Die Geschichte des Hurrikans Matthew liest sich spannend wie ein Thriller, selbst im sonst nüchternen Eintrag von Wikipedia. «Am 22. September löste sich eine tropische Welle von der Westküste Afrikas und zog westwärts auf den Atlantischen Ozean hinaus», steht da. Gespannt lese ich weiter. Wie die Forscher diese Welle beobachteten. Wie aus dem ungeordneten Gebilde ein geordneter, gewaltiger Sturm mit Windgeschwindigkeiten von über 240 Stundenkilometern wurde. Wie dieser Sturm zuerst auf die Nordküste Kolumbiens zog, dann aber nach Norden abdrehte, in die Karibik, wo Regierungen vieler Inselstaaten ihre Bevölkerung warnten und sich Rettungskräfte auf den Sturm vorbereiteten.
Aus all diesen Inseln werden keine oder nur ganz wenige Todesopfer gemeldet. In Haiti hingegen sind wegen Matthew mehr als tausend Menschen ertrunken, unter Schlammmassen und Trümmern begraben oder von Bäumen und herumfliegenden Trümmerteilen erschlagen worden. Es gibt zwei Erklärungen dafür, warum die Haitianerinnen und Haitianer unter den Folgen von Matthew mehr leiden als ihre Nachbarn.
Haiti ist arm, und Haiti ist ein schwacher Staat mit schwachen Institutionen.
Im ärmsten Land des amerikanischen Kontinents gibt es hunderttausende von Familien, die in elenden, notdürftig zusammengezimmerten Behausungen leben und nicht wissen, was sie am nächsten Tag essen werden. Wie soll eine solche Familie nach einer Sturmwarnung Notvorräte einkaufen? Und wie soll sie ihre Hütter sturmfest machen, wenn da nichts fest und stabil ist? Wikipedia berichtet von Fischern, die trotz der Sturmwarnung noch ausliefen. Aus Sorglosigkeit? Wohl kaum. Sie konnten es sich schlicht nicht leisten, nicht auszulaufen und auf mögliche Fänge zu verzichten. Einige dieser Fischer bezahlten ihren Entscheid mit dem Leben.
Haiti ist nicht nur arm, Haiti ist auch ein schwacher Staat mit einer schwachen Regierung, der die Menschen im Negativen alles und im Positiven wenig zutrauen. Auch dafür liefert der nüchterne Eintrag auf Wikipedia einen Hinweis: «Übergangspräsident Jocelerme Privert forderte die Bevölkerung auf, die Warnungen der Behörden ernst zu nehmen.» Mit anderen Worten: Die Bevölkerung nimmt die Regierung zu wenig ernst.
Und damit komme ich wieder zu Entwicklungszusammenarbeit von Helvetas in Haiti.
Helvetas ist seit 1983 in Haiti aktiv. In dieser Zeit wurden Trinkwasser- und Abwassersysteme gebaut, die nachhaltige Landwirtschaft und der Schutz der natürlichen Ressourcen gefördert. Das sind konkrete Projekte mit sichtbaren Erfolgen: Terrassierte und durch Baumpflanzungen geschützte Hänge. Menschen, die gesünder und besser ernährt sind. Weniger gut sichtbar hingegen sind die Anstrengungen im Bereich der Katastrophenvorsorge: Helvetas hat in allen Projektgebieten mit lokalen Behörden zusammengearbeitet, um die Vorbereitung auf Katastrophenfälle zu verbessern.
Die Terrassierung hilft, das Abrutschen der Hänge zu verhindern.
Jetzt leistet Helvetas in Haiti Nothilfe. Zum Beispiel in Verrettes, wo auf einer Fläche von 350 Quadratkilometern (eineinhalb mal die Fläche des Kantons Zug) rund 130'000 Menschen leben. Weil in Haiti wegen Trinkwassermangels eine Choleraepidemie droht, hat Helvetas in Verrettes (wie in den andern Projektgebieten) schon kurz nach der Sturmkatastrophe damit begonnen, Chemikalien zur Desinfizierung von Trinkwasser zu verteilen. Ausserdem wurden Werkzeuge und Saatgut für Bauernfamilien bereitgestellt, die beim Unwetter alles verloren haben. Diese Form von Nothilfe ist wenig überraschend, denn sie gehört zum internationalen Standard. Ein erster Überblick zeigt, dass die mit Hilfe von Helvetas gebauten Infrastrukturen den Sturm gut überstanden.
In Verrettes zeigt sich ein weiterer Erfolg der Katastrophenvorsorge. «Die örtliche Zivilschutzorganisation hat innerhalb von zwei Tagen eine ausführliche Liste mit den Sturmschäden, den am meisten betroffenen Familien und den benötigten Gütern zusammengestellt. Das ist angesichts der zerstörten Strassen und der gestörten Telefonverbindungen eine enorme Leistung», meldet Swan Fauveaud, Programmdirektorin in Haiti.
Während es in vielen andern Gemeinden alles drunter und drüber ging und wie aus dem Nichts zahlreiche Hilfsorganisationen auftauchten, um ihre eigenen Wege zu gehen, hat die Zivilschutzorganisation von Verrettes gleich nach der Katastrophe damit begonnen, die Hilfsaktionen zu koordinieren und hat sich so viel Anerkennung bei der Bevölkerung geholt. Die Gemeinde im zentralen Westen des Landes ist kein Einzelfall. Auch in den Gemeinden Belle Anse und Mare Rouge im Südosten der Insel haben die lokalen, von Helvetas vorbereiteten Zivilschutzorganisationen in der Katastrophe schneller und zielgerichteter gehandelt als anderswo. «Unsere Arbeit mit diesen Organisationen hat sich gelohnt», stellt Mitarbeiter Jean-Michel Isma fest, der lokale Helvetas-Mitarbeiter in Verrettes. »Wir haben Haiti damit selbstverständlich nicht zu einem funktionierenden Staat gemacht. Aber in einigen Gemeinden haben die Behörden auf diesen grössten Sturm seit Jahrzehnten angemessen reagiert. Und das lässt für die Zukunft hoffen.»