Erstaunen konnte es nicht: Bundesrat Cassis hatte im Parlament mit seiner Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021-2024 und den zugehörigen Rahmenkrediten ein politisches Heimspiel. Weder bei der Ausrichtung noch bei der Höhe der Gelder leistete das Parlament Widerstand. Die Mittel werden für die vielen Aufgaben allerdings nicht ausreichen.
Als der Bundesrat am 19. Februar dieses Jahres dem Parlament seine «Botschaft zur Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021–2024 (IZA-Strategie 2021–2024)» vorlegte, war von vorne herein klar, dass diese die parlamentarischen Hürden nehmen würde, ohne Federn lassen zu müssen. Geschickt hatte der Bundesrat einige wichtige Anliegen aus der 2019 durchgeführten Vernehmlassung in die Strategie eingeflochten und so allfälligen Gegenstimmen den Wind aus den Segeln genommen.
Ein Selbstbedienungsladen für nachhaltige Entwicklung
Um den in der Vernehmlassung geäusserten Anliegen gerecht zu werden, hatte der Bundesrat neu explizit die UNO-«Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung» als Referenzrahmen aufgenommen, die Armutsreduktion als «Raison d’être» für die vier strategischen Hauptziele der IZA festgeschrieben, sich verpflichtet, politisch kohärent zu handeln und die Bedeutung der Zivilgesellschaft und ihre Stärkung in der Strategie verankert.
An den vier Hauptzielen hatte es schon im Vorfeld wenig Kritik gegeben – zu allgemein und beliebig in ihrer Umsetzung sind sie in der Strategie formuliert: gezielte Wirtschaftsförderung und die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze; Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen sowie nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen; Sicherstellung der Grundversorgung (Bildung, Gesundheit) und Verminderung von Flucht- und Migrationsursachen; Förderung von Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Geschlechtergleichstellung. Letztlich lassen sich alle Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Agenda 2030 darin wiederfinden.
Nur in zwei Bereichen blieb Bundesrat Cassis trotz gegenteiliger Forderungen in zahlreichen Vernehmlassungsantworten standhaft: Die Rahmenkredite wurden nicht erhöht (der Bundesrat veranschlagte 11,25 Milliarden Franken) und der Ausstieg der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit der DEZA aus Lateinamerika war nicht verhandelbar.
Bescheidene Mittel
Die Mehrheit des Parlaments wollte ebenfalls nichts wissen von einer leichten Erhöhung der Mittel um 2 Prozent oder 239 Millionen Franken für die fünf Rahmenkredite. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) hatte einen entsprechenden Antrag vorgängig knapp gutgeheissen und war damit dem Parlamentsbeschluss vom 28.02.2011 – einer «Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens bis 2015» – nachgekommen. Anträge auf Kürzungen der Mittel (um 10 respektive 43 Prozent – sic!) beziehungsweise auf eine klare Erhöhung um 37 Prozent waren schon in der Kommission chancenlos gewesen.
Nur einmal scherte der Nationalrat etwas aus, als er einen Antrag guthiess, wonach sich der Maximalbetrag der IZA-Gelder pro Jahr auf maximal einen Viertel der bewilligten Rahmenkredite belaufen dürfe. Die Rahmenkredite auf diese Art linear zu vierteln, wäre einer Kürzung der Mittel gleichgekommen, da der Bundesrat erfahrungsgemäss die IZA-Ausgaben in den ersten Jahren der Laufzeit tiefer budgetiert und sie dann in den Folgejahren progressiv erhöht – was ihm mit diesem Antrag verunmöglicht worden wäre. Da aber der Ständerat nichts davon wissen wollte und der Nationalrat in zweiter Lesung auf seinen Antrag verzichtete, war das Thema vom Tisch und das Störmanöver erfolgreich versenkt.
Verantwortungsloser Rückzug aus Haiti
Beim Rückzug der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit der DEZA aus Lateinamerika und der Karibik wäre Cassis’ Rechnung aber fast nicht aufgegangen. Denn die APK-N hatte eine Motion überwiesen, die eine punktuelle Weiterführung der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in dieser Region verlangte. Nur mit dem Zufallsmehr von 90:89 Stimmen lehnte der Nationalrat dieses Ansinnen ab.
Für den Bundesrat sollte das ein Signal sein: Der Rückzug stösst bei Kennerinnen und Kennern der Region auf wenig Verständnis. Für sie ist es fahrlässig, das Schweizer Engagement für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und gute Regierungsführung leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Geradezu unverantwortlich ist insbesondere ein Rückzug aus Haiti, dem einzigen «Least Developed Country» in der Region. Das Land ist von Armut geprägt und äusserst fragil. Ein Programm zu beenden, das zur Stärkung der Zivilgesellschaft, des Staates und der Privatwirtschaft beiträgt sowie eine inklusive und gerechte Entwicklung fördert, kann eigentlich nicht im Interesse der Schweiz sein.
Jedenfalls werden mit der geografischen Fokussierung nun mehr Mittel frei für andere Regionen, speziell auch für Subsahara-Afrika, das sich im Aufbruch befindet, aber nach wie vor als ärmste Region weltweit gilt und vor grossen Herausforderungen steht. Im Zentrum müssen daher Investitionen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung und nicht – wie der Bundesrat schreibt – Herausforderungen «im Zusammenhang mit der Schweizer Migrationspolitik» stehen.
Zu wenig Ressourcen für die Folgen der Corona-Pandemie
Die Auswirkungen der Coronakrise lassen sich noch lange nicht ermessen. Eines aber ist gewiss: Die Wirtschaft im Globalen Süden ist schon heute drastisch eingebrochen und die extreme Armut (1,90 US-Dollar pro Kopf und Tag) wird massiv ansteigen – nachdem sie lange Zeit sukzessive zurückgegangen war und 2017 bei 689 Millionen Armen lag. Die Weltbank geht in einer aktuellen Berechnung davon aus, dass «im Jahr 2020 aufgrund von COVID-19 weitere 88 Millionen Menschen in extremer Armut leben werden» und dass diese Zahl je nach Schwere der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf 115 Millionen ansteigen könnte, vor allem in Südasien und Subsahara-Afrika.
Dazu kommen in den Entwicklungsländern weitere Corona-bedingte Schwierigkeiten wie die Erschütterung des globalen Ernährungssystems, die existenzielle Bedrohung für viele Kleinbauernfamilien und für Beschäftigte des informellen Sektors, speziell auch in der Arbeitsmigration und der Heimarbeit, oder der Einbruch bei den Rücküberweisungen. Diese Liste liesse sich fortsetzen und macht eins deutlich: Auch auf die internationale Zusammenarbeit kommen immense Herausforderungen zu. Angesichts der bescheidenen dafür zur Verfügung stehenden Mittel der OECD-Länder gerät das gemeinsame Ziel der Agenda 2030, «niemanden zurückzulassen», zur Makulatur.
Natürlich würde sich grundsätzlich kaum etwas ändern, wenn das Parlament einer leichten Erhöhung der Kredite für die internationale Zusammenarbeit der Schweiz zugestimmt hätte. Aber es hätte damit zumindest symbolisch gezeigt, dass ihm das Schicksal der armen, von der Corona-Pandemie betroffenen Menschen im Globalen Süden nicht gleichgültig ist. Mit dem mutlosen Durchwinken der IZA-Strategie und der Rahmenkredite hat das Parlament eine Chance verpasst.