Russlands autokratischer Machthaber Vladimir Putin führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für Europa bedeutet dies eine Zeitenwende. Angesichts der Autokratisierung vieler Länder sollten Demokratien weltweit in Alarmbereitschaft sein. Wenn die demokratische Ordnung bestehen bleiben soll, müssen sie vereint und entschlossen gegen autokratische Tendenzen vorgehen.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein oft gehörtes Narrativ, dass es Moskau nicht nur um seine Einflusssphäre auf ehemalige sowjetische Gebiete geht, sondern auch um eine Destabilisierung der demokratischen Ordnung. Die Rede ist von einer Zeitenwende für Europa: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg greift ein souveräner Staat einen anderen souveränen Staat an und stellt seine demokratische Existenzberechtigung in Frage. Damit zerschellt die politische Ordnung, die Europa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 30 Jahren errichtet hat.
Demokratie und Freiheit auf dem Prüfstand
Noch vor vier Monaten trat die demokratische Welt selbstsicher auf: Weit über 100 Staaten diskutierten auf Einladung der US-Regierung am (virtuellen) «Weltgipfel für Demokratie» darüber, wie Demokratie gegen Autoritarismus zu verteidigen, die Korruption zu bekämpfen und die Menschenrechte zu fördern seien. Auslöser des Gipfels waren – neben der populistisch befeuerten, gesellschaftspolitischen Spaltung der USA – die geopolitische Polarisierung zwischen den USA, China und Russland und die schleichende Erosion demokratischer Institutionen in vielen Staaten.
Einen solchen Gipfel einzuberufen, war berechtigt. Er hatte aber einen Konstruktionsfehler: Nur «gut etablierte und jüngere Demokratien» durften teilnehmen. Aussen vor blieben insbesondere China und Russland, die NATO-Partner Türkei und Ungarn und die meisten Staaten des Nahen Ostens, Südostasiens, Nord- und Subsahara-Afrikas sowie Zentralasiens. Russland störte sich zudem daran, dass sieben der 15 früheren Sowjetrepubliken eingeladen worden waren, darunter Armenien, Georgien und die Ukraine. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen zeigen, dass die Auswahl der Geladenen sicher nicht ideal war. Denn der exklusive Club der Demokratien am Gipfel machte die Welt nicht demokratischer, sondern verhärtete die Fronten der Staatengemeinschaft. Wer die Demokratie stärken will, muss die Diskussion darüber mit allen Staaten führen.
«Demokratische Depression»
Die liberale Nichtregierungsorganisation Freedom House stellt in ihrem neuen Bericht «Freedom in the World 2022» mit Sorge fest, dass Länder, die sich im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Autoritarismus bewegen, zunehmend zu Letzterem tendieren: «Die globale Ordnung steht kurz vor einem Wendepunkt, und wenn die Verfechter der Demokratie nicht zusammenarbeiten, um Freiheit für alle Menschen zu gewährleisten, wird sich das autoritäre Modell durchsetzen.» Denn autoritäre Regime werden immer effektiver darin, Normen und Institutionen, die die grundlegenden Freiheiten garantieren, zu unterwandern oder zu umgehen und Anderen, die das Gleiche tun wollen, Hilfe zu gewähren.
Laut Freedom House verlieren die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten seit 16 Jahren weltweit jedes Jahr weiter an Boden und die Regierungsführung und Rechtstaatlichkeit werden immer weiter geschwächt – auch in vielen Demokratien. Nur noch 20 Prozent der Weltbevölkerung lebten 2021 in einer «freien Welt», 2005 waren es noch 46 Prozent.
Doch es wäre zu kurz gegriffen, die schleichende Erosion demokratischer Institutionen allein auf die Angriffe von autokratischen Regime zurückzuführen. Die Grundlagen liberaler demokratischer Gesellschaften – Toleranz gegenüber Unterschieden, Achtung der individuellen Rechte, Rechtsstaatlichkeit – sind bedroht, da «die Welt unter einer demokratischen Rezession oder sogar einer Depression leidet», wie Francis Fukuyama es unlängst formulierte.
Die Schwächen demokratischer Staaten
Viele Demokratien in Europa (und anderswo) wurden in den letzten Jahren durch drei innere Entwicklungen geschwächt: durch einen demagogischen Populismus, einen autoritären Nationalismus und die zunehmende Macht des Cyberspace mit Überwachung und Meinungsmanipulation.
So fühlen sich viele Wählerinnen und Wähler zunehmend von nationalistischen ebenso wie von populistischen Parteien und Bewegungen angezogen. Mit ihren hemdsärmeligen Auftritten und undifferenzierten Parolen wenden sich diese direkt an das «Volk» und umgehen die Parlamente als zentrale demokratische Institutionen. Rechtsstaat und Meinungsfreiheit bedeuten ihnen wenig.
In Osteuropa gibt es autoritär-nationalistische «illiberale Demokratien», in denen gewählte Regierungen die demokratischen Grundprinzipien wie faire Wahlen schrittweise ausser Kraft setzen und den Rechtsstaat missachten – allen voran Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Sie schränken die Grund- und Freiheitsrechte der Bevölkerung, speziell jene von Minderheiten und Andersdenkenden, ebenso ein wie die Medien-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Unabhängige Nichtregierungsorganisationen werden verboten.
Mit Internet und sozialen Medien – früher oft als Befreiungstechnologie verstanden – ist die Wahrheit manipulierbar und käuflich geworden. Fake News, Propaganda und politische Verunglimpfung werden als «Minenfelder der Information» gezielt eingesetzt, um demokratische Institutionen zu destabilisieren und Gegner zu schwächen. Besonders deutlich wird die Macht des Cyberspace aktuell in Russlands Kriegsführung gegen die Ukraine.
Darüber hinaus hat auch die neoliberale Durchdringung moderner Gesellschaften dazu beigetragen, Demokratie und Freiheit zu schwächen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs gaben zunehmend «die Märkte» den Ton an. Die neoliberale Politik der Privatisierungen, Deregulierungen, und damit verbunden die Individualisierung, führten dazu, dass staatliche Institutionen unter Druck gerieten und viele wichtige Entscheidungen heute ausserhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt werden. Der Rückgang der politischen Partizipation hat vielerorts zu einer Postdemokratie geführt, «in der zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, […] in der allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Expertinnen und -Experten die öffentliche Debatte […] kontrollieren», wie der Politikwissenschaftler Colin Crouch schon vor fast 20 Jahren beschwor und nun wieder bekräftigt.
Orientierungshilfe für Demokratien
Die schleichende Zersetzung demokratischer Normen hat mit dazu beigetragen, dass autokratische Regime in den letzten zwei Jahrzehnten mit ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht international an Einfluss gewinnen konnten. Ihre Ordnung fusst aber keineswegs auf einer einheitsstiftenden Ideologie oder auf eine Verbundenheit zwischen den Machthabenden. Vielmehr beruht sie auf dem eigenen Interesse, die Macht zu erhalten und Taten zu verschleiern. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, ob China seine Unterstützung Moskaus angesichts der russischen Kriegsgräuel noch lange aufrechterhalten wird, haben beide Länder doch unterschiedliche politische Systeme und wirtschaftliche und geopolitische Interessen, ganz abgesehen von tiefen kulturellen Unterschieden.
Eine übergeordnete liberale Weltordnung mit Normen und Regeln gibt es nun mal nicht, aber es gibt die Charta der Vereinten Nationen als Instrument des Völkerrechts. Sie garantiert keine demokratische Ordnung, aber sie legt als gemeinsame Aufgabe fest, den Weltfrieden zu sichern, das Völkerrecht einzuhalten, die Menschenrechte zu schützen und die internationale Zusammenarbeit zu fördern. Sie wurde von allen UN-Mitgliedstaaten unterzeichnet und ist für alle verpflichtend. Daran sollten sich Demokratien orientieren und sich mit aller Kraft für die Werte der Charta und die Hoffnungen, die damit verbunden sind, einsetzen. Sonst gewinnen die autokratischen Kräfte die Überhand.