2018 liess der UN-Migrationspakt die politischen Wogen in Bundesbern hochschlagen. Dieser soll dazu beitragen, Migration fair und menschenwürdig zu gestalten. Die Schweiz enthielt sich bei der Abstimmung der Stimme, hatte das Parlament den Beitritt doch frühzeitig blockiert. Jetzt haben National- und Ständerat das Geschäft erneut verschoben. Sie verschliessen damit die Augen vor den drängenden globalen Herausforderungen.
2016 beschloss die UN-Generalversammlung, zwei Pakte ausarbeiten zu lassen, einen Flüchtlings- und einen Migrationspakt. Der Flüchtlingspakt wurde vom UNHCR erarbeitet und im Dezember 2018 ohne grosse Aufregung von der UN-Generalversammlung angenommen, auch von der Schweiz.
Anders beim «Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration», kurz Migrationspakt genannt. Dieser will für Sicherheit vor Ort und unterwegs sorgen, menschenwürdige Transit-, Arbeits- und Integrationsbedingungen festlegen und Status- und Rückkehrfragen regeln. Menschen sollen dank weitgehender Bewegungsfreiheit in (regionalen) Wirtschaftsräumen zur nachhaltigen Entwicklung beitragen können. Gleichzeitig bekräftigt der Pakt ausdrücklich die nationale Souveränität der Staaten in der Migrationspolitik.
Mutloser Bundesrat
Als die UNO den Text Ende Juli 2018 veröffentlichte, blieb es in der Schweizer Politik zunächst ruhig. Doch dann nahmen rechtsbürgerliche Kreise im Parlament den Kampf auf: Der Bundesrat dürfe den Pakt niemals annehmen. Dennoch entschied der Bundesrat im Oktober 2018, dem Migrationspakt am 11. Dezember in Marrakesch an einer Zwischenstaatlichen Konferenz der UNO zuzustimmen. Anschliessend sollte er an der UN-Generalversammlung bestätigt werden. Der Pakt gilt als Soft Law, das heisst, er ist nicht rechtlich verbindlich, wohl aber politisch bindend.
Für den Bundesrat entsprechen die 23 Zielsetzungen des Pakts den Interessen der Schweiz im Migrationsbereich. Die Schweiz setze in den angesprochenen Politikbereichen die Empfehlungen des Migrationspakts bereits um. Konkret würde sich die Schweiz verpflichten, sich gemeinsam mit Herkunfts- und Aufnahmeländern an den verschiedenen Umsetzungsmassnahmen zu beteiligen, zum Beispiel Flucht- und Migrationsursachen mindern (Ziel 2), Perspektiven in den Herkunftsländern schaffen (Ziel 13), Menschenhandel bekämpfen (Ziel 10), reguläre und sichere Migrationswege einrichten (Ziel 5), menschenwürdige Arbeitsbedingungen durchsetzen (Ziel 6) und die Reintegration von Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsstaaten unterstützen (Ziel 21).
Den Gegnern im Parlament ging der Pakt viel zu weit. Sie schürten Ängste und beschworen das Schreckensszenario einer unkontrollierten Migration in die Schweiz, obwohl der Pakt ein Recht auf Einwanderung ausdrücklich ausschliesst. Eine Mehrheit in beiden Räten verlangte daraufhin, der Bundesrat solle den Pakt in Form eines einfachen Bundesbeschlusses dem Parlament zur Zustimmung vorlegen.
Angesichts dieses Widerstands verlor der Bundesrat den Mut und beschloss, seinen Entscheid vorerst zu sistieren und die parlamentarische Debatte abzuwarten. Er zeigte sich aber weiterhin davon überzeugt, dass der Pakt den Interessen der Schweiz entspricht. Folglich nahm die Schweiz an der Konferenz von Marrakesch nicht teil und bei der Abstimmung an der UN-Generalversammlung vom 19. Dezember 2018 enthielt sie sich der Stimme, zusammen mit Australien, Österreich, Italien und acht weiteren Ländern. 152 Länder stimmten dafür, die USA, Ungarn, Tschechien, Polen und Israel lehnten ihn ab.
Der Streit um Soft Law
Danach verschwand der Migrationspakt vorerst aus den Schlagzeilen. Der Bundesrat wartete über zwei Jahre, bis er im Februar 2021 dem Parlament den 2018 geforderten Bundesbeschluss unterbreitete. Darin beantragte er erneut die Zustimmung zum Pakt. Er zeigt sich nach wie vor überzeugt, dass der Pakt mit der Schweizer Rechtsordnung und Praxis kompatibel sei. Mit der Zustimmung entstünden für die Schweiz keine politischen oder finanziellen Verpflichtungen oder Aufgaben.
Doch damit kam der Bundesrat erneut nicht durch. Im April beschloss die Aussenpolitische Kommission (APK) des Ständerats, ihrem Rat die Sistierung des Geschäfts zu beantragen – mit der Begründung, die Kommission wolle zunächst den Abschlussbericht der Anfang 2020 eingesetzten Subkommission Soft Law abwarten, bevor sie sich eingehender mit dem Thema beschäftige. Dabei geht um die Frage, «ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, um die parlamentarischen Mitwirkungsrechte in der Aussenpolitik auch im Zusammenhang mit Soft Law zu gewährleisten», wie der APK-Sprecher am 8. Juni im Rat ausführte. Doch das kann dauern, denn besagte Subkommission habe laut dem APK-Sprecher die Lösung zwar noch nicht gefunden, sei aber auf gutem Weg, in der ersten Hälfte 2022 einen Lösungsansatz präsentieren zu können.
Im migrationspolitischen Offside
So folgte der Ständerat am 8. Juni seiner vorberatenden Kommission und sistierte die Behandlung des Geschäfts. Und nun entschied am 14. September auch der Nationalrat mit 105 zu 77 Stimmen, die Beratungen über den Migrationspakt zu sistieren. Ein Gegenantrag der Kommissionminderheit blieb chancenlos. Damit bleibt der Migrationspakt in der parlamentarischen Schublade und die Schweizer Aussenpolitik stellt sich in einem wesentlichen Politikbereich selbst ins Offside.
Derweilen diskutiert das für die Umsetzung zuständige United Nations Network on Migration regelmässig mit jenen Staaten, die dem Pakt beigetreten sind, aktuelle Umsetzungsfragen und ermöglicht so den Austausch über wichtige Erfahrungen zum Migrationspakt. Im September 2020 hat es zudem eine «Champion Countries Initiative» gestartet, deren 22 Mitgliedstaaten beim Migrationspakt vorangehen. Als einziges europäisches Land ist Portugal dabei. Auf die Schweiz wartet niemand.
Ob aller Zögerlichkeit sollte die Schweiz nicht vergessen, dass der Migrationspakt bei der Umsetzung der Agenda 2030 der UNO einen wichtigen Beitrag leistet. Denn Ziel 10.7 der Agenda lautet: «Eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen erleichtern, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik.» Genau darauf zielt der Migrationspakt und hier hat auch die Schweiz ihren Beitrag zu leisten. Auch die Agenda 2030 ist Soft Law. Dennoch gab es kaum kritische Stimmen, als die Schweiz ihr an der UN-Generalversammlung im September 2015 feierlich zustimmte.
Gestalten, nicht blockieren!
Doch auch abgesehen von der Agenda 2030: Wie wichtig und dringend der Migrationspakt ist, verdeutlicht ein Blick auf die unmenschlichen Zustände und Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel in den Rohingya-Flüchtlingslagern, auf den Migrationsrouten in Afrika und nach Europa, bei der Arbeitsmigration in die Golfstaaten oder an den Grenzen nach Nordamerika. Ebenso aktuell: Die durch die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan ausgelösten Flucht- und Migrationsbewegungen in benachbarte Regionen und die Binnenvertriebene. Die Staatengemeinschaft muss den Betroffenen eine «sichere, geordnete und reguläre Migration» ermöglichen.
Seit letztem Jahr sind die Folgen der Corona-Pandemie als weitere Bedrohung für Migrantinnen und Migranten hinzugekommen. So hält das UN-Netzwerk für Migration fest: «Wir können nicht so tun, als ob die unmittelbare Zukunft wie gewohnt verlaufen würde. Unsere Welt hat sich verändert, und das müssen wir auch. Die Realitäten von COVID-19 und seine weitreichenden, noch weitgehend unvorhersehbaren Auswirkungen werden viele Dinge verändern, die wir in der Vergangenheit für selbstverständlich gehalten haben. Es ist wichtig, dass wir uns anpassen und dabei sicherstellen, dass wir niemanden zurücklassen, einschliesslich der Migrantinnen und Migranten, ihre Familien und Gemeinschaften.»
Angesichts dieser Realitäten zeugt der Entscheid des Parlaments, den Entscheid über den Migrationspakt auf die lange Bank zu schieben, von einer engstirnigen, nationalen Sichtweise und ist der oft zitierten humanitären Tradition der Schweiz unwürdig. Migration muss gestaltet, nicht bekämpft werden.