für Energie, Nahrungsmittel und Düngemittel bereits seit Januar 2020 unaufhörlich, weil der Handel durch Lockdowns im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erschwert war.
Im Libanon oder in Ägypten gehen die Brotpreise durch die Decke und verschlechtern die Ernährungssituation dramatisch. Einige Länder subventionieren inzwischen Brotpreise, um Unruhen und Konflikten vorzubeugen. Während die Abhängigkeit von Weizenimporten aus der Ukraine und Russland gross ist, drohen in vielen Ländern Nordafrikas die Weizenvorräte langsam zur Neige zu gehen. Wegen fehlender Kaufkraft und schwacher Marktmacht ist für sie ein Ausweichen auf andere Exportländer grundsätzlich schwieriger als für reiche Länder. Schliesslich sind viele Entwicklungsländer bereits stark verschuldet, weil mit der Corona-Krise die Wirtschaft einbrach und gleichzeitig die Ausgaben im Gesundheitswesen und für soziale Sicherung rasant anstiegen. Aber auch in deutlich ärmeren Ländern Afrikas wie Mali, Burkina Faso und Niger, Ruanda und Kamerun, Äthiopien, Kenia oder Mosambik sind die Folgen dramatisch – weil dort die Ernährungssicherheit bereits sehr angespannt ist, verhältnismässig viel für Ernährung ausgegeben wird und der finanzielle Spielraum der Haushalte noch kleiner ist.
Tiefgreifende Veränderungen im globalen Ernährungssystem notwendig
Es braucht nun verschiedene Massnahmen, mit denen die unmittelbare Not gelindert und die langfristige Ernährungssituation nachhaltig verbessert werden kann: Kurzfristig ist humanitäre Hilfe nötig. Der «Rapid Response Plan» der FAO unterstützt ukrainische klein- und mittelgrosse Landwirtschaftsbetriebe und zielt darauf ab, lebensnotwendige Lieferketten aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig stellt die UNO 100 Millionen US-Dollar für Nahrung, medizinische Versorgung und sauberes Wasser in mehreren afrikanischen Ländern bereit. Weltweit benötigen ärmere Länder Unterstützung, um Nahrungsmittelknappheit und die steigenden Nahrungsmittelpreise abzumildern. Durch gezielte Einkommenstransfers kann die Kaufkraft verarmter Menschen erhöht werden. Gleichzeitig können westliche Länder mit strategischen Getreidereserven Teile ihrer Pflichtlager freigeben, mit dem Ziel, die internationalen Preise zu stabilisieren und die Krise zu entschärfen.
Im Rahmen der längerfristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit muss die internationale Gemeinschaft vermehrt in die ländliche Entwicklung investieren. Damit Länder weniger abhängig von Nahrungsmittelimporten werden, müssen der lokale und regionale Handel mit Nahrungsmitteln sowie eine nachhaltige Landwirtschaft gestärkt werden. Dazu gehören agrarökologische Praktiken, mit denen kleinbäuerliche Strukturen und mittelgrosse Landwirtschaftsbetriebe auf bodenschonende, pestizidarme und klimaverträgliche Weise für eine ortsnahe Versorgung mit gesunden und erschwinglichen Lebensmitteln sorgen können. Weil Agrarökologie gegenüber klimatischen Veränderungen widerstandsfähiger ist, sind die Menschen gleichzeitig besser auf extreme Wetter wie Dürren oder Starkregen vorbereitet.
Viel wirksamer als die in Europa laut werdende Forderung nach einer intensiven «Anbauschlacht 2.0» unter hohem Pestizid- und Düngemitteleinsatz und auf Kosten der Biodiversität wäre es, ein global tragfähiges Ernährungssystem zu fördern, das stärker auf pflanzenbasierte Nahrung setzt und auf die industrielle Fleischproduktion verzichtet; ein Drittel der weltweiten Anbauflächen werden für die Tierfutterproduktion eingesetzt. Während sich wohlhabende Länder also nach wie vor einen verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln (Stichwort: Food Waste) und einen ineffizienten Fleischkonsum leisten, bedrohen die Preisanstiege für Weizen und Getreide auf den internationalen Agrarmärkten gerade die Nahrungsmittelversorgung von ärmeren Haushalten in vielen Entwicklungsländern.