Menschenrechte und Umweltschutzstandards sind eng verbunden mit Rechtsgleichheit und Gerechtigkeit für alle. Dieser Grundsatz liegt der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zugrunde, die «niemanden zurücklassen will». Ein Bericht der internationalen «Task Force for Justice» zeigt auf, wie weit die Weltgemeinschaft noch davon entfernt ist: Aufgrund von Rechtslücken erleiden fünf Milliarden Menschen Unrecht.
Im Streit um die Konzernverantwortungsinitiative sagte Bundesrätin Karin Keller Sutter Anfang November gegenüber der NZZ: «Mich irritiert dieses zunehmend Moralisierende: Moralisch richtig liege immer ich, und alle anderen liegen falsch. Das ist ein Totschlägerargument. Dieser neue, selbstgerechte Moralismus hat fast alle Bereiche erfasst: Politik, Wirtschaft, Ökologie, Gleichstellung.» Ihre Empörung zielte am eigentlichen Thema vorbei: Es ging in der Sache um gleiches Recht und Gerechtigkeit für alle, auch für die Menschen in Entwicklungsländern – und nicht um Moral.
Dabei stehen Recht und Gerechtigkeit keineswegs für das Gleiche, auch wenn sie miteinander verbunden sind und oft vermengt werden. Nicht immer ist das in Gesetzen geformte Recht auch gerecht. Umgekehrt gibt es keine durchsetzbare Gerechtigkeit, wenn sie nicht in einer (staatlichen) Rechtsnorm verankert ist. Ein Beispiel: Traditioneller Landbesitz, der nicht gemäss modernem staatlichen Recht verbrieft ist, kann rechtlich oft nicht durchgesetzt werden, auch wenn dies noch so gerecht wäre. Genauso die Menschenrechte: Um sie ordnungsgemäss und für alle Menschen gleich durchzusetzen, müssten sie überall gesetzlich anerkannt sein – wobei aber zu sagen ist, dass ihre allfällige Nichtanerkennung durch Gesetze die universelle Gültigkeit der Menschenrechte nicht in Frage stellt.
Dieses komplexe Zusammenspiel von Recht und Gerechtigkeit verdeutlicht, wie wichtig Rechtssicherheit und Rechtstaatlichkeit sind und wie wichtig ein Rechtssystem ist, das auf den Menschenrechten fusst und in dem die Rechtsgleichheit für alle verankert ist.
Nicht alle haben Zugang zur Justiz
Dass Gerechtigkeit und Rechtsgleichheit für alle gelten müssen, ist auch der Kerngedanke der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Die UN-Staatengemeinschaft versprach vor fünf Jahren einstimmig, «niemanden zurückzulassen». Dafür muss unter anderem der gleichberechtigte Zugang zur Justiz für alle gewährleistet sein. Der unlängst erschienene Bericht «Justice for all» der renommierten internationalen Task Force for Justice verdeutlicht, wie gross die Herausforderungen im Jahr 2020 bei der Umsetzung der Agenda 2030 sind. Er zeigt elementare Rechtslücken und die damit verbundenen Formen von Ungerechtigkeit auf. Über fünf Milliarden Menschen – Zweidrittel der Weltbevölkerung – erleiden Unrecht, weil sie in einer dieser Lücken gefangen sind:
- 4,5 Milliarden Menschen sind von gesetzlich verankerten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Chancen und Möglichkeiten ausgeschlossen: Sei es, weil sie über keine legale Identität verfügen (über eine Milliarde Frauen und Männer), weil sie keinen gültigen Arbeitsvertrag haben, da sie im informellen Sektor beschäftigt sind oder weil ihnen der Nachweis von Wohnraum oder Grundbesitz fehlt (je über zwei Milliarden Menschen). Dies macht die Betroffenen verletzlich für Missbrauch und Ausbeutung und erschwert ihnen den Zugang zu wirtschaftlichen Opportunitäten und öffentlichen Dienstleistungen.
- Etwa 1,5 Milliarden Menschen haben rechtliche Probleme, die sie nicht zu lösen vermögen: Dazu gehören Opfer von Gewalt oder Verbrechen ebenso wie Menschen, die in einen chancenlosen Rechtsstreit verwickelt sind. Beispiele sind Landrechtsfragen, arbeitsrechtliche Konflikte oder wenn Frauen und Männern der berechtigte Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verweigert wird. Weltweit sind derzeit fast 60 Prozent der Justizprobleme ungelöst.
- Mindestens 253 Millionen Menschen sind Opfer von eklatanter Rechtlosigkeit und extremer Ungerechtigkeit: 40 Millionen Kinder, Frauen und Männer werden als «moderne» Sklaven gehalten, 12 Millionen sind unverschuldet staatenlos, und über 200 Millionen leben in grosser Unsicherheit in Ländern ohne funktionierende Rechtsstaatlichkeit. Anstatt gerichtlich Schutz zu erhalten, sind sie häufig Gewalt durch staatliche oder parastaatliche Akteure ausgesetzt.
SDG 16: «Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen»
Diese Fakten zeigen, wie wichtig die weltweite Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Agenda 2030 ist. Dies gilt insbesondere für Ziel 16. Dieses fordert, dass friedliche und inklusive Gesellschaften gefördert, allen Menschen der gleichberechtigte Zugang zur Justiz ermöglicht sowie leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufgebaut werden müssen. Voraussetzungen dafür sind Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene ebenso wie diskriminierungsfreie Rechtsvorschriften und Politiken.
Doch die Zwischenbilanz der UNO ist ernüchternd: Die Rechtsstaatlichkeit hat sich in den meisten Ländern genau so wenig verbessert wie der Zugang zur Justiz. Die Corona-Pandemie hat die Situation vielerorts so weit verschlimmert, dass UNO-Generalsekretär Antonio Gutierrez die Regierungen schon im April 2020 nachdrücklich aufforderte, ihre Reaktionen auf Corona transparent zu gestalten, Rechenschaft darüber abzulegen und sicherzustellen, dass alle Notfallmassnahmen legal, verhältnismässig, notwendig und nichtdiskriminierend seien. In dieser Zeit der Coronakrise die Menschenrechte zu respektieren, sei der beste Weg, um wirksame und umfassende Lösungen für die Notsituation von heute und für die Erholung von morgen zu schaffen.
Justizreformen für die Menschen
Zum selben Schluss kommt die Task Force for Justice. Sie plädiert für Justizreformen, die die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum rücken und sich nicht auf die Reform von Institutionen und Prozessen beschränken. Rechtsgleichheit brauche es vor allem bei Gewalt und Kriminalität in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz und zu Hause. Bei Streitigkeiten um Wohnraum, Land oder bei Konflikte mit Nachbarn. Aber auch beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sowie bei Familienstreitigkeiten, etwa bei Scheidung und Erbschaft.
Ein Beispiel, das die Bedeutung solcher Reformen verdeutlicht: In Tadschikistan trat 2013 das «Gesetz zur Verhütung von Gewalt in der Familie» in Kraft. Es ermöglicht Frauen, rechtlich gegen Diskriminierung und Gewalt vorzugehen und stärkt ihre Rolle in der Gesellschaft.
Überall auf der Welt wird die Forderung nach «Justice for all» lauter. Zivilgesellschaftliche Organisationen verlangen Klimagerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, den rechtlichen Schutz von Migrantinnen und Migranten oder gesetzliche Regelungen gegen Landgrabbing, zur Eindämmung von Umweltverschmutzung oder zum Schutz der Biodiversität – immer mit dem Anspruch, niemanden zurückzulassen und Rechtsgleichheit für alle herzustellen.
Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr aufhalten, aber sie braucht weitere internationale Efforts im Zeichen der Agenda 2030. Die Task Force for Justice sagt es so: «Um bis 2030 in einer Welt, in der Milliarden Menschen keine Gerechtigkeit zuteilwird, Gerechtigkeit für alle zu schaffen, müssen wir Rechtsprobleme lösen, Unrecht und Ungerechtigkeiten verhindern und die Rechtssysteme dazu nutzen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, uneingeschränkt an ihren Gesellschaften und Volkswirtschaften teilzuhaben.»