Die multiplen Krisen können nur gemeinsam und auf internationaler Ebene gelöst werden. Dafür braucht es ein koordiniertes Vorgehen aller Akteure. Aber viele internationale Konzerne und schwerreiche Individuen sind derzeit mehr darauf bedacht, ihren Reichtum zu vergrössern, als Solidarität zu zeigen. Sie treiben damit die Inflation an und zerstören Entwicklungsfortschritte der vergangenen Jahrzehnte. Sie konsequent und angemessen zu besteuern, würde wichtige Mittel freisetzen für Investitionen gegen Armut und Hunger, und für eine nachhaltige und sozialverträgliche Entwicklung.
«Genug ist nicht genug», schrieb Conrad Ferdinand Meyer 1882, denn das Herz «bedarf des Überflusses». «Genug ist nicht genug», sang Konstantin Wecker knapp hundert Jahre später (1977) als Aufruf gegen satte Genügsamkeit und verlogene Moral, denn «schon Schweigen ist Betrug». Heute, nochmals knapp 50 Jahre später, missbrauchen die Superreichen die Losung in ihrer Gier nach immer mehr Reichtum: Genug kann nie genügen! Aller globalen Krisen zum Trotz.
Die Folgen der Polykrise
Globale Krisen wie der Klimawandel und seine Folgen, die Zerstörung der Biodiversität, die Pandemie, der Ukraine-Krieg, geopolitische Verwerfungen, die mögliche Energielücke, Armut und Hunger – und jetzt auch noch eine drohende internationale Bankenkrise wegen des Kollapses der Credit Suisse. In dieser globalen «Polykrise» existieren die einzelnen globalen Krisen nicht nebeneinander. Sie sind viel mehr miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig, was ihre Auswirkungen erheblich verstärkt und was die globalen Gefahren massiv vergrössert, wie sie das World Economic Forum in seinem aktuellen «Global Risks Report 2023» dokumentiert.
Ein kurzer Blick auf einige wirtschaftliche und soziale Folgen verdeutlicht das Ausmass: Aktuell sind über 800 Millionen Menschen von Hunger bedroht. 670 Millionen Menschen leben in extremer Armut, wobei die Zahl als Folge von COVID-19 und wegen Preissteigerungen für alltägliche Güter wieder gewachsen ist. Die Folgen des Klimawandels werden weltweit zu astronomischen Kosten führen – gemäss einer aktuellen Schätzung 180 Billionen USD bis 2070 – und vielerorts die Wirtschaft lahmlegen. Dürren, Wirbelstürme und Überschwemmungen können bis 2050 bis zu 140 Millionen Menschen zur Migration zwingen.
Die Polykrise hat die globalen Machtverhältnisse und Hierarchielinien unverschleiert offengelegt. Um sie zu bewältigen, bedarf es dringendst globaler Gegenmassnahmen. Gefordert ist eine internationale Koordination aller relevanten Akteure, die mit einer weltinnenpolitischen Perspektive die multiplen Krisen angehen. Und zwar auf der Grundlage internationaler Regelwerke wie der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, des Pariser Klimaabkommens und des humanitären Völkerrechts. Doch davon ist die Weltpolitik heute weit entfernt. Die Worte von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres für eine «gemeinsame Agenda» verhallen bei denen, die angesprochen sind, weitgehend ungehört.
Misslingt das koordinierte Vorgehen, an dem sich auch die Wirtschaftselite beteiligen muss, hat dies wohl fatale Folgen. Denn solange nationale Regierungen um Finanzmittel konkurrieren, um Steuerfüsse, Industriestandorte, Arbeitsplätze und damit um Wohlstand, und solange sie dabei die Bedürfnisse und Nöte der Leidtragenden der Krisen ignorieren, droht eine tiefgreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Polarisierung. Diese kann auf einen politischen Kipppunkt hinsteuern, bei dem demokratische Systeme in Frage gestellt werden und erodieren und populistische und autokratische Kräfte die Oberhand gewinnen.
Der skandalöse Reichtum der Superreichen
Im Sog der Polykrise nimmt die globale Ungleichheit immer mehr zu: Unternehmen und damit auch Aktionäre erzielen Gewinne in Rekordhöhe und die Allerreichsten werden immer reicher – so, als gingen sie die Krisen nichts an. Mehr noch: Sie verdienen daran. Da sind einmal die Superreichen, zu denen gemäss dem Global Wealth Report 2022 des Credit Suisse Research Institute Personen gehören, die über ein Vermögen von mehr als 50 Millionen US-Dollar (USD) verfügen. 2021 waren dies weltweit 264’000 Personen, bis 2026 dürften es aller globaler Verwerfungen zum Trotz weltweit 385'000 Personen sein.
Und da sind die Super-Superreichen (Milliardäre), die vom Wirtschaftsmagazins Forbes auf der World’s Billionaires List mit Namen geführt werden. 2022 gab es weltweit 2’668 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von rund 12,7 Billionen USD. Zuoberst auf der Liste stand Elon Musk mit 219 Milliarden USD (neun Mal mehr als zwei Jahre zuvor), vor Amazon-Gründer Jeff Bezos (171 Mrd.), der Familie Arnault, Eigentümerin von unter anderem Christian Dior und Louis Vuitton (158 Mrd.), und Microsoft-Gründer Bill Gates (129 Mrd.). Von diesen Milliardären stammen 735 aus den USA (Gesamtvermögen 4’700 Mrd. USD) und 607 aus China inkl. Hongkong und Macau (2'300 Mrd. USD). Zum Vergleich: Aus den Ländern Subsahara-Afrikas sind es neun, mit einem Vermögen von total 63 Milliarden.
Dass die Gier der Vermögenden nach Reichtum ungebrochen ist, zeigt eine neue Studie von Oxfam: Seit 2020 gingen fast zwei Drittel des neu geschaffenen Reichtums (26 von 42 Billionen USD) an das reichste 1 Prozent der Weltbevölkerung. Den untersten 90 Prozent blieb ein Zehntel (4 Billionen USD). Innert zehn Jahren (2012-2022) verdoppelten die Milliardäre ihren Reichtum von 6 auf 11,9 Billionen USD. Zudem berechnete Oxfam aufgrund der Daten von 95 Konzernen der Lebensmittel- und der Energiebranche, dass diese ihren Gesamtgewinn 2022 dank unvorhergesehener Gewinne (Windfall-Profits) von 306 Milliarden USD verdoppelten und dabei 257 Milliarden USD an ihre sowieso schon reichen Aktionäre ausschütteten.
Gierflation, Macht und Konflikte
Grosse Unternehmen haben die Pandemie und den Ukraine-Krieg dazu genutzt, um ihre Preise deutlich über ihre Kosten hinaus anzuheben und so ihre Gewinne zu steigern. Dies treibt die Inflation übermässig an, was zu Problemen für die gesamte Wirtschaft führt. Fachleute wie Andrew Bailey, Gouverneur der Bank of England, und Albert Edwards, Chef-Analyst der Societe Generale, sprechen von «Gierflation» («greedflation»). Für Paul Donovan, Chefökonom des UBS Global Wealth Managements, ist ein grosser Teil der aktuellen Teuerung diesem Profitwachstum geschuldet. Seien normalerweise 15 Prozent der Inflation auf die Ausweitung der Gewinnspanne zurückzuführen, seien es heute wahrscheinlich etwa 50 Prozent.
Gier und extreme Vermögenskonzentrationen verstärken die globale Ungleichheit, untergraben ganze Volkswirtschaften, korrumpieren Politik und Medien, zersetzen Demokratien und treiben die politische Polarisierung voran. Zudem sind Millionäre massgeblich für die Klimaerwärmung mitverantwortlich: Durchschnittlich stossen Milliardäre eine Million Mal mehr Kohlenstoff aus als Durchschnittsbürgerinnen und -bürger. Sie investieren doppelt so häufig wie durchschnittliche Anleger in umweltschädliche Industrien wie fossile Brennstoffe.
Zudem darf die Wirkung des medialen «Gaslightings» durch Superreiche nicht unterschätzt werden: Mit gezielter Manipulation der Bevölkerung durch einen Mix von Lügen, Leugnen und auch Einschüchterung sollen die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen wie Working Poor, Unterbeschäftigung und Armut, die extremer Reichtum mit sich bringt, verdeckt werden. Diese «oligarchische Macht» ist angesichts ihrer Allgegenwart ernst zu nehmen. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman spricht daher mit Blick auf Elon Musk und Co. vom «Zeitalter der launischen Oligarchen». Diese sind gefährlich.
Teil der Lösung: Höhere Besteuerung der Reichen
Mittlerweile ist das von Regierungen, internationalen Finanzinstitutionen und Wirtschaftseliten oft ins Feld geführte Konzept der Trickle-Down-Wirtschaft als Irrlehre belegt, nach der möglichst wenige staatliche Regulierungen, niedrige Steuern und damit hohe Gewinne für Reiche und Konzerne letztlich allen zugutekommen würden. In Wahrheit steht das Konzept für pure Umverteilung von unten nach oben. Eine Erkenntnis, die mittlerweile auch im Weissen Haus angekommen ist: «Trickle down hat noch nie funktioniert», sagte US-Präsident Joe Biden 2021 vor dem US-Kongress. Vielmehr müssten Schlupflöcher für Steuerhinterziehung beseitigt und die Steuern für Unternehmen und Spitzenverdiener erhöht werden.
Damit steht Joe Biden nicht allein da. Steuern spielen bei der Bewältigung der Polykrise eine entscheidende Rolle. So lehrt ein Blick in die Geschichte, dass der Aufstieg moderner Wohlfahrtsstaaten im 20. Jahrhundert unter anderem auf steil ansteigende progressive Steuersätze fusste. Dank der damit generierten Mittel gelangen grosse Fortschritte bei Gesundheit, Bildung und Chancen für alle. Diese Fortschritte stellten sicher, dass Gesellschaft und Politik die erhöhte Besteuerung des Reichtums breit akzeptierten.
Die Argumente für höhere Unternehmenssteuern und für eine progressive Besteuerung grosser Vermögen und hoher Einkommen, um die Leidtragenden der Polykrise zu unterstützen, gewinnen über alte politische Gräben hinweg an Bedeutung. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty spricht diesbezüglich in seiner «kurzen Geschichte der Gleichheit» von einer eigentlichen «Systemtransformation des Kapitalismus» zur Stärkung des Sozialstaats sowie der Bekämpfung der fortschreitenden Konzentration von Einkommen und Vermögen in den Händen weniger.
Jüngste Entwicklungen im Bereich der internationalen Besteuerung zeigen, dass Fortschritte auf globaler Ebene und innerhalb von Ländern grundsätzlich möglich sind. Allerdings verdeutlicht ein kritischer Blick auf die im Oktober 2021 von OECD und G20 beschlossene neue internationale Mindeststeuer für multinationale Konzerne, dass der Weg dahin noch weit und steinig ist. Speziell auch in der Schweiz.
Genug ist besser als zu viel
Eine stärkere Besteuerung der Reichen ist sicher nicht die einzige Antwort auf die Polykrise, aber sie ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Dies umso mehr wegen der zunehmenden Privatisierung des Reichtums: Während der private Reichtum in den letzten 50 Jahren stetig zugenommen hat, sind die Regierungen ärmer geworden.
Angesichts der grossen privaten Vermögenskonzentration brächten schon moderat erhöhte Steuerfüsse für Vermögende und Unternehmen erhebliche Einnahmen für die längst nötigen Investitionen in die Zukunft. Zum Beispiel für Gesundheitsversorgung, Bildung und Ernährungssicherheit als Beitrag für die Erreichung von SDG 10 «Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern». Aber auch, um die Folgen des Klimawandels abzufedern, respektive eine weitere Verschlimmerung des Klimawandels zu vermeiden.
Doch dazu braucht es politischen Willen zur Veränderung. Möglich wäre es, denn die globale Einkommens- und Vermögensungleichheit ist menschengemacht, wie Lucas Chancel, der Hauptautor des World Inequality Reports 2022, bilanziert: «Ungleichheit ist immer eine politische Entscheidung». Und wie ermahnte schon der fahrende Kleriker Freidank zu Beginn des 13. Jahrhunderts? «Genug ist besser als zu viel.»