Geht es um die Coronapandemie, ist die Welt nicht nur zweigeteilt, sondern in zahlreiche Einzelteile aufgesplittert. Das längst überwunden geglaubte Diktat «Grenzen zu!» ist wieder an der Tagesordnung. Dies zeigt sich nun auch – aller globalen Versprechen zum Trotz – beim Impf-Nationalismus reicher Länder. Die Menschen im globalen Süden haben wieder einmal das Nachsehen. Dabei ist ihre Situation besorgniserregend, wie eine aktuelle Studie zeigt.
Die Schweiz hat für ihre Bevölkerung von 8,6 Millionen Menschen gut 34 Millionen Impfdosen bestellt und mittlerweile 6 Prozent der Menschen geimpft. Andere Länder waren im Rennen um die Impfdosen forscher und impfen schneller – es ist ein Wettlauf auf Kosten der armen Länder. Denn der Impf-Nationalismus reicher Länder macht blind gegenüber dem Geschehen im globalen Süden.
Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), warnt eindringlich: «Solange wir die Pandemie nicht überall beenden, werden wir sie nirgendwo beenden.» Auch, weil grenzüberschreitende Mobilität und globaler Warenverkehr es verunmöglichen, das hoch ansteckende Virus allein auf nationaler Ebene einzudämmen. Schon deswegen drängt UNO-Generalsekretär António Guterres auf einen globalen Impfplan, denn «wenn man dem Virus erlaubt, sich wie ein Lauffeuer im globalen Süden zu verbreiten, wird es immer wieder mutieren». Neue Varianten könnten so übertragbarer und tödlicher werden und möglicherweise die Wirksamkeit der derzeitigen Impfstoffe gefährden. Davor wären dann auch die nationalen Impf-Festungen in Europa nicht gefeit.
Auf dem afrikanischen Kontinent haben erst wenige Staaten mit dem Impfen begonnen. In Südafrika erhielten weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung bereits ein Spritze. Angenommen wird, dass die Bevölkerung in den meisten afrikanischen Ländern erst Mitte 2023 oder Anfang 2024 geimpft sein wird – sofern dafür dann auch die geeignete Infrastruktur und Logistik wie Lager- und Transportkapazitäten mit durchgängiger Kühlkette zur Verfügung stehen.
Corona verschärft die Situation im globalen Süden
Während also im Norden mit der angelaufenen raschen Durchimpfung der Bevölkerung eine wirtschaftliche Erholung zu erwarten ist, nehmen die Verwerfungen in ärmeren Ländern weiter zu. Schon heute sind diese besorgniserregend, wie eine aktuelle Studie von Alliance2015, zu der verschiedene europäische Entwicklungsorganisationen einschliesslich Helvetas gehören, zeigt. Rund 16'000 Menschen in 25 Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wurden Ende 2020 nach den Auswirkungen der Pandemie auf ihr Leben befragt. Wie überall verursachen weniger die gesundheitlichen Folgen des Virus’ als vielmehr die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Eindämmungsmassnahmen das grösste Leiden. Die soziale Ungleichheit verschärft sich weiter, wobei Frauen und Kinder, Ältere und Menschen mit Behinderungen besonders hart getroffen werden.
Rund drei Viertel der Befragten verfügen aufgrund der Corona-Massnahmen über weniger Geld. Sei es, weil sie als Gelegenheitsarbeiterinnen und Tagelöhner im informellen Sektor ihrer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können, sei es, weil sie weniger Geldüberweisungen von Verwandten aus dem In- und Ausland erhalten. Jede vierte angestellte Person hat ihren Arbeitsplatz verloren. Über zwei Drittel der Befragten mussten sich Geld leihen oder konnten nur noch auf Kredit einkaufen. Dadurch verschlechtert sich die Ernährungssituation, besonders in Subsahara-Afrika, wo fast die Hälfte der Befragten weniger oder nur noch Nahrungsmittel von geringer Qualität zur Verfügung haben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Märkte wegen des Lockdowns geschlossen bleiben und in der Folge die Nahrungsmittelpreise ansteigen. Die Weltbank geht für 2020 von einem globalen Preisanstieg von 14 Prozent aus.
Einbrüche und Defizite bei Bildung und Grundversorgung
Besorgniserregend sind die Folgen bei der Schulbildung. Für zwei Drittel der Kinder hat sich der Zugang verschlechtert, weil in vielen Regionen die Schulen über Monate geschlossen blieben – in einigen Ländern bis heute – und es keine alternative Lernmöglichkeiten gab. Viele Kinder und Jugendliche kehrten bei Wiedereröffnung nicht mehr in die Schule zurück, da sie wegen der Notlage ihrer Familie Geld verdienen müssen. Noch ist nicht abschätzbar, welche Folgen dies in den nächsten Monaten und Jahren haben wird. Unbestritten ist aber, dass je schlechter die Ausbildung, desto geringer das Einkommen ist. Berechnungen der Weltbank deuten darauf hin, dass die bereits verpassten Schulstunden in Subsahara-Afrika zu einem kumulierten Mindereinkommen von nahezu 500 Milliarden US-Dollar führen werden. Das sind rund 7000 US-Dollar pro Kind – bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen von deutlich weniger als 1600 US-Dollar.
Die Studie ergab zudem, dass die meisten Menschen zwar wissen, wie man sich vor dem Virus schützt. Doch wenig überraschend ist die Versorgung mit sauberem Wasser, Seife und Masken vielerorts völlig ungenügend. Entweder sind diese Güter nicht erhältlich oder die Menschen können sie sich nicht leisten, wie rund ein Drittel der Befragten sagte. Hier braucht es kontinuierliche und weitergehende Anstrengungen, vordringlich in Flüchtlingslagern, in Schulen und Gesundheitseinrichtungen.
COVAX: Initiative der Solidarität oder Feigenblatt für reiche Länder?
Um eine weitere Zuspitzung der Krise im Süden zu verhindern, muss der Impf-Nationalismus der reichen Länder dringend beendet und ein weltweit gerechter Zugang zu Impfstoffen geschaffen werden. Dazu haben die WHO und weitere Institutionen schon im April 2020 die Impfstoffverteilplattform COVAX ins Leben gerufen, mit der Idee, dass die reichen Länder Impfstoffe für die armen Staaten finanzieren. Bis Ende 2021 sollen zwei Milliarden Impfstoffdosen bereitstehen, wobei 1,3 Milliarden an ärmere Länder verteilt werden. Die zwei Milliarden sind für Gesundheitspersonal (3 Prozent), vor allem aber für gefährdete Personen bestimmt – etwa 20 Prozent der Bevölkerung.
Erste Lieferungen haben begonnen: Am 24. Februar erhielt Ghana 600'000 Dosen, zwei Tage später die Elfenbeinküste deren 540'000. Weitere Länder folgen. Noch sind das Tropfen auf den heissen Stein. Um rechtzeitig die benötigten Mengen an Impfstoffen in Länder mit beschränkten finanziellen Mitteln zu liefern, braucht es eine faire Aufteilung des knappen Guts. Doch noch haben die reichen Länder einen Grossteil der verfügbaren Impfstoffe für sich reserviert. Auch die Schweiz beteiligt sich laut Bundesamt für Gesundheit an COVAX. Nicht uneigennützig, geht es doch darum, «dadurch Zugang zu Impfstoffen für bis zu 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung zu erhalten». Ende Dezember 2020 hatte sie sich 16 Millionen Impfdosen gesichert, ein Fünftel davon im Rahmen von COVAX. Mittlerweile hat sie wie gesagt über 34 Millionen Dosen bestellt. Damit gehört sie mit zu den am besten versorgten Ländern der Welt. Gleichzeitig trägt sie in nur bescheidenem Mass zur COVAX-Initiative bei, damit «wirtschaftlich schwächere Länder (…) einen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen erhalten» – nämlich mit gerade einmal 20 Millionen Franken.
Doch damit COVAX erfolgreich sein kann, müssen Regierungen und Impfstoff-Hersteller auch zum Technologie-Transfer und zur Lockerung von Patentrechten für Impfstoffe zugunsten der armen Länder bereit sein. Vor allem, weil die Forschung nach Impfstoffen mit sehr viel öffentlichen Mitteln finanziert wurde. Doch Hersteller und Regierungen tun sich schwer, geht es doch dabei um viel Geld. So auch die Schweiz: Sie lehnt die Forderung von Schweizer NGOs ab, sich bei der WTO dafür einzusetzen, dass der Patentschutz zeitweise aufgehoben wird. Ein solcher Antrag, der von Indien und Südafrika eingebracht worden war und in der WTO/TRIPS-Verhandlungsrunde vom 10.-11. März diskutiert wird, sei «zu fundamentalistisch». Doch eine dezentrale Herstellung von Impfstoffen würde vieles beschleunigen.
Bewegung kommt nun von Seiten der UNO in die Sache. Am 27. Februar forderte der Sicherheitsrat in einer einstimmig verabschiedeten Resolution eine gerechte weltweite Verteilung von Corona-Impfstoffen, mit der Länder mit tiefem und mittlerem Einkommen unterstützt werden sollen. Es wird auch höchste Zeit. Denn dies ist nicht nur im Interesse des globalen Südens, sondern der ganzen Welt.