Seit 20 Jahren verspricht die Staatengemeinschaft, den weltweiten Hunger systematisch zu reduzieren und bis 2030 gar zu beenden. Doch noch immer sind weltweit gegen 700 Millionen Menschen chronisch unterernährt, Tendenz steigend. Und daran ist nicht nur Corona Schuld. Zero Hunger rückt in immer weitere Ferne, was nicht sein müsste, wie der neue Welthunger-Index zeigt. Hunger könnte beendet werden.
Vor 20 Jahren beschloss die UNO-Generalversammlung in ihrer Millenniumserklärung feierlich, «bis zum Jahr 2015 […] den Anteil der Menschen, die Hunger leiden, zu halbieren». Am Ende der Laufzeit des Millenniumsentwicklungsziels 1 «Beseitigung der extremen Armut und des Hungers» war der Anteil unterernährter Menschen in den Entwicklungsregionen deutlich gesunken. Vor allem dank Erfolgen bei der Hungerbekämpfung in China und Lateinamerika waren 2015 laut FAO «nur noch» etwa 650 Millionen Menschen – rund 9 Prozent der Weltbevölkerung – dauerhaft unterernährt, etwa 250 Millionen weniger als im Jahr 2000.
Dass aber in einer globalisierten Welt mit einem globalen Bruttoinlandprodukt von damals rund 75 Billionen US-Dollar (durchschnittlich über 10'000 US-Dollar pro Kopf) noch immer jeder elfte Mensch an chronischer Unterernährung litt, war ein Skandal, den es unbedingt auszulöschen galt. Daher verpflichtete sich die Staatengemeinschaft 2015 mit der «Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung» – dem Anschlussdokument zur Millenniumserklärung –, zu «Zero Hunger» bis 2030 (Sustainable Development Goal 2). Konkret heisst das: den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.
Hunger und Corona
Seither sind fünf Jahre vergangen, ein Drittel der Strategieperiode, und Erfolge sind ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Zahlen sind leicht angestiegen. 2019 waren fast 690 Millionen Menschen unterernährt, mehr also als 2015. Angesichts dieser Entwicklung und der Folgen der Corona-Pandemie warnt die UNO: «Wenn sich die jüngsten Trends fortsetzen, wird die Zahl der vom Hunger betroffenen Menschen bis 2030 auf über 840 Millionen ansteigen.» Das wären dann wieder fast so viele wie damals, als die Millenniumsziele beschlossen worden waren.
Von diesem Skandal handelt auch der Welthunger-Index 2020 (WHI 2020). Im Oktober erschien die 15. Ausgabe des jährlichen Berichts zur Hungersituation auf globaler, regionaler und nationaler Ebene. Er beschreibt die Verbreitung des Hungers in einzelnen Entwicklungs- und Schwellenländern und misst sowohl Fortschritte als auch Misserfolge im globalen Kampf gegen den Hunger. Dabei bewertet er die Situation auf der Grundlage der vier Indikatoren Unterernährung, Auszehrung bei Kindern (zu geringes Gewicht im Verhältnis zur Körpergrösse), Wachstumsverzögerung bei Kindern und Kindersterblichkeit.
Eingestuft wird die Hungersituation je nach Schweregrad als niedrig, mässig, ernst und sehr ernst. In elf Ländern stuft der WHI 2020 die Hungerlage als sehr ernst ein: in Madagaskar, Tschad, Burundi, Somalia, dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo, den Komoren, Osttimor, Syrien und dem Jemen. In weiteren 40 Ländern gilt sie als ernst. Besonders prekär ist die Situation in Subsahara-Afrika, wo im Zeitraum 2017-2019 über 20 Prozent der Bevölkerung, rund 230 Millionen Menschen, den Kalorienbedarf nicht decken konnten.
Analog der Warnungen der UNO zeichnet auch der WHI 2020 ein düsteres Bild. Konflikte, Armut, Ungleichheit, Naturkatastrophen und die Folgen des Klimawandels treiben die Hungerzahlen in die Höhe. Im östlichen Afrika bedrohte in diesem Jahr zudem eine Heuschreckenplage die Ernten und Ernährungsgrundlagen der dortigen Bevölkerung. Noch nicht abschätzen lassen sich die Folgen der Corona-Pandemie. Die FAO geht aufgrund vorläufiger Berechnungen davon aus, dass 2020 zusätzliche 83 bis 132 Millionen Menschen an Hunger leiden dürften. Dank der für 2021 zu erwartenden Erholung dürfte die Zahl wieder sinken, allerdings nicht auf das Niveau vor Corona.
One Health, ein systemischer Ansatz zur Ernährungssicherheit
Die Misserfolge bei der Ernährungssicherheit in den vergangenen Dekaden haben deutlich gemacht, dass die aktuellen Ernährungssysteme weder stabil noch gerecht genug sind, um globalen Krisen erfolgreich begegnen oder gar den Hunger bis 2030 wirklich besiegen zu können. Mit anderen Worten: Ernährungssysteme müssen fair, gesund und umweltfreundlich werden. Dazu braucht es eine ganzheitliche Lösung, wie sie ein Autorenteam des britischen Think Tanks Chatham House im WHI 2020 skizziert: «One Health» ist ein integrierter Ansatz für Gesundheit und Ernährungssicherheit, der die Wechselwirkungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und ihrer gemeinsamen Umwelt ins Zentrum stellt und dabei auch die Rolle gerechter Handelsbeziehungen berücksichtigt. Der Ansatz helfe, aktuelle und zukünftige Gesundheits- und andere Krisen abzuwenden, die Gesundheit des Planeten wiederherzustellen und den Hunger zu beenden.
Heute wisse man, dass das menschliche Handeln die Gesundheit des Planeten beeinträchtige: die Bodenqualität verschlechtert sich, die Treibhausgasemissionen steigen und die Biodiversität schwindet dramatisch. Das alles sei untrennbar mit der Gesundheit von Tier und Mensch verbunden. Viele neu auftretende Krankheiten seien zurückzuführen auf den vermehrten Kontakt zwischen Mensch und Tier, auf die Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion sowie auf die Zunahme des internationalen Verkehrs. Die landwirtschaftliche Produktion ebenso wie die öffentliche Gesundheit müssten gemäss den Autoren des Chatham House vor Naturkatastrophen und grenzüberschreitenden Krankheiten geschützt werden. So liesse sich sicherstellen, dass die Menschen Zugang zu sicherer, nahrhafter und gesunder Ernährung haben.
Im Mittelpunkt steht das Recht auf Nahrung
Um das ambitionierte Ziel, den Hunger bis 2030 zu beenden, doch noch zu erreichen – und damit das Recht auf Nahrung für alle zu gewährleisten –, müssen gemäss dem WHI 2020 die verschiedenen Gesundheits-, Umwelt-, Wirtschafts- und Ernährungskrisen ganzheitlich und in einer gemeinsamen globalen Anstrengung bewältigt werden. Die heutigen Ernährungssysteme sind Teil des Problems und müssten nachhaltiger und widerstandsfähiger ausgestaltet werden. Der Schlüssel liege darin, ein gesundes und gerechtes Ernährungsumfeld mit fairen und existenzsichernden Einkommen für Kleinbäuerinnen, Fischer und Produzentinnen zu schaffen und entlang der Wertschöpfungsketten Menschenrechte und Umweltschutz einzuhalten.
Der WHI 2020 schlägt als kurzfristige Massnahme zur Hungerbekämpfung unter anderem vor, analog dem Gesundheits- und Bildungswesen die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung in allen Ländern als eine unverzichtbare öffentliche Dienstleistung einzustufen, die von Regierungen sicherzustellen ist. Mittel- bis langfristig wären dann beispielsweise Handels- und Investitionsvereinbarungen, die Entwicklungsländer benachteiligen, zu beheben und eine zirkuläre Ernährungswirtschaft einzufordern, bei der Ressourcen recycelt, natürliche Systeme regeneriert, Abfälle minimiert und Umweltverschmutzung eliminiert werden.
Am 10. Dezember 1948 schrieb die UNO-Generalversammlung in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: «Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.» Fast auf den Tag genau 72 Jahre später tut sich die Weltgemeinschaft noch immer schwer, dieses Recht durchzusetzen.