Das Schwellenland Peru konnte während zwei Jahrzehnten ein stattliches Wirtschaftswachstum vorweisen. Mit der Coronakrise kam der Einbruch. Heute gehört Peru zu den Ländern mit den weltweit höchsten Ansteckungs- und Todeszahlen pro Million Einwohnerinnen und Einwohner. Die Wirtschaft schrumpft, die Armut wächst und den staatlichen Institutionen fehlen Ressourcen.
Ein Sonntagnachmittag im Oktober in Lima. Kleine Zeichen der Hoffnung auf Normalität: Vor vier Wochen hat die Regierung die sonntägliche Ausgangssperre auf ein Verbot des motorisierten Privatverkehrs beschränkt. Familien und Paare flanieren durch die Strassen und Pärke oder sind mit dem Fahrrad unterwegs. Nach einem nebligen Winter liegt Frühling in der Luft und hebt die Stimmung, auch wenn alle vorschriftsgemäss mit Maske unterwegs sind und viele zusätzlich ein Plastikvisier tragen, einige sogar Ganzkörperschutzanzüge. Erstmals seit Mitte März sitzen wieder Gäste in Restaurants. Die Metropole Lima kommt allmählich wieder in die Gänge.
Weltweit bei den meisten Ansteckungen und Todesfällen
Ende Juli noch waren die Anzahl täglicher Neuinfektionen nach Ende April und Mai erneut stark angestiegen. Doch seit Ende September entspannt sich die Situation: Seit dem 29. September sind die täglichen Todesfallzahlen zweistellig, nachdem sie seit Mitte Mai durchgehend dreistellig gewesen waren. Die Anzahl täglicher Neuinfektionen ging mittlerweile auf rund 3’300 pro Tag zurück.
Noch Anfang September war die Stimmung düster. Viele Menschen hatten das Gefühl einer Schlinge, die sich langsam um den Hals zuzieht. Praktisch jeder hat Familienmitglieder oder Bekannte, die erkrankt waren oder gestorben sind. Die landesweiten Zahlen verdeutlichen dies: Schon seit Monaten befindet sich Peru mit einer Bevölkerungszahl von 33 Millionen Menschen weit oben auf der Länderliste der Anzahl laborbestätigter Fälle. Am 14. Oktober lag das Land mit über 854’000 Infektionen und 33’300 Todesfällen auf dem achten Platz, mehrheitlich umgeben von anderen Schwellenländern, insbesondere aus Lateinamerika (Brasilien, Kolumbien, Argentinien, Mexiko). Umgerechnet auf eine Million Einwohnerinnen und Einwohner gehört Peru mit 25’800 Ansteckungen und 1000 Todesfällen zu den Ländern mit den weltweit höchsten Werten.
Untersuchungen zur «Übersterblichkeit» (das heisst zur erhöhten Anzahl Todesfälle verglichen mit den erwarteten Werten aufgrund der Anzahl der vergangenen Jahre) verdeutlichen allerdings, dass auch in Peru die tatsächliche Anzahl Todesfälle im Zusammenhang mit Corona in den vergangenen Monaten deutlich über der genannten Zahl liegen dürfte, wie Waldo Mendoza, Wirtschaftsprofessor an der Katholischen Universität Peru (PUCP) bestätigt: «Wir haben 80’000 Todesfälle, die fast alle auf COVID-19 zurückzuführen sind, und nicht 32’000, wie von offizieller Seite gemeldet wurde.»
Zum Vergleich: Die Schweiz lag am 14. Oktober auf Platz 55 der Länderliste der Infektionsfälle, mit 68’700 Infektionen und 2100 Todesfällen. Auf eine Million Einwohnerinnen und Einwohner kamen somit 7920 Infektionen und 243 Todesfälle. Seit Beginn des Ausbruchs wurden in Peru pro eine Million Menschen rund 124’000 Tests, in der Schweiz 177’000 Tests durchgeführt.
Soziale Ungleichheit als Nährboden für die Verbreitung des Virus
Weshalb trifft die Pandemie Peru besonders hart? Wie in anderen Schwellenländern hat die internationale Mobilität der Ober- und Mittelschicht die anfängliche Verbreitung des Virus beschleunigt. Die ausgeprägte soziale Ungleichheit und die schwachen öffentlichen Institutionen liessen die von der Regierung sehr schnell verfügten, weitreichenden Massnahmen teilweise wirkungslos verpuffen. In Peru arbeiten bis zu 70 Prozent der wirtschaftlich Aktiven im informellen Sektor. Obwohl das Land gemäss Weltbank-Klassifizierung zu den «Upper Middle Income Countries» gehört, lebten 2019 ca. 20 Prozent der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze und mussten mit weniger als 5,50 US-Dollar pro Kopf und Tag auskommen. Viele Menschen – Tagelöhner, Strassenverkäufer, Hausangestellte usw. – sind auf tägliche Einkünfte angewiesen und mussten deshalb trotz der Quarantäneregeln nach draussen um zu arbeiten. Arme Familien leben zudem häufig auf engem Raum. Sie können Abstandsregeln kaum einhalten und sich nicht isolieren. Etwa drei Viertel aller armen Haushalte haben keinen Kühlschrank und müssen regelmässig einkaufen. So entwickelten sich lokale Märkte, aber auch Banken, die staatliche Unterstützungszahlungen auszahlten, zu Infektionsherden.
Peru hat ein im regionalen Vergleich grosses wirtschaftliches Hilfspaket geschnürt. Doch die öffentlichen Dienste sind trotz des Rohstoffbooms des vergangenen Jahrzehnts chronisch unterfinanziert. Die Folgen – etwa ungenügend ausgestattete öffentliche Krankenhäuser und prekäre Sanitärinstallationen in öffentlichen Schulen – erschweren die Präventionsmassnahmen und die medizinische Behandlung.
Steigende Armut und schrumpfende Wirtschaft
Die gravierenden Folgen der Coronakrise für Wirtschaft und Gesellschaft werden nun immer deutlicher. Gemäss der peruanischen Zentralbank verloren im zweiten Quartal 2020 rund 6,7 Millionen Peruanerinnen und Peruaner ihre Arbeit (40% aller Beschäftigten), weil die Produktion einbrach und weil die peruanische Wirtschaft höchst informell organisiert ist.
Die Armutsquote wird gemäss Prognosen von 20 auf neu gut 27 Prozent der Bevölkerung ansteigen. Das heisst konkret, dass 2,4 Millionen Menschen in Peru neu von Armut betroffen sein werden. Das wirft die peruanische Gesellschaft auf das Armutsniveau von 2011 zurück; ein grosser Teil der beachtlichen Reduktion der Armut seit der Jahrtausendwende wird damit zunichte gemacht.
In den vergangenen zwei Dekaden war die Wirtschaft Perus gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) stark gewachsen. Das Land verzeichnete das höchste durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum ganz Lateinamerikas. Das BIP-Wachstum lag zwischen 2001 und 2019 im Schnitt bei 4,9% jährlich und während dreier Jahren gar im Bereich zwischen gut 8 und 9%. Haupttreiber dieses Wachstums waren die starke Nachfrage nach Rohstoffen und nach Dienstleistungen.
Die Coronakrise mit den weitreichenden und langandauernden Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens führen nun aber zu starken wirtschaftlichen Einbrüchen. Die peruanische Zentralbank rechnet damit, dass das BIP im laufenden Jahr um knapp 13 Prozent einbrechen und erst 2022 wieder das Niveau des vierten Quartals 2019 erreichen wird. Angesichts der gegenwärtigen Unsicherheiten und der hohen Abhängigkeit einzelner Sektoren wie der Tourismus vom Ausland erscheinen solche Projektionen aus gegenwärtiger Perspektive allerdings reichlich optimistisch.
Die Krise hat die Versäumnisse der vergangenen peruanischen Regierungen schonungslos aufgedeckt: Trotz Wirtschaftswachstum hat das Land zu wenig investiert in öffentliche Dienste, in sichere Arbeitsplätze und faire Arbeitsbedingungen, in soziale Sicherungsnetze und ein gutes Gesundheitssystem. Entsprechend werden die gravierenden ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie und der Wirtschaftskrise die kommenden Jahre in Peru ohne Zweifel prägen.
Die internationale Zusammenarbeit kann Anstösse und einen Beitrag an die Lösung einiger dieser Probleme zum Wohle benachteiligter Gruppen der peruanischen Bevölkerung leisten. Somit bleibt sie auch im Kontext eines Schwellenlandes mit beträchtlichem wirtschaftlichen Potenzial notwendig und wichtig.