Die Globalisierung ist ziemlich angeschlagen. Die Devise Friede, Freude, Freihandel der 1990er Jahre verursacht heute Kopfzerbrechen: Populistische Bewegungen bekämpfen erfolgreich internationale Bestrebungen, und nationale Eigeninteressen bestimmen die politische Agenda. Auch in der Schweiz. Dabei sind doch gerade kleine Staaten auf international abgestimmte Lösungen angewiesen.
Am 2. Mai 1602 notierte der Florentiner Kaufmann Francesco Carletti in sein Tagebuch: «Wo die Ware hingeht, da will auch ich hingehen, komme, was da kommen mag.» Carletti segelte um die Welt, um Waren einzukaufen. Sklaven, Seide, Gewürze und Edelsteine – Waren aller Art, die geeignet waren, den Wohlstand europäischer Händler zu mehren. Schon vor über 400 Jahren brachte Carletti ungewollt die Maxime europäischer Entwicklung auf den Punkt: Wenn es ums Geschäft geht, darf es keine Schranken geben, weder für die Händler noch für die Waren.
Vom Ende der Geschichte
Carletti und seine Zeitgenossen standen mit ihrer Gier nach globalen Reichtümern für den Beginn der Globalisierung. In den nächsten 400 Jahren entwickelte sich schrittweise ein weltumspannendes Wirtschaftssystem. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde daraus eine kapitalistische Wirtschaftspolitik unter der Führung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, vorangetrieben von neoliberal ausgerichteten Regierungen und grossen transnationalen Konzernen.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und demzufolge dem Ende des bipolaren Weltsystems schien der Weg frei für den Siegeszug des Westens unter der Führung der USA als einzig verbleibende hegemoniale Ordnungsmacht. Die Welthandelsorganisation WTO wurde gegründet (1994) und die Globalisierung nahm ihren Lauf. Zwar gab es immer auch Proteste dagegen, aber aufhalten liess sich der Trend nicht. Man sprach vom Sieg der Demokratie und Francis Fukuyama vom «Ende der Geschichte».
Allerdings blieb ein erheblicher Teil der Menschheit trotz – oder je nach Sichtweise wegen – der fortschreitenden Weltmarktintegration auf der Verliererseite. So warnte der peruanische Ökonom Hernando de Soto am Weltwirtschaftsforum 2003 in Davos: «Nur jeder Dritte nimmt an der Globalisierung teil». Seit den 1990er Jahren waren zunehmend globalisierungskritische Stimmen laut geworden. Sie forderten vor allem eine bessere soziale Abfederung der Folgen für die ärmsten Länder und Menschen.
Um die Gemüter zu beruhigen und das Globalisierungspotenzial für alle Menschen aufzuzeigen, stellte das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) seinen Human Development Report 1999 unter dem Titel «Globalization with a human face» (deutsch: «Globalisierung mit menschlichem Antlitz»). Und die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) setzte 2001 eine «Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung» ein, die 2004 ihren Bericht «Eine faire Globalisierung. Chancen für alle schaffen» vorlegte. Nur: sozialer wurde die Globalisierung dadurch nicht.
Schreckgespenst Global Governance
«Wenn sich die Probleme globalisieren, muss sich auch die Politik globalisieren.» Mit dieser Aussage brachte der Politologe Franz Nuscheler, langjähriger Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden, die Dynamik der 1990er Jahre auf den Punkt. Es war die Dekade der Weltkonferenzen, an denen Lösungen für die grossen Herausforderungen diskutiert wurden: in Rio über Umwelt und Entwicklung (1992), in Wien über Menschenrechte (1993), in Kairo über Bevölkerungsfragen und in Nassau über Biodiversität (1994), in Bejing über Frauen und in Kopenhagen über soziale Entwicklung (1995), in Istanbul über Siedlungen und in Rom über Ernährung (1996), in Rom über Wüsten (1997) und in Durban über Rassismus (2001). Und natürlich der Millennium-Gipfel in New York (2000) und der Gipfel für nachhaltige Entwicklung von 2002 in Johannesburg. Alle diese Gipfel standen für Aufbruch: Im Zentrum stand der Ruf nach Global Governance, aber explizit nicht nach einer Weltregierung. Es ging vielmehr darum, einen internationalen Rahmen von Werten und Prinzipien, Regeln und Entscheidungsfindungsprozessen zur Bewältigung globaler Probleme zu schaffen. Dazu gehören auch starke Institutionen, speziell ein gestärktes UNO-System.
Lange währte diese Dynamik nicht: Erstens standen China und Russland der westlichen Dominanz bei der Gestaltung der Global Governance ebenso kritisch bis ablehnend gegenüber wie die meisten G77-Länder. Zweitens taten sich viele Staaten weiterhin schwer mit weltpolitischer Gestaltung und pochten auf ihre «nationalstaatliche Souveränität». Drittens war die Entwicklung eines universellen Wertekanons äusserst konfliktträchtig, löste er doch erbitterten Widerstand religiös-kultureller und politischer Machtträger aus. Und viertens beendeten die 9/11-Terroranschläge im September 2001 schlagartig das Vertrauen in eine gemeinsame weltumspannende Politikgestaltung.
Seither gab es nur wenige Politikbereiche, bei der sich die meisten Staaten auf gemeinsame Ziele, Prinzipien und Regeln einigen konnten, speziell beim Klimaschutz (Pariser Klimaabkommen, 2015) und in weniger verbindlicher Form bei den Millenniumszielen bis 2015 (2000), der darauffolgenden Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (2015) sowie beim UN-Migrationspakt (2018).
Populistischer Nationalismus …
Noch ist die Globalisierung nicht am Ende und wird vor allem im Bereich des internationalen Dienstleistungshandels weiter voranschreiten. Gleichzeitig stehen aber die Zeichen auf allen Kontinenten seit Beginn dieses Jahrtausends auf Nationalismus, vielfach gepaart mit einer populistischen Politik. Grossmächte wie die USA oder China setzen dabei ungeniert ihre wirtschaftliche Stärke als politische Waffe ein. Dadurch hat sich eine Art neues «Gleichgewicht des Schreckens» mit anderen Mitteln herausgebildet, dessen Ende nicht absehbar ist, solange man nicht zu einer Global-Governance-Politik zurückkehrt.
Davon ist die Welt weit entfernt. Der Umgang mit der Corona-Pandemie macht dies deutlich, sei es bezüglich des «Impfnationalismus» auf Kosten der Armen in den Entwicklungsländern, sei es hinsichtlich der Repression autoritärer und populistischer Machthaber. Doch der populistische Feldzug gegen globale Politikgestaltung und Rechtsstaatlichkeit geht deutlich weiter. In Lateinamerika beispielweise, wo Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro öffentlich erklärte, er werde die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht weiter anerkennen. Oder in den USA, wo Ex-Präsident Donald Trump die Kategorie «alternative Fakten» einführte und sich ihrer noch immer bedient, um die demokratischen Institutionen zu diskreditieren.
… mitten in Europa
Auch innerhalb Europas, etwa in Ungarn, Polen, Bulgarien, Dänemark, Finnland oder Frankreich, bekommen nationalistische Parteien und Bewegungen immer mehr politisches Gewicht. Eine Studie von 2020 zeigt, dass solche Akteure unter anderem die demokratischen Institutionen als Hindernis für ihre nationalen Interessen sehen. Sie versuchen, die Geschichte umzuschreiben und wehren sich vehement gegen Einwanderung, Minderheiten und auch gegen klimapolitische Massnahmen. Einige streben den Austritt aus der EU an. Was sie einigt, ist die Idee der Souveränität – diese wird zum Leitbild und zur Bedingung für das Überleben des eigenen Volkes und Staates hochstilisiert. Auch mitten in Europa wuchert der Spaltpilz.
Die Schweiz kennt es nicht anders. Nationale Eigeninteressen gehören zu ihrer politischen DNA. So brauchte sie 57 Jahre, um der UNO beizutreten. Nur wo es den Eigeninteressen nützlich erscheint, ist sie international dabei. Noch heute gilt: Bei Zukunftsfragen fährt sie zunächst den helvetischen Sonderzug, sei es gegenüber der EU, sei es beim Migrationspakt, sei es bei ihrer wenig ambitionierten Klimapolitik. Das hat mit internationaler Solidarität wenig zu tun. Dabei wäre sie eigentlich wie andere Kleinstaaten auch auf international abgestimmte Lösungen angewiesen. Doch damit hat sie in der Regel keine Eile, denn Geld hält lange über Wasser.
Übrigens: Der Erfolg nationalistisch-populistischer und autoritärer Figuren wie Putin, Erdogan, Orban oder Trump führte bei Francis Fukuyama 2017 zum Eingeständnis: «Das Ende der Geschichte ist vertagt».