Allen Widrigkeiten zum Trotz hat die Ukraine mit dem Wiederaufbau begonnen. Damit eine nachhaltige Modernisierung gelingen kann, ist das Land auf internationale Solidarität angewiesen. Die EU, europäische Länder und die Schweiz leisten wichtige Unterstützung. Sie sollten dabei andere Brennpunkte der Welt nicht vernachlässigen.
Die Ukraine verfügt über die sechstgrössten Kohlereserven der Welt. Steinkohlevorkommen befinden sich bei Lwiw im Westen sowie vor allem im Donbas im Osten des Landes. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 übernahm die Ukraine einen unproduktiven Kohlesektor. Während die wenigen rentablen Bergwerke privatisiert wurden, ging in den folgenden Jahren die Förderung in den rund 280 staatlichen Bergwerken stark zurück. 2013 förderten ukrainische Schächte noch einen Drittel der Fördermenge von 1991. Seit 2014 ist ein Teil des östlichen Kohlebeckens unter russischer Besatzung. Und in den verbleibenden ukrainischen Werken setzt sich der Produktionsrückgang unvermindert fort.
Schon seit längerem geniesst der Kohleausstieg eine hohe Priorität im Land. Zum einen, weil der Kohlesektor hauptursächlich für die schlechte Klimabilanz ist. Zum anderen, weil die Ukraine seit 20 Jahren ein Nettoimporteur von Kohle ist. Um die Abhängigkeit von Kohlelieferungen aus dem Ausland zu verringern – 2021 kamen nahezu 80% aus Russland –, setzt das Land längst auf andere Energieformen. So gelang es der Regierung, den Kohleanteil an der Stromerzeugung zwischen 2013 und 2021 auf 22% zu halbieren. Mehr als die Hälfte des Stroms erzielte die Ukraine 2021 mit Atomkraft; weitere 7% stammen von Wasserkraftwerken, und erneuerbare Energien schlagen mit 8% zu Buche.
Bis 2022 gehörte die Ukraine zu den dynamischsten Standorten für Wind- und Solaranlagen in Europa. Dann verpasste der russische Angriffskrieg dem jahrelangen Aufschwung bei den erneuerbaren Energien einen herben Dämpfer. Denn etwa zwei Drittel der ukrainischen Wind- und Solarparks befinden sich im Süden des Landes, der schon früh unter massiven russischen Beschuss geriet. Im Sommer 2022 hatte Russland bereits 90 Prozent aller Windräder zerstört oder besetzt, während die Erzeugerkapazitäten bei Photovoltaik zu 30 Prozent beschädigt wurden oder in die Hände der Besatzer gefallen waren.
Heute die Weichen für eine nachhaltige Wirtschaft stellen
An der Wiederaufbaukonferenz in Lugano 2022 machten sich europäische und ukrainische Solar- und Windkraftverbände für regenerative Energie stark. Sie forderten die EU auf, beim Wiederaufbau erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff zu fördern. Mit Dach- und Freiflächen bei Solarenergie sowie Windparks an Land und Offshore könnte bis 2030 die Hälfte der Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen stammen. Vorausgesetzt, dass europäische Technologieanbieter und Investoren eng mit der Ukraine zusammenarbeiten und die Stromnetze an das restliche Europa angebunden werden.
Trotz des andauernden Kriegs hat die ukrainische Regierung im Juni 2023 ihre Verpflichtung bekräftigt, die staatlichen Kohlekraftwerke bis 2035 auslaufen zu lassen. Damit hält die Regierung an ihrem Entscheid fest, die überalterten und klimaschädlichen Kohlekraftwerke stillzulegen und neben der Modernisierung der grossen Wasserkraftwerke vor allem Photovoltaik-, Wind- und Biomasseanlagen voranzutreiben. Bereits entstehen im Westen des Landes neue Windparks und neue Photovoltaikanlagen. Dies steht im Einklang mit den internationalen Klimabemühungen und verbessert die bislang unzureichende Klimapolitik der Ukraine. Dadurch wird auch die Abhängigkeit von russischen Kohleimporten beendet und das Land (energie-)politisch näher an die EU herangeführt.
Der Westen unterstützt den «grünen» Wiederaufbau
Russlands Angriffskrieg wütet nun seit über zwei Jahren, und ein Ende scheint nicht absehbar. Dabei setzt die Armee auf eine gezielte Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft und Infrastruktur. Die Weltbank veranschlagt alle bisherigen Kriegsschäden auf 152 Milliarden US-Dollar. Die Kosten für den Wiederaufbau könnten sich allein in den kommenden zehn Jahren auf 486 Milliarden US-Dollar belaufen. Während sich die Schäden an Gebäuden und Infrastruktur abschätzen lassen, kann das Leid der Bevölkerung nicht in Zahlen gemessen werden. Seit Beginn der russischen Grossinvasion wurden über 10’000 Zivilisten getötet und knapp 20’000 verletzt. Die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen.
Die Kriegshandlungen führen zu erheblichen Treibhausgasemissionen: brennende Tanklager und abgebrannte Wälder, zerstörte Gebäude und Infrastruktur. Weitere Emissionen entstehen beim Neubau von Strassen und Brücken, Fabriken und Wohnungen. Umso wichtiger ist es, bereits jetzt umwelt- und klimafreundliche Lösungen für die anstehenden Investitionen vorzusehen und die Weichen richtig zu stellen. Nur so wird der Ukraine der Übergang zu einer nachhaltigen und inklusiven Wirtschaft mit verringerten Emissionen und erneuerbaren Energiequellen dereinst gelingen.
Die EU hat – zusätzlich zur Unterstützung durch seine Mitgliedsländer – einen Unterstützungsmechanismus von bis zu 50 Milliarden Euro für die Jahre 2024 bis 2027 eingeführt. Damit unterstreicht die EU ihren Willen, die Ukraine trotz des anhaltenden Angriffskriegs auf ihrem Weg zur Europäischen Mitgliedschaft zu begleiten. Gefördert werden moderne Infrastrukturen und öffentliche Dienstleistungen, um die sozialen Folgen des Krieges anzugehen. Ebenfalls sollen Investitionen im ukrainischen Privatsektor für einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung und nachhaltigen Wiederaufbau nach den Prinzipien der Agenda 2030 mobilisiert werden.
Auch die Schweiz leistet ihren Teil
Auch die neutrale Schweiz unterstützt die Ukraine – nimmt dabei aber eine besondere Rolle ein: Trotz eigener Rüstungsindustrie liefert sie im Unterschied zu anderen Ländern keine Waffen. Umso mehr ist sie gefordert, bedeutende Humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau zu leisten. Dabei sollte ein gewichtiger Teil des Schweizer Beitrags an den Wiederaufbau ausserordentlich finanziert werden. Gerade die notwendigen Investitionen in erneuerbare Energieinfrastruktur fallen unter die Verpflichtung internationaler Klimabemühungen, welche zusätzlich zur Entwicklungszusammenarbeit geleistet werden muss. So sieht es das Pariser Klimaabkommen vor.
Für die Finanzierung der Schweizer Ukrainehilfe stand die Schaffung eines Fonds im Raum, der nicht nur mit Entwicklungsgeldern, sondern mit zusätzlichen Mitteln hätte gespeist werden sollen. Der so zur Verfügung gestellte Betrag hätte ausserordentlich verbucht werden können und hätte damit nicht das ohnehin arg strapazierte ordentliche Budget für die Internationale Zusammenarbeit (IZA) belastet. Die Idee war bestechend, das Vorgehen nachvollziehbar – schliesslich ist der Angriff auf das ukrainische Volk genau das: ein ausserordentliches Ereignis, das ausserordentliche Massnahmen erfordert.
Doch entgegen der Empfehlung seiner Finanzkommission hat sich der Nationalrat in der Frühjahrssession gegen die Schaffung eines Ukraine-Fonds ausgesprochen. Der Gesamtbundesrat und eine parlamentarische Mehrheit von SVP, FDP und der Mitte wollen also den Wiederaufbau aus dem regulären IZA-Budget finanzieren. Mit der Folge, dass beispielsweise die Unterstützung der erneuerbaren Energieinfrastruktur in der Ukraine nicht zusätzlich, sondern auf Kosten der Hilfe für die ärmsten Menschen in Ländern in Afrika, Asien und im Nahen Osten geleistet wird.
Die Ablehnung des Ukraine-Fonds bedeutet allerdings nicht das Ende der Diskussion. Es ist nicht zu spät, Ideen zu prüfen, um zusätzliche Mittel für den Ukraine-Wiederaufbau zu finden. Seit längerem im Gespräch sind etwa Abgaben auf die gegenwärtig ausserordentlich hohen Gewinne im Rohstoffhandel, in der Schweiz blockierte russische Gelder von sanktionierten Personen und Unternehmen, die Verwendung der Erträge auf den Geldern der russischen Zentralbank oder eine Lockerung der Schuldenbremse. Gerade hier hat die Schweiz durchaus Spielraum: Relevant sind die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung (BNE) – und diese Kennzahl nimmt in der Schweiz trotz der Corona-Hilfspakete ab.
Die Schweiz wird die ukrainische Transition weg von Kohle und hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft tatkräftig unterstützen. Es eröffnet wirtschaftliche Chancen und ist im Sinne der Nachbarschaftshilfe zur Stärkung Europas und der europäischen Werte. Die oben genannten Optionen für die Finanzierung des Wiederaufbaus liegen auf dem Tisch. Bundesrat und Parlament haben es in der Hand, das Bild einer solidarischen, humanitären und verantwortungsvollen Schweiz in der Welt zu erneuern. Es wäre ein wichtiges und mutiges Zeichen, angesichts der wahrlich ausserordentlichen Weltlage.