Schattenpandemie: Dramen hinter verschlossenen Türen

Gewalt an Frauen nimmt zu – gelernt hat man(n) nichts
VON: Rebecca Vermot - 16. Oktober 2020

Die Gewalt an Frauen und Mädchen hat während der Coronakrise und der Zeit des Lockdowns drastisch zugenommen. Doch das Ausmass liegt im Dunkeln und ein Gesamtbild wird es wohl nie geben. Nicht nur, weil nur die Hälfte der betroffenen Frauen es wagt, Gewalterfahrungen zu melden. Schuld daran sind auch Straflosigkeit, mangelnder Zugang zur Justiz und fehlende Statistiken, die das Ausmass der Gewalt aufzeigen würden.

Angriff mit der Axt, weil sie Sex verweigert. Entstelltes Gesicht, weil er ihr heisse Suppe ins Gesicht geschüttet hat. Fotos der blutüberströmten Freundin auf Facebook veröffentlicht – das Blut rührt von seinen Schlägen her. Ermordet, weil sie eine Frau ist. Das sind mitnichten Einzelfälle. Das ist Femizid, die gezielte tödliche Gewalt an Frauen und Mädchen allein wegen ihres Geschlechts. UN Women berichtet, dass in den vergangenen 12 Monaten 243 Millionen Frauen und Mädchen von ihrem Partner geschlagen, verbal misshandelt oder sexuell missbraucht wurden. 87'000 wurden umgebracht, weil sie Frauen waren. In der Schweiz wurden seit Anfang Jahr mindestens zwölf Frauen Opfer von Femizid.

Zunehmende Gewalt im Schatten der Aktualität

Die Dunkelziffer war schon immer sehr hoch, aber mit Corona verschärft sich die Situation in vielen Ländern dramatisch. Eine angekündigte Tragödie: Schon bei den Zika- und Ebola-Epidemien war die häusliche Gewalt während der Isolationszeit deutlich angestiegen. Ein Indiz war die steigende Zahl von Teenager-Schwangerschaften. UN Women spricht von einer Schattenpandemie, denn es werden wohl Corona-Opfer gezählt, nicht aber die Opfer häuslicher Gewalt. Diese wurden sowieso noch nie umfassend erfasst, weil viele Opfer sich aus Angst nicht melden, anderen davon abgeraten wird, Polizeien Anzeigen nicht aufnehmen, die «Kultur» der Straflosigkeit enorm verbreitet ist und nationale Statistiken mangelhaft sind.

Auch wenn es zu Beginn der Pandemie hiess, die Meldungen seien zurück gegangen, tatsächlich steigt die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen weltweit drastisch an. In Frankreich, wo sie seit Mitte März um 30 Prozent zunahm, in Argentinien, wo die Notrufe von Frauen um 25 Prozent anstiegen oder in der chinesischen 6-Millionen-Stadt Jingzhou, wo sich die Zahl der Berichte über Gewalt an Frauen im Februar 2020 im Vergleich zu Februar 2019 mehr als verdoppelte. Auf Zypern und in Singapur verzeichneten Helplines einen Drittel mehr Anrufe als sonst. Die britische NGO Counting Dead Women zählte drei Mal so viele Femizide in den ersten drei Wochen des Lockdowns im Vergleich zu den gleichen Wochen in den zehn Vorjahren. In Armenien meldet das Frauenhilfszentrum, das die beiden einzigen Frauenhäuser betreibt, 30 Prozent mehr Anrufe wegen häuslicher Gewalt.

Als grösste Risikofaktoren für Gewalthandlungen gelten laut einer deutschen Studie Eingesperrt sein, finanzielle Sorgen, Verlust des Arbeitsplatzes, Depressionen und jüngere Kinder. Anderswo bestrafen Männer ihre Frauen, weil sie sich dem Ansteckungsrisiko ausgesetzt hätten – die «Ausreden» erhalten neue Varianten. Hinzu kommen Polizisten, die Frauen misshandeln, die trotz Lockdown ihre Waren und Produkte feilbieten, weil sie ohne Geld ihre Miete nicht begleichen können. Soldaten vergewaltigen Frauen, während sie die Lockdown-Regeln kontrollieren. In temporären Unterkünften für Obdachlose fürchten Frauen um ihre Sicherheit.

Weniger Rechte heisst weniger Schutz

Die negativen Auswirkungen von Corona auf Frauen und Mädchen haben weitere Ausprägungen: Mädchen werden früher verheiratet, der digitale Graben für Frauen wird wieder tiefer, im informellen Sektor verlieren mehr Frauen als Männer Arbeit und Einkommen und fallen zurück in die Armut. Da der Gesundheitssektor von Frauen aufrechterhalten wird, sind sie ansteckungs- und ausbeutungsgefährdet. Die erlittenen Traumata werden ein Leben lang andauern – auch dann noch, wenn die Corona-Pandemie längst unter Kontrolle sein wird.

Gleichzeitig haben Frauen weniger Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren: Weltweit haben gemäss einer Studie des World Economic Forum Frauen nur etwa drei Viertel der gesetzlichen Rechte, die Männer für sich in Anspruch nehmen können. Virulent ist das Problem bei Familienrechten, in der Arbeitswelt, bei der Kontrolle wirtschaftlicher Vermögenswerte (etwa Landrechte) und bei Gewalterfahrungen. 4,5 Milliarden Menschen – darunter mehrheitlich Frauen und arme Menschen – sind vom rechtlichen Schutz und dessen Chancen ausgeschlossen.

Die gesellschaftlichen Kosten der Gewalt gegen Frauen werden auf 1,5 Billionen US-Dollar geschätzt – zwei Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts. Sie dürften aufgrund der wirtschaftlichen Folgen von Corona weiter ansteigen. Schlimmer noch: «Rechnet man den Wert der unbezahlten Care-Arbeit von Frauen weltweit hinzu, sprechen wir von einem Betrag von 12 Billionen US-Dollar, der der Weltwirtschaft entgeht», sagt Agnieszka Kroskowska, Genderbeauftragte bei Helvetas. Der Betrag sei sicher um einiges höher, denn beides werde mangels Daten unterschätzt. «Nicht nur verstösst Gewalt an Frauen und Mädchen gegen die Menschenrechte, auch würde die Beendigung von Diskriminierung und Gewalt wesentlich dazu beitragen, die Welt gleichberechtigter, stabiler und sicherer zu machen. Das muss in unser aller Interesse liegen – jetzt mehr denn je», sagt Agnieszka Kroskowska.

Massnahmen, um Licht ins Dunkel zu bringen

Ein notwendiger erster Schritt im Kampf gegen die Schattenpandemie ist das systematische Erfassen spezifischer, geschlechtergetrennter Daten und detaillierter Informationen zu Gewalt an Frauen und Mädchen. Denn ein Problem wird in seinem vollen Umfang erst fassbar und erkannt, wenn es von den verantwortlichen Stellen gesehen wird – und dazu muss es gemessen werden. Gleichzeitig müssen Opferhilfestellen als systemrelevant anerkannt und Geld für deren Ausbau gesprochen werden, denn die bestehenden Angebote platzen aus allen Nähten. Weiter müssen Frauenorganisationen, die sich für Veränderungen auf politischer Ebene einsetzen, besser ausfinanziert werden. Es braucht mehr niederschwellige Angebote, wo Frauen von ihren Peinigern unbemerkt Alarm schlagen können. Ein Beispiel: In Frankreich, Spanien, Griechenland, Belgien und den Niederlanden sind Apotheken aufgefordert, die Polizei zu rufen, wenn im Laden das Codewort «Maske 19» fällt.

Kanada und Australien haben den Aufwand für den Kampf gegen häusliche Gewalt ins Corona-Budget integriert, Costa Rica vergibt zinsgünstige Kredite an benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Das UNO-Entwicklungsprogramm UNDP hat einen Gendertracker eingeführt, wo Massnahmen von Regierungen aufgeführt und analysiert werden. Darin finden sich viele gute Ansätze – aber es braucht noch mehr. «Frauen müssen an Gelder kommen. Die Staaten müssen Bargeld direkt in ihre Hände bringen», sagt Karin Nordmeyer von UN Women Deutschland.

Die weitverbreitete Straflosigkeit bei Gewalt an Frauen und Mädchen ist unerträglich. Bestehende Gesetze müssen umgesetzt, unbrauchbare verschärft werden. Eine gewaltfreie Welt für Frauen sollte eigentlich selbstverständlich sein. Denn erst wenn Frauen die gleichen Rechte und Chancen haben, diese sicher wahrnehmen und davon profitieren können, kommt die Welt als Ganzes voran.

Redaktorin
Rebecca Vermot
© Keystone

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