Eine intakte Biodiversität und funktionierende Ökosysteme mit ihren Dienstleistungen für Mensch, Tier und Umwelt sind zentrale Ressourcen für Gesellschaft und Wirtschaft. Ein neuer Index des Rückversicherers Swiss Re erfasst die Risiken, die entstehen, wenn diese Ressourcen schwinden. Der Befund ist alarmierend: In jedem fünften Land drohen die Ökosysteme zusammenzubrechen. Der Index muss auch Entwicklungsorganisationen als Grundlage ihres Handelns dienen.
Am 22. August war Erdüberlastungstag – der Tag, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen die Fähigkeit der globalen Ökosysteme zur Reproduktion dieser Rohstoffe im ganzen Jahr überstieg. Dass er drei Wochen später erreicht wurde als 2019, hatte mit dem geringeren Ressourcenverbrauch wegen des Corona-bedingten Lockdowns zu tun. Auch 2020 lebt die Weltbevölkerung also wegen ihres ökologischen Fussabdrucks monatelang auf Pump. Der Fussabdruck der Schweiz ist noch viel grösser: Sie erreichte den Tag bereits am 8. Mai. Auf Dauer hält das Ökosystem dem nicht stand und droht zu kollabieren.
Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen: Der BES-Index
Der Erdüberlastungstag steht für Entwicklungen, die nicht nur für viele arme Menschen eine oft tödliche Gefahr bedeuten, sondern auch für Unternehmen erhebliche Risiken darstellen. Und wer, wenn nicht ein Rückversicherungsunternehmen, beschäftigt sich besonders genau mit solchen Risiken? Swiss Re, die weltweit zweitgrösste Rückversicherungsgesellschaft mit einem Prämienvolumen von über 38 Milliarden US-Dollar (2019), legte im September 2020 eine Studie vor, die sich mit den Folgen der Biodiversitätsrisiken für die Wirtschaft beschäftigt.
Der Bericht untersucht den Zustand der Biodiversität und der Ökosystemdienstleistungen (Biodiversity and Ecosystem Services, BES). Dabei misst die Biodiversität entsprechend der UN-Biodiversitätskonvention die Anzahl, die Vielfalt und Variabilität von lebenden Organismen (Tier- und Pflanzenarten, Pilze, Mikroorganismen). Sie umfasst weiter die Vielfalt innerhalb von Arten, zwischen Arten und zwischen Ökosystemen, und auch, wie sich die Vielfalt von einem Ort zum anderen und im Laufe der Zeit verändert.
Ökosystemdienstleistungen stehen für den Nutzen, den die Menschen aus Ökosystemen ziehen. Sie umfassen gemäss dem Millennium Ecosystem Assessment des World Resources Institute «versorgende Dienstleistungen wie Nahrung, Wasser, Holz und Fasern, regulierende Dienstleistungen, die Klima, Überschwemmungen, Krankheiten, Abfälle und Wasserqualität beeinflussen, kulturelle Dienstleistungen, die der Erholung, Ästhetik und Spiritualität dienen, und unterstützende Dienstleistungen wie Bodenbildung, Photosynthese und Nährstoffkreisläufe».
Auf der Grundlage einer detaillierten Datenerhebung errechnete Swiss Re einen länderspezifischen Index, der den Anteil fragiler und intakter Ökosysteme im jeweiligen Land angibt. Dabei ist die Gesamtbewertung der Risiken komplex, ergibt sie sich doch aus einer breiten Sammlung verschiedener Einzelrisiken. Es werden zehn Bereiche analysiert: die Intaktheit von Lebensräumen, die Nahrungsmittelversorgung, die Wassersicherheit, die Regulierung von Luftqualität und Mikroklima, die Bodenfruchtbarkeit, die Bestäubung, die Wasserqualität, die Holzversorgung, die Erosionskontrolle und der Küstenschutz.
Der Befund ist alarmierend
Die Daten wurden für die ganze Welt aus öffentlich verfügbaren, peer-geprüften wissenschaftlichen Studien zusammengetragen, re-klassifiziert und re-analysiert, mit einer Auflösung von einem Quadratkilometer. Swiss Re stellt die aggregierten Daten den registrierten Nutzerinnen und Nutzern auf dem Online-Gefahrenatlas CatNet® zur Verfügung, wobei die wichtigsten Länderdaten in der Studie bereits veröffentlicht wurden.
Zusammengenommen ergibt sich aus den BES-Daten ein ganzheitliches Bild des weltweiten Zustands der Biodiversität und der Ökosysteme. Die Ergebnisse sind von existenzieller Bedeutung, bilden die BES doch die Grundlage aller weltweiten wirtschaftlichen Aktivitäten. Und die Ergebnisse sind alarmierend: Über die Hälfte des globalen Bruttoinlandprodukts (55%) ist direkt von funktionierenden BES abhängig. Doch in einem Fünftel aller Länder sind die Ökosysteme auf mehr als 30 Prozent der Landesfläche in einem fragilen Zustand und drohen zusammenzubrechen, weil die Biodiversität und die damit verbundenen Leistungen schwinden.
Die Resultate des BES-Index machen deutlich, dass Entwicklungsländer ebenso gefährdet sind wie Industrieländer. Besonders anfällig sind jene Entwicklungsländer, die stark vom Agrarsektor abhängen, darunter Kenia, Nigeria, Vietnam, Pakistan und Indonesien. Die Gefahr, dass diese Länder ökologische und wirtschaftliche kritische Kipppunkte erreichen könnten, ist gemäss Swiss Re gross. Umso wichtiger wäre eine wirtschaftliche Diversifizierung in Verbindung mit konsequenten Naturschutz-Massnahmen.
Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung? Nicht ganz
Swiss Re zielt mit ihrem BES-Index auf Unternehmen und Finanzinstitute, damit diese sich vor ökologischen Schocks schützen, ihre Strategien und Produkte auf die Risiken abstimmen und zum Schutz der BES beitragen können. Damit will sie gleichzeitig einen Beitrag zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 (SDGs) und der Aichi Ziele für Biodiversität leisten. Letztere sind ein Schlüsselelement der auslaufenden UNO-Dekade für Biodiversität 2011-2020 und sollen in Form eines Post-2020 Biodiversität Rahmenplans intensiv weiterverfolgt werden, da sie noch längst nicht erreicht sind. Die Dringlichkeit des Handelns wurde auch am UN-Gipfel über die Biodiversität von Ende September betont, an dem dringende Massnahmen zum Schutz der Biodiversität für eine nachhaltige Entwicklung gefordert wurden. Die Weltgemeinschaft müsse alles daransetzen, die Vision für die Biodiversität bis 2050, "Leben in Harmonie mit der Natur", zu verwirklichen.
Was den BES-Index wertvoll macht, ist das detaillierte, weltweite Erfassen der Biodiversität und der Ökosystemdienstleistungen. Damit kann er für staatliche und private Entwicklungsagenturen eine wichtige Grundlage sein, wenn es darum geht, Programme und Projekte zu entwerfen und dabei die Wiederherstellung beziehungsweise Erhaltung von Ökosystemen zu beachten. Doch solange die Daten den registrierten Nutzerinnen und Nutzer vorbehalten bleiben, ist die Wirksamkeit des BES-Index für das Erreichen der SDGs eingeschränkt. Mit der Freigabe der Daten für alle Interessierte könnte Swiss Re ihren Beitrag an die Agenda 2030 deutlich erhöhen.
Allerdings reicht es für die Umsetzung der SDGs nicht aus, auf Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen zu fokussieren. Um ein ganzheitliches Bild realer und potenzieller Risiken zu bekommen, braucht es zusätzlich eine sorgfältige Analyse der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Erst dann lassen sich auch Handlungsoptionen zum Umgang mit den verschiedenen Risiken entwickeln. Eine solche Analyse leistet der jährlich erscheinende WeltRisikoBericht, der auch einen gleichnamigen Index umfasst. Der Grundgedanke des Berichts: Das Risiko, dass sich extreme Naturereignisse zur Katastrophe entwickeln, ist immer nur zum Teil von deren Stärke selbst abhängig. Ebenso entscheidend sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Strukturen, um im Katastrophenfall schnell reagieren zu können.
Dazu und zu den weiteren Ergebnissen des WeltRisikoBerichts 2020 mehr in der nächsten Ausgabe der Polit-Sichten vom 22. Januar 2021.