Im Hof von Rachida Yacoubous Haus herrscht aussergewöhnlich viel Betrieb. Eine Nachbarin schürt das Feuer unter einem grossen Topf voller Maismehl, eine andere zerstösst Gewürze in einem Mörser. Während Rachida die Sauce, die vor sich hin simmert, probiert, erklärt sie, dass hier das Essen für das Erntedankfest von heute Abend vorbereitet wird.
Die 35-Jährige baut mit ihrem Mann und ihrer erweiterten Familie Baumwolle an. Das tun fast alle Familien hier in Pogou Baga, einem kleinen Dorf in der Gemeinde Banikoara im Norden Benins. Die Ernte war gut. Aber dieses Jahr gibt es einen Grund mehr, zu feiern: «Das Wasser!», sagt Rachida lachend und greift sich ein Becken, um es beim nahen Pumpbrunnen aufzufüllen. Die Anlage mit Handpumpe wurde erst vor wenigen Monaten mit der Unterstützung von Helvetas gebaut.
Im Departement Alibori, wo Rachida lebt, hat fast jede zweite Person keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Helvetas arbeitet mit sechs weitläufigen Gemeinden zusammen, damit diese ihre Wasserversorgung verbessern können. Dabei geht es darum, dass die lokalen Behörden Wassersysteme besser planen und den Unterhalt sicherstellen. Helvetas finanziert den Bau oder die Wiederinstandstellung und rüstet sie mit Hand- oder Solarpumpen aus.
Rachida Yacoubou, Baumwollbäuerin
An diesem heissen Märzmorgen stehen die Frauen vor dem Pumpbrunnen in Pogou Baga Schlange. Die Umzäunung glänzt in der Sonne. Sie witzeln und diskutieren, während sie darauf warten, ihre Becken zu füllen. Einmal an der Reihe, ziehen sie ihre Flipflops aus. «Wir schauen, dass alles sauber bleibt», erklärt Banan Bio Senon. Die 56-Jährige ist Präsidentin der Frauengruppe des Dorfes. Jeden Tag kontrolliere sie, ob die Handpumpe in gutem Zustand sei. «Wenn nicht, rufe ich die Gruppe, die die Aufsicht hat, um die Plattform und den Abfluss zu reinigen.»
Immer weniger Wasser
Ein alter Mann gesellt sich zu den Frauen, sein Schritt ist wackelig. Auf seinen Stock gestützt beobachtet er zufrieden, wie die Frauen Wasser pumpen. Es ist Aboubakari Menssa, der Dorfchef. «Wir kamen hierher, als ich noch ein Kind war», erzählt er. «Mein Vater war Jäger. Eines Tages hat er diese Gegend entdeckt und sein Gris-Gris (Talisman) hier vergraben. Da das Gris-Gris im Boden blieb, beschloss er, dass hier ein guter Ort ist, um sich niederzulassen. Und so haben wir das Dorf Pogou Baga gegründet. Aber es gab nichts hier – und auch heute gibt es nur wenig. Nie hätten wir zu träumen gewagt, jemals eine Wasserpumpe zu haben.» Dem alten Mann entwischt eine Träne und sucht sich ihren Weg durch Falten, die von einem entbehrungsreichen Leben erzählen.
Wenige Monate zuvor hatte Aboubakari Menssa ungläubig die Suche nach dem geeigneten Ort und die Bauarbeiten für die Anlage verfolgt. «Der Brunnen von früher ist am Austrocknen», erklärt er. Dem Dorf sei nur der Fluss geblieben. Dieser Fluss, der Mékrou, fliesst durch eine ausladende Naturschutzzone mehr als zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Der Weg dahin führt durch die Baumwollfelder, die jetzt, in der Trockenzeit, staubig und voller Stengel und Äste sind, die schon bald niedergebrannt werden. Mit der Asche werden die Frauen Seife herstellen. Um zum Wasser zu gelangen, mussten die Frauen einen steinigen Hang hinunterklettern. Auf dem Rückweg balancierten sie ein mit 20 Litern Wasser gefülltes Becken auf dem Kopf. «Manchmal träumte ich in der Nacht vom Fluss und dem mühsamen Weg dahin», erinnert sich Banan Bio Senon.
Banan Bio Senon, Präsidentin der Frauengruppe des Dorfes
«Ich verliess das Haus um sieben Uhr morgens, um Wasser am Fluss zu holen und kam erst nach zehn Uhr wieder heim», erzählt Rachida Yacoubou. «Ich befürchtete immer, dass die 20 Liter nicht ausreichen würden, um die Kinder zu waschen und zu kochen. Abends, nach der Arbeit auf dem Feld, mussten wir nochmals zum Fluss eilen, weil die Männer auf ihr Wasser warteten.» Sie ist inzwischen zurück vom Brunnen, leert das Wasser in ein Waschbecken und setzt ihre Jüngste, die kleine Rébéka, hinein. «Jetzt kann ich etwas später aufstehen, meine Kinder baden, mich und auch unsere Kleider in aller Ruhe waschen», sagt sie leise und lächelt. «Ohne Sorge, dass das Wasser ausgeht. Es scheint mir so irreal. Es ist der Frieden.»
Auf sich selbst gestellt
Die gewonnenen Stunden sind eine Erleichterung – vor allem während der Anbauzeit, wenn die Arbeitslast auf den Feldern zunimmt. «Es sind die Frauen, die die Baumwolle aussäen», erklärt Rachida. Neben ihrem Mann Marignoré Sabi Titori und ihren fünf Kindern zählen drei Schwager, deren Frauen und Kinder zur Grossfamilie. Alle leben vom Ertrag, den die zehn Hektar Baumwolle abwerfen. Dünger und Pflanzenschutzmittel sowie die Miete der Büffel fürs Pflügen fressen jeweils fast die Hälfte des Ertrags weg. Marignoré möchte deshalb einen Kredit aufnehmen und einen Traktor kaufen. «Damit könnte ich auch auf den Feldern der anderen arbeiten und mehr verdienen. Vielleicht um eines Tages Vieh zu kaufen und zu züchten», erklärt er, bevor er zur nahe gelegenen Baustelle geht, wo die Männer des Dorfes gerade ein Lagerhaus für Dünger und landwirtschaftliche Produkte hochziehen.
Der Bau kommt voran; jede Familie hat ihren Beitrag geleistet – sei es Geld oder Arbeitszeit. «Wir sind es gewohnt, auf uns selbst gestellt zu sein», sagt der Dorfchef und deutet mit dem Kopf Richtung Schule, wo eine Horde Kinder gerade die beiden Klassenzimmer verlässt. Es ist die Grundschule des Dorfes – auch sie von den Bewohnerinnen und Bewohnern gebaut. Um die Lehrkräfte und das Schulmaterial zu finanzieren, zahlen jedes Jahr nach der Ernte alle Familien einen Beitrag ein – egal, ob sie Kinder haben oder nicht. Die Schule zählt etwa 50 Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur vierten Klasse. Um die Primarschule zu beenden, müssen die Kinder jedoch in das etwa 12 Kilometer entfernte Dorf Abonga fahren.
Béatrice, Rachidas 12-jährige Tochter, hat Glück. Ihre Grossmutter lebt dort, und so kann sie unter der Woche bei ihr schlafen. Einzig am Mittwochnachmittag und am Freitagabend legt sie den langen Schulweg zurück, um ihrer Mutter bei den Hausarbeiten zu helfen, wie das alle Mädchen machen. «Jetzt mit der Pumpe ist das Wasser schnell geholt, und ich habe mehr Zeit für meine Hausaufgaben», erklärt die schüchterne Béatrice. «Ich liebe die Schule, vor allem mag ich Mathematik und Sozialkunde.» Sie möchte Lehrerin werden und lässt sich deshalb bei den Hausaufgaben von einer älteren Freundin helfen, denn ihre Eltern konnten selber nie die Schule besuchen – wie die meisten Eltern in Pogou Baga.
«Ich hätte es so sehr gewollt», sagt Rachida, die mit sechs Geschwistern aufgewachsen ist. «Aber als meine ältere Schwester heiratete, ging ich mit ihr, weit weg von unserem Dorf, weit weg von der Schule.» Sie erzählt vom Tierarzt, der kommt, wenn ihre Tiere krank sind. Er war, als sie klein war, ihr Spielkamerad. «Wenn ich ihn sehe, denke ich daran, was ich alles hätte erreichen können, hätte ich nur die Schule besucht.»
Zukunftspläne
Der ernste Moment dauert nicht lange an; Rachida denkt lieber an die Zukunft. «Jetzt, wo wir Wasser haben, möchte ich einen Imbissstand am Strassenrand eröffnen. Genau da.» Rachida zeigt auf einen kleinen Platz unter einem Baum hinter ihrem Haus, wo die Dorfjugend gerade Lautsprecher installiert fürs Fest am Abend. «Wer weiss, vielleicht kann ich sogar mal ein Depot für Medikamente eröffnen. Das gibt es hier nicht.»
Rachida und ihr Mann haben ein und dasselbe Ziel: «Wir wollen, dass unsere Kinder die Wahl haben, die wir nicht hatten. Dass sie studieren und eine gute Arbeit finden können, weit weg von hier», sagt Marignoré. «Sie sollen gross werden, ohne später bereuen zu müssen, was ich bereue», fügt Rachida hinzu und blickt zu ihrer ältesten Tochter Béatrice. Beide haben aber auch Träume für ihr Dorf. «Ich möchte, dass Pogou Baga endlich eine richtige Schule erhält für alle Klassen», sagt Marignoré. «Und ein Gesundheitszentrum mit einer Geburtsabteilung», sagt Rachida.
Aus den Lautsprechern dröhnt zwischendurch Musik. Doch im Licht des Sonnenuntergangs hinter Pogou Baga wird sie von der Melodie eines anderen Liedes übertönt. «Wir haben die Seile durchtrennt, die uns gefesselt haben, denn heute ist gutes Wasser in unser Dorf gekommen», singen die Frauen vom Dorf.
Benin im Kontext: Langsame Fortschritte
Benin ist der grösste Baumwollproduzent Westafrikas. Allerdings ist das Land von den Weltmarktpreisen abhängig. Auch die staatliche Investitionstätigkeit ist hoch, Priorität haben der Ausbau des Hafens von Cotonou und ein neuer Flughafen, die Strasseninfrastruktur sowie die Energie- und Wasserversorgung. Trotz Wirtschaftswachstum bleibt die Armutsrate hoch. Und trotz Fortschritten gibt es grosse Ungleichheit beim Zugang zu Wasser. In ländlichen Gebieten hat teils nur die Hälfte der Menschen die Möglichkeit, sauberes Wasser zu trinken. Auch Hygiene und sanitäre Grundversorgung sind eine Herausforderung, drei Viertel der Menschen in Benin müssen ihre Notdurft im Freien verrichten. Benin galt lange als politisch stabil, bis der amtierende Präsident 2019 Verfassungs- und Wahlgesetzänderungen veranlasste, die Kandidaturen der Opposition erschweren. Bei den Parlamentswahlen 2019 kam es zu gewalttätigen Protesten mit Toten und zu Boykottaufrufen. Dasselbe geschah während der Präsidentschaftswahlen im April 2021, die der amtierende Präsident für sich entschied.