Am 12. Januar 2010 erschütterte ein Erdbeben Haiti. In der Hauptstadt Port-au-Prince forderte das Beben Hunderttausende Todesopfer, darunter Regierungsverantwortliche, was die Koordination der Nothilfe und des Wiederaufbaus erschwerte. Im politischen Vakuum schlug die internationale Hilfe eine Richtung ein, die im Nachhinein von Haitianerinnen und Haitianern als kolonialistisch kritisiert wurde. Heute, zehn Jahre später, fragt sich, welche Wirkung Entwicklungszusammenarbeit in Haiti entfalten kann.
Die Erde bebte unweit der Hauptstadt Port-au-Prince, eine Stunde bevor es dunkel wurde. Strom und Kommunikationsmöglichkeiten brachen zusammen. Die Kathedrale fiel ein, Regierungsgebäude und Archive wurden zerstört. Wie viele Menschen starben, ist bis heute nicht klar. Die Schätzungen reichen von 200’000 bis 500’000 Menschen. Haiti legte sich ein Jahr nach dem Beben auf 316'000 Tote fest.
Heute, zehn Jahre später, ist der Wiederaufbau abgeschlossen. Die Schweizer Hilfswerke haben gemäss einer Evaluation der Glückskette gute und nachhaltige Arbeit geleistet, deren wichtigste Anliegen, von Wasserversorgung, Häuser und Hygiene über Bodenschutz bis zur Katastrophenvorsorge, von der Bevölkerung noch heute hochgehalten werden. Sie konnten auf ihren Netzwerken im Land aufbauen, da sie schon lange vor dem Beben auf der Karibikinsel tätig waren. Die Schweizer Hilfe baute auf lokalen Strukturen auf und bezog die Bedürfnisse von Behörden und Menschen mit ein. Die Begleitung der Glückkette und die Präsenz der Deza erwiesen sich als weiterer Vorteil der Schweizer Hilfe.
Die internationale Hilfe aus anderen Ländern hingegen wurde nach dem Beben von der Bevölkerung Haitis als korrumpierend und korrumpiert empfunden: Sie habe zu oft die Fragilität des Landes und die Armut der Menschen verschärft, weil Land und Leuten die Fähigkeit abgesprochen worden war, sich selbst zu helfen. Viele internationale Organisationen liessen sich denn auch nicht in die Koordination des nationalen Wiederaufbaus einbinden und entzogen sich so jeglicher Kontrolle; versprochenes Geld floss nicht und wenn, dann profitierten zu oft Unternehmen der Geberländer, die für den Wiederaufbau beauftragt worden waren. Besonderen Schaden richtete die Nahrungsmittelhilfe an, welche nationalen Bemühungen zur Stärkung des heimischen Agrarsektors zunichtemachte.
Fragiler Kontext
Die Aufmerksamkeit, die Haiti nach dem Beben hatte, ist verebbt. In die Schlagzeilen schafft es das Land inzwischen nur, wenn einmal mehr politische Unruhen das Leben in Port-au-Prince lahmlegen, wie im Februar und jüngst im Oktober. Steigende Inflation und Nahrungsmittelknappheit treiben die Leute auf die Strasse, Korruption und Tatenlosigkeit der Regierung erzürnen sie zusätzlich. Im November geplante Wahlen fanden nicht statt, bis auf zehn Senatoren legt das Parlament seine Aufgaben gemäss Verfassung Anfang 2020 nieder; Bürgermeister im ganzen Land riskieren ihre demokratische Legitimation zu verlieren. Die Opposition will nun verhindern, dass Präsident Jovenel Moïse danach per Dekret regieren kann und so die demokratischen Errungenschaften weiter erodieren. In dieser Situation, in der die Politik derart mit sich selbst beschäftigt ist und die Menschen für ein würdiges Leben auf die Strasse gehen, vergrössern kriminelle Gangs ihren Aktionsradius.
In diesem Kontext, in dem die Regierung weder Grundversorgung noch Sicherheit gewährleisten kann, in dem ein Drittel der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen ist, in dem Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Straflosigkeit allgegenwärtig sind und in dem Naturkatastrophen regelmässig die Lebensgrundlagen zerstören, ist zusätzlich zur Humanitären Hilfe eine sorgfältige Entwicklungszusammenarbeit allen Widrigkeiten zum Trotz unabdingbar. Denn die langfristig angelegte Entwicklungszusammenarbeit respektiert die Bedürfnisse und Anliegen der Menschen und arbeitet mit ihrem Potenzial. Sie verbessert die Ernährungssicherheit, fördert nachhaltig eine umweltschonende Landwirtschaft und den Bodenschutz, bringt die Aufforstung voran, schützt die Biodiversität, sichert den Zugang zu Wasser und schafft mit Bildungsprojekten berufliche Perspektiven für junge Menschen. Eine sorgfältige Entwicklungszusammenarbeit stärkt die Menschen auch auf lokaler Ebene in der Überzeugung, dass nationale Veränderungen von den Haitianerinnen und Haitianern selbst angestossen werden müssen.
Lokale Strukturen stärken
Trotz all den Schwierigkeiten lässt sich auf lokaler Ebene gut arbeiten, weil die Kontrolle durch Bürgerinnen und Bürger über die lokalen Behörden funktioniert und die Zivilgesellschaft aktiv bleibt. Damit sind Projekte nicht von Wahlen und Bürgermeistern abhängig, sondern vom Willen der Bevölkerung, ihre Situation verändern zu wollen.
Viel schwieriger als die Arbeit mit den Menschen in den Regionen ausserhalb der Hauptstadt ist es, angesichts von Demonstrationen und Strassenblockaden überhaupt in die Dörfer zu gelangen. Helvetas stärkt deshalb seit den grossen Unruhen vom Februar 2019 noch gezielter die lokalen Partnerorganisationen, damit diese auch ohne die unmittelbare Unterstützung der Projektverantwortlichen vor Ort die Arbeit fortführen können. Wenn Reisen aus Sicherheitsgründen unmöglich sind, greift eine Art «Fernbetreuung», die sich bewährt hat.
In diese schwierige Situation fällt die Absicht des Bundesrats, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Haiti bis Ende 2024 zu beenden – eine weitherum geschätzte und beispielhafte Hilfe, welche die Deza seit 2011 sorgfältig aufgebaut und womit sie sich einen guten Ruf erarbeitet hat. Das Programm unterstützt die Stärkung der Zivilgesellschaft, des haitianischen Staates und der Privatwirtschaft bei der Entwicklung einer starken Regierungsführung für eine inklusive und gerechte soziale und ökonomische Entwicklung. Damit diese Unterstützung wirksam bleibt, fordern die in Haiti tätigen Schweizer Hilfswerke vom Bundesrat, die finanzielle Ressourcen und eine angemessene Präsenz der Entwicklungszusammenarbeit in Haiti langfristig sicherzustellen. Der angekündigte Rückzug hiesse, dass die Schweiz in Haiti nur noch mit humanitärer Hilfe präsent sein würde. Damit lassen sich jedoch die strukturellen Probleme nicht lösen und das Land nicht voranbringen. Die heutige Entwicklungszusammenarbeit in Haiti bekämpft Ursachen der Armut, nicht nur Symptome. Ausserdem liefern die in Haiti gemachten Erfahrungen wichtige Erkenntnisse für die Schweizer Zusammenarbeit in anderen fragilen Kontexten.
Auch zweihundert Jahre nach der Unabhängigkeit ist Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Die Hälfte der Bevölkerung lebt mit weniger als einem Dollar pro Tag. Im Human Development Index-Ranking basierend auf dem BNE pro Kopf, der Lebenserwartung und der Ausbildungsdauer belegt das Land Rang 168 von 189. Der Klima-Risiko-Index von Germanwatch führt Haiti auf Platz vier der langfristig am meisten gefährdeten Länder. Im Index der fragilen Staaten liegt Haiti auf dem zwölften Platz von 178 Ländern.