«Meine Mutter sagte, es gibt keine Maurerinnen!»

Elizabeth Jackison aus Tansania war schon als Schulmädchen fasziniert von Baustellen. Heute steckt sie mitten in der Ausbildung zur Maurerin und ist ein Vorbild für junge Frauen.
TEXT: Rebecca Vermot - FOTOS / VIDEOS: Simon B. Opladen - 09. November 2021

«Meine Mutter verstand nicht, dass ich einen Männerberuf erlernen wollte. Sie sagte immer, es gibt keine Maurerinnen. Ich antwortete ihr: 'Wenn du noch nie eine Maurerin gesehen hast, dann bin ich die erste, die du sehen wirst'.» Das vorwitzige Mädchen, das seiner Mutter einst diesen Satz trotzig entgegenschleuderte, ist heute 28 Jahre alt – und stolze Maurerin. Dazwischen liegen Jahre der Entbehrung, des Widerstands, des Lernens und der Beharrlichkeit. Und der Umwege. 

Schule schwänzen zum Baustellenluft Schnuppern

Elizabeth Jackison wuchs in Tansanias Hauptstadt Dodoma mit ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die sie und ihre kleine Schwester mit dem Verkauf von selbstgebrautem Bier aus Zuckerrohr durchbrachte. Ihren Vater kannte sie genau drei Tage lang: Sie war noch ein Schulmädchen, als er eines Tages schwer krank zuhause auftauchte. Er starb noch in derselben Woche. Schon als Kind wollte Elizabeth Maurerin werden. «Ich sah auf dem Schulweg, wie Häuser gebaut wurden. Wie aus dem Nichts etwas entstand. Ich beobachtete, wie die Maurer planten und anpackten.» Sie war fasziniert.

In der 6. Klasse schwänzte sie die Schule und verbrachte die Tage auf einer Baustelle, legte Hand an, wo Hilfe nötig war. Als ihre Mutter das herausfand, tobte sie – und schleppte ihre Tochter zurück in ihre Klasse. Eliza machte fortan einen Bogen um Baustellen und schloss die Primarschule ab. Doch die Leidenschaft für den Maurerberuf blieb. Genauso blieb aber die Mutter hart. So lernte das Mädchen bei einem lokalen Schneider, Kleider zu flicken. «Ich mochte es nicht, hatte aber nichts anderes», erzählt Eliza, die bald jung Mutter von drei Kindern wurde.

Noch während dieser Zeit half sie im Geheimen auf Baustellen aus, lernte Maurer und Techniker kennen. Dank ihnen klingelt noch heute immer wieder ihr Handy: Zunächst waren es kleine Aufträge als Handlangerin, jetzt kommen immer häufiger Aufträge an die immer qualifiziertere Fachfrau. 

«Ich will als Maurerin ganz nach oben, ich will Chefin sein.»

Elizabeth, Maurerin in Ausbildung

Ein Fundament für die Schule – und fürs Leben 

Szenenwechsel: Auf dem Gelände des Dodoma Vocational Training Centre schaufeln zwei junge Frauen in Gummistiefeln und acht junge Männer in zerschlissenen Jeans Sand zu einem Haufen. Einer fügt Zement hinzu, ein anderer Wasser. Das Ganze wird gemischt, bis der Mörtel die richtige Konsistenz hat. Daneben sind bereits drei Reihen Backsteine feinsäuberlich zu einem raumgrossen Rechteck vermauert. Es ist das Fundament eines Anbaus, den die Maurerlehrlinge bauen. Er wird als Schulzimmer dienen.

Es ist eine bunte Truppe junger Leute am Werk. Ihnen gemeinsam ist, dass sie aufgrund ihrer familiären Verhältnisse niemals einen offiziellen Lehrgang hätten absolvieren können, sei es aus finanziellen Gründen, sei es, weil sie die Schule frühzeitig abbrechen mussten. Mit Spenden aus der Schweiz ermöglicht Helvetas in Tansania derzeit 3'000 benachteiligten jungen Frauen und Männern kompakte Ausbildungsgänge – von Imkerei und Backhandwerk über die Arbeit in Beautysalons oder Hotels bis hin zu Maurerei oder Elektroinstallation.

Helvetas ist es ein grosses Anliegen, Frauen innerhalb solcher Projekte gezielt und ihren Fähigkeiten entsprechend zu fördern. Berufstätige Frauen bringen nicht nur ihr Land wirtschaftlich voran, sie schaffen auch ihren Kindern Perspektiven, weil sie ihren Lohn in die Schulbildung und für gesundes Essen investieren. Mit einem Beruf steigt auch ihr Selbstbewusstsein, ihr Ansehen und damit die Chance, dass sie sich in ihrer Gemeinde engagieren, vielleicht sogar politisch aktiv werden und sich für wichtige Frauenanliegen einsetzen, die immer auch Männern zugutekommen.

Auf der Baustelle ist nun alles vorbereitet für den Weiterbau. Während ein paar Jungs mit Hilfe von Wasserwaagen Richtschnüre spannen, reisst eine junge Frau zusammen mit zwei Kollegen Bitumenmatten in schmale Streifen. Zwischen Fundament und Mauer verhindern diese Bahnen, dass Feuchtigkeit das Gebäude hochkriecht. 

Mit Elizabeth kommt Tempo in den Bau

Es ist der dritte Monat des Helvetas-Kurses. Etwa ein Fünftel davon besteht aus Theorie, der Rest aus Praxis. Philip Misangia, der Direktor des Ausbildungszentrums, ist voll des Lobes für die partnerschaftliche Herangehensweise von Helvetas. Erstmals würden hier nun auch Frauen ausgebildet. Und eine bewundert er besonders: eine gewisse Elizabeth. «Sie ist besser als manch einer der Männer. Und man merkt, dass sie liebt, was sie tut», sagt er. Sie sei gerade nicht hier, habe zurzeit einen Job auf einer Baustelle und komme, wenn sie Zeit habe. Das gehört zum Konzept der Ausbildungen, denn die jungen Menschen sind nicht selten auf ein Einkommen angewiesen.

Genau in diesem Moment: Auftritt Elizabeth. Es ist, also ob die Sonne aufgeht, obwohl sie schon weit oben im Zenit steht und auf die gebückten Rücken der jungen Maurerinnen und Maurer brennt. Elizabeth ist ein Energiebündel; plötzlich vibriert die Baustelle vor Lachen und Leben. Sie umarmt die beiden Frauen, die Jungs eilen zu ihr hin, um sie zu begrüssen. Eliza, wie die Kolleginnen und Kollegen sie nennen, verschafft sich kurz einen Überblick und packt sofort an. Und mit ihr die anderen – in einem ganz neuen Tempo.

Flink füllt Elizabeth die Lücken zwischen den Backsteinen mit Mörtel auf – eine Arbeit, an die sich offenbar noch nicht alle heranwagen. Nebenbei reisst sie Witze, erzählt Geschichten und flirtet mit Passanten. Sie ist schneller als die anderen, gleichzeitig sorgfältig und konzentriert. Trotzdem kontrolliert der Ausbildner auch bei ihr nach und rückt hier und da einen Stein millimetergenau zurecht. 

Deus im Theorieunterricht. Dieser gehört genauso zur Ausbildung wie die Praxis.
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Auch Elizabeth geniesst die theoretischen Ausbildungsstunden.
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Der Traum, eines Tages Ingenieur zu sein 

Ein junger Mann ist immer an Elizas Seite; sie arbeiten einander zu, ein eingespieltes Team. Er ist ein Chrampfer wie sie, aber ungleich schweigsamer. Es 
ist Deus Luhengo
. Er wuchs im Nordosten des Landes bei einer Tante auf, seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. Er sagt, er habe eine normale Kindheit auf dem Dorf erlebt. Doch nach Abschluss der 5. Klasse konnte die Tante, eine einfache Bäuerin, nicht mehr für seine Schulgebühren aufkommen. «Ich wäre sehr, sehr gerne weiter zur Schule gegangen», sagt der ruhige junge Mann, der jedes Wort auf die Goldwaage zu legen scheint.

Es folgten Jahre der unfreiwilligen Untätigkeit, bis ein Nachbar ihn bat, das leerstehende Haus seines Sohnes im weit entfernten Dodoma zu bewachen. Das war vor drei Jahren, als Deus 17 Jahre alt war. Nebenbei verdiente er als Handlanger auf dem Bau etwas dazu. Als er von der Helvetas-Ausbildung hörte, fackelte er nicht lange, er wusste, worum es ging: um seine Zukunft.

Seine Kollegen nennen ihn den «Ingenieur», darauf ist Deus stolz. «Sie sagen, ich sei kreativ. Das mag stimmen, ich finde oft Lösungen, wenn wir nicht weiterkommen.» Aber ein Ingenieur sei er nun doch nicht. So einer habe studiert. Im Theorieunterricht hadert Deus mit seiner bescheidenen Grundschulbildung. Er kann sich die englischen Fachausdrücke nicht merken, die in den Lehrbüchern stehen. Dennoch ist sein Selbstvertrauen gewachsen: «Der Kurs hilft mir, an mich zu glauben», sagt Deus. Vorher habe er nur schwarzgesehen, kein Licht am Ende des Tunnels. Jetzt wisse er, dass er eines Tages jemand sein werde, ja, «ein Ingenieur» werden könne. «Ich war immer nur Hilfsarbeiter, schuftete hart für nur 10’000 Schilling am Tag. Wenn ich hier abschliesse kann ich als richtiger Maurer 25’000 Schilling verdienen.» Zehn Franken. 

«Ich war immer nur Hilfsarbeiter. Wenn ich abschliesse, kann ich als richtiger Maurer viel mehr verdienen.»

Deus Luhengo, Maurer in Ausbildung

Der Bauboom als Chance für junge Menschen 

Dodoma boomt, denn die Regierung verlegt die gesamte Verwaltung von der Wirtschaftsmetropole Dar es Salaam ins Landesinnere. Baustelle reiht sich an Baustelle. Viertel-, halb- oder fast fertige Villen, soweit das Auge reicht – erbaut für Regierungsvertreter und Beamte, die bald von der Küstenstadt hierherziehen müssen. Es ist eine gute Zeit, um Maurerin oder Maurer zu werden.

Der Mörtelhaufen im Ausbildungszentrum wird immer kleiner. Sechs Lernende arbeiten jetzt noch, darunter Deus und Eliza. Das Geheimnis des Mauerns? «Du musst sorgfältig sein. Denn wenn du einen Fehler machst, egal wie klein, kann er grosse Auswirkungen haben», sagt Eliza. Die beiden schätzen einander. «Eliza ist mutig und glaubt an sich. Das macht sie stark. Sie hat keine Angst vor Herausforderungen und davor, Verantwortung zu übernehmen», sagt Deus. «Sie ist unser Vorbild. Alle wollen sein wie sie.»

Und wieder erklärt Deus, wie sehr diese Chance, diese Ausbildung seinen Horizont in kurzer Zeit erweitert und sein Leben verändert habe. Frauen zum Beispiel hätten ihn bisher nicht beachtet, weil er kein Geld habe. «Jetzt kann ich Pläne schmieden.» Deus knetet seine rissigen, staubigen Hände. Jedes Mal, wenn er sie an der Hose abwischt, hinterlässt der eingetrocknete Mörtel Spuren. «Aber ich will keine Frau, die mich wegen des Geldes liebt.» Seine Lippen beben, als er sagt: «Mit der Hilfe Gottes schaffe ich es. Er hat mich hierher geführt, und er wird mich weiter führen.» 

© Helvetas / Simon B. Opladen
Joachim Wenga, der Ausbildner (li.) mit seinen angehenden Maurerinnen und Maurer. Die Freude an der Ausbildung ist gross. © Helvetas / Simon B. Opladen

«Wie eine Ausserirdische in der Männerwelt» 

Das Gespräch über die Zukunft enthüllt eine sehr traditionelle Seite des jungen Mannes. Als Mann müsse er das Geld für seine Familie verdienen, erklärt Deus, er wolle ihr alles bieten können. Auf die Frage, was der denn von Frauen wie Eliza halte, die arbeiteten, überlegt er lange, bevor er antwortet: «Eliza ist eine Kämpferin, die ihre Familie durchbringen muss und will. Ich respektiere Frauen, die Männerarbeiten erledigen. Aber ein Mann sollte seine Familie selbst versorgen können.»

Eliza geht unbeirrt und selbstbewusst ihren eigenen Weg. «Frauen haben oft Angst, Sachen zu wagen. Sie fürchten die Reaktionen ihrer Familien und der Gesellschaft. Als Frau in einer Männerwelt ist man wie eine Ausserirdische. Aber wenn du an dich glaubst, ist es egal, was die anderen denken.» Eliza ist überzeugt, alles erreichen zu können. «Ich will zeigen, dass Frauen dasselbe tun können wie Männer. Ich will ganz nach oben, ich will Chefin sein.»

Eliza ist alleinerziehende Mutter. Während sie im Training ist oder auf Baustellen arbeitet, schaut ihre Mutter zu den Kindern. Elizas Berufswunsch hat sie nun akzeptiert. Doch der Kampf gegen den Widerstand ihrer strengen Mutter hat Eliza geprägt. Sie will, dass ihre Kinder ihre Träume leben können. «Wenn sie zur Uni wollen, werde ich es ermöglichen. Wenn sie Maurer werden wollen, werde ich es ermöglichen. Ich will eine Mutter sein, die für ihre Kinder will, was diese glücklich macht.»

Nachtrag: Diese Reportage entstand im Sommer 2019 und wurde digital neu veröffentlicht. In der Zwischenzeit hat die Coronakrise auch den Bausektor in Tansania getroffen. Es gibt weniger Aufträge und die Distanzregeln erschweren die Arbeit. Elizas Lohn reicht momentan gerade, die Familie durchzubringen.

Den Unternehmergeist wecken

Das Projekt YES ermöglicht jungen Frauen und Männern eine praktische Kurzausbildung und unterstützt sie beim Start ins Erwerbsleben.

Wie wir Menschen in Tansania unterstützen

Helvetas hilft den Bauern von Tansania dabei, ihre Anbau- und Vermarktungsmethoden zu optimieren.Und wir engagieren uns für die Primarschulbildung.