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Messen, was wirklich zählt

Die Welt braucht eine Alternative zum BIP
VON: Patrik Berlinger, Rebecca Vermot - 11. Juni 2024
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Die UNO will noch in diesem Jahr eine Alternative zum Bruttoinlandprodukt (BIP) etablieren, weil die Messgrösse angesichts der sozialen und ökologischen Herausforderungen längst überholt ist. Statt nachhaltigen Fortschritt und inklusive Wohlfahrt zu messen, ist das BIP ein Gradmesser für rein monetäres Wirtschaftswachstum und vermeintlichen Wohlstand. Ein Umdenken tut Not. 

Fast so alt wie das BIP ist die Kritik an der Messgrösse. So sagte der US-amerikanische Politiker Robert F. Kennedy 1968 in einer Rede: «Das Bruttoinlandprodukt misst alles, ausser dem, was das Leben lebenswert macht.» Tatsächlich gibt es grosse Zweifel daran, ob das BIP die Wohlfahrt einer Gesellschaft abbildet. 

Das BIP bleuchtet die Leistung einer Volkswirtschaft aus rein monetärer Sicht. Freiwillige Einsätze, unbezahlte und unbezahlbare Care-Arbeit und Wertschöpfung im Rahmen der informellen Wirtschaft, wie sie in vielen Entwicklungsländern nach wie vor weit verbreitet ist, werden mit dem BIP nicht erfasst. Werden beispielsweise Kinder in der Familie betreut anstatt in einen kostenpflichtigen Hort geschickt, sinkt das BIP. Oder wie Mariana Mazzucato, Professorin für Innovationsökonomie am University College in London es am WEF einst formulierte: «Wenn Sie Ihre Putzfrau heiraten, sinkt das BIP. Was sagt uns das?» Es besagt: Für die Berechung des BIP werden nur Leistungen gezählt, die ein Preisschild haben. Und: Dass die Neo-Ehefrau weiter sauber macht, einfach ohne Geld dafür zu erhalten.  

Gleichzeitig erhöhen «negative» Ereignisse das BIP: Aufwändige Aufräumarbeiten nach der Havarie eines Öltankers steigern das BIP ebenso wie der kostspielige Wiederaufbau nach Extremwetterereignissen wie Hurrikane und Überschwemmungen. Selbst eine höhere Kriminalitätsrate kann das BIP «positiv» beeinflussen, etwa durch vermehrte Polizeieinsätze und Schadensfälle. Unberücksichtigt bleibt hingegen die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen: Ob ein T-Shirt unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt wird oder nicht, ist dem BIP egal. Schliesslich sagt der Messwert, der auch als pro-Kopf-Mass genutzt wird, nichts über die Einkommensverteilung bzw. die Ungleichheit in einer Gesellschaft aus. 

Alternativen zum BIP  

Angesichts der dramatischen Rückschläge bei der Umsetzung der Agenda 2030 ist das BIP als Gradmesser für Fortschritt, Wohlfahrt und Lebensqualität geradezu irreführend und schädlich. Doch, welche Alternativen gibt es? Nach der Finanzkrise 2008/09 machte sich die OECD daran, das BIP zu ergänzen. Bildung, Gesundheit und Klimaschutz müssten ebenfalls erfasst werden, um Politik zu steuern, entschied die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der reichen Länder der Welt. Entstanden ist daraus der umfassende Better Life Index. Er ermöglicht einen Ländervergleich anhand von elf Themen, u.a. Wohnsituation und Einkommensmöglichkeiten, Bildung und ziviles Engagement, Work-Life-Balance, Gesundheit und Umwelt. Durchgesetzt hat er sich nicht. 

Besser bekannt ist der Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP aus dem Jahr 1990. Er umfasst die Lebenserwartung, Bildung und das BIP pro Kopf. Heute gibt es kaum eine Länderanalyse, in der nicht auf den HDI-Wert verwiesen wird. Nach 30 Jahren wurde die Messgrösse mit dem «um planetarische Belastungen bereinigte Index der menschlichen Entwicklung» (planetary pressures-adjusted Human Development Index, PHDI) ergänzt. Dabei wird auch der Ressourcenverbrauch (Wasserverbrauch, Waldrodung, materieller Fussabdruck) und die Umweltbelastung (CO2-Ausstoss, Stickstoffeinsatz) berücksichtigt. Wenig verwunderlich rutschen im angepassten Index Länder wie die USA, Australien, Saudi-Arabien, Katar und Singapur nach unten. 

Die Schweiz hingegen befindet sich auch beim angepassten HDI auf Rang 1 – womit auch gleich die Schwäche des PHDI deutlich wird: die Berechnung der «vierten Dimension». So blendet der Indikator für die Berechnung des Pro-Kopf-CO2-Ausstosses import- und konsumbedingte Emissionen aus und umfasst einzig die Emissionen, die innerhalb der Landesgrenzen entstehen. Diese machen im Fall der Schweiz aber lediglich einen Drittel der Gesamtemissionen aus, wodurch ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Umweltbelastung abgebildet wird. Trotz dieses Vorbehalts ist die Weiterentwicklung des HDI begrüssenswert. 

Weniger bekannt ist der Multidimensional Poverty Index, der 110 Entwicklungsländer umfasst. Der Index zeigt die ganze Palette sozialer Deprivation, also der Entbehrung und Benachteiligung auf, von Ernährungssicherheit und Bildung über die Lebenserwartung und Behausung bis hin zum Zugang zu Toiletten, Elektrizität und Trinkwasser. Ebenfalls wenig bekannt ist, dass China mit dem Gross Ecosystem Product experimentiert, wobei der Wert der Natur in die Berechnungen miteinfliessen soll, indem Ökosystem-Leistungen einen Marktpreis erhalten sollen. Und schliesslich gibt es noch die Gross National Happiness, eine offizielle Messgrösse des asiatischen Kleinstaats Bhutan. Diese soll das gesamthafte Wohlergehen der Bevölkerung, inkl. materiellem Wohlstand, aber auch psychischem Wohlbefinden, abbilden. 

Negative Auswirkungen auf andere Länder bleiben unterbelichtet 

Der Better Life Index oder der (erweiterte) Human Development Index sind eine gutgemeinte Ergänzung zum BIP. Sie weisen aber gemeinsame Mängel auf: Sie fokussieren lediglich auf den Zustand innerhalb eines Landes. So schneidet z.B. die Schweiz beim Sustainable-Development-Goals-Index (SDG-Index) hervorragend auf Rang 15 von 166 bewerteten Ländern ab. Der ebenfalls ausgewiesene Spillover-Score ist allerdings inakzeptabel hoch: Platz 157 von 166 bewerteten Ländern. Das heisst: Die Schweiz behindert mit ihrem Handeln andere Länder, sich nachhaltig zu entwickeln. 

Verantwortlich dafür sind unter anderem Waffenlieferungen an autokratische Länder wie Saudi-Arabien. Der schweizerische Finanzplatz als ein Fluchthafen für Steuerflüchtende. Multinationale Unternehmen, die mittels Gewinnverschiebungen Steueroptimierung auf Kosten der Ärmsten betreiben. Und Schweizer Grossbanken, die Millionen mit der Unterstützung und Finanzierung von klimaschädlichen Unternehmen im Öl-, Kohle- und Gassektor verdienen. 

Ein neuer Wohlfahrtsindikator jenseits des BIP  

Die Menschheit braucht dringend einen Ausweg aus dem Wachstumszwang, der zu wenig Rücksicht auf soziale, ökologische und menschliche Verluste nimmt. Eine realistische Bewertung von Wohlstand und Fortschritt ist Voraussetzung dafür, dass die notwendige Transformation der Welt gelingt und die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO erreicht werden. Am Summit of the Future im Rahmen der UNO-Generalversammlung im Herbst 2024 wird UNO-Generalsekretär António Guterres aufzeigen, wie ein Wohlfahrtsindikator jenseits des BIP («Beyond GDP») aussehen könnte. 195 Regierungen werden darum ringen, wie gemessen werden kann, was für inklusive Wohlfahrt und nachhaltigen Fortschritt wirklich zählt.  

Relevant für die Diskussionen sind der SDG-Index mit den negativen Spillovers auf andere Länder sowie der vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP 2012 ins Leben gerufene Inclusive Wealth Index, der die Fähigkeit einer Nation misst, menschliches Wohlergehen im Laufe der Zeit zu schaffen und zu erhalten. Die Debatte dürfte ein wichtiger Schritt in Richtung eines neuen Wirtschaftssystems sein, das Natur und Mensch wieder ins Zentrum stellt, statt des (kurzfristigen) Gewinns und den Reichtum einzelner. 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation
Redaktorin
Rebecca Vermot
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