Jemen | © KEYSTONE/AFP/KHALED ZIAD

Störungen im globalen Ernährungssystem

Steigende Preise, Exportrestriktionen und Importabhängigkeit gefährden die Ernährungssicherheit
VON: Geert van Dok - 22. Juli 2022
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Die Preise für Grundnahrungsmittel sind in den letzten Jahren stark angestiegen und im Zuge des Ukraine-Kriegs förmlich explodiert. Doch die Ursachen der aktuellen Ernährungskrise liegen tiefer, als Pandemie oder Ukraine-Krieg vermuten liessen. Das globale Ernährungssystem selbst ist anfällig für Störungen. Daher muss es umgestaltet werden.

Nach grossen Fortschritten im weltweiten Kampf gegen den Hunger ist die Anzahl Betroffener erneut dramatisch angestiegen. Nach einem Rückgang zwischen 2005 und 2014 von 811 auf 607 Millionen, waren es 2019 bereits wieder 650 Millionen und für letztes Jahr zählte das Welternährungsprogramm (WFP) 811 Millionen Hungernde – mehr als 10 Prozent der Weltbevölkerung. Das WFP befürchtet, dass die Zahl dieses Jahr um weitere 50 Millionen ansteigen wird.

Ernährungskrise mit Ansage

Damit rückt das UNO-Ziel «Zero Hunger» der Agenda 2030 (SDG 2), bis 2030 «den Hunger zu beenden sowie Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung zu erreichen», schon nach der Hälfte der Agenda-Laufzeit in unerreichbare Ferne. Das stellt auch die UNO fest: «Wenn sich die jüngsten Trends fortsetzen, wird die Zahl der von Hunger betroffenen Menschen bis 2030 auf über 840 Millionen ansteigen.

Diese Entwicklung kam mit Ansage: Die Ernährungskrise ist keineswegs neu. Seit langem warnen Fachleute vor einem möglichen Kollaps des globalen Ernährungssystems. Um Ernährungssicherheit zu gewährleisten, müssten die Produktion und Verteilung der Nahrungsmittel auch bei Unterbrechungen funktionieren, auf Störungen reagieren und sich daran anpassen. Und das ist bislang jedoch nicht der Fall: Gegenwärtig sind alle vier Dimensionen der Ernährungssicherheit – Verfügbarkeit, Zugang, Stabilität und Nutzung – von den sogenannten «4c» bedroht: climate change, conflicts, COVID-19, (high) costs. Deren Auswirkungen sorgen für Verwerfungen im Welthandel, jagen die Lebensmittelpreise in die Höhe und befeuern die Hungerkrise. Es wäre daher verfehlt, die Pandemie und den Krieg in der Ukraine als alleinige Ursachen der Hungerkrise zu benennen. Sie sind vielmehr nur die jüngsten Elemente einer komplexen Gemengelage.

Eskalierende Nahrungsmittelpreise

Dabei kann von Nahrungsmittelknappheit keine Rede sein, denn Lebensmittel sind grundsätzlich mehr als genug verfügbar: Die weltweite Weizenproduktion ist gemäss der FAO-Datenbank zwischen 2000 und 2020 um 30 Prozent von 585 auf 761 Millionen Tonnen gestiegen. Davon wurden 2020 knapp 200 Millionen Tonnen international gehandelt: Russland und die Ukraine gehören mit einem Anteil von 22 respektive 10 Prozent zusammen mit den USA, der EU und Kanada zu den fünf Hauptexporteuren. Die Gesamtproduktion aller Getreidesorten – einschliesslich Reis und Mais – belief sich 2020 auf knapp 3 Milliarden Tonnen, eine Milliarde mehr als 20 Jahre zuvor.

Dennoch sind die Nahrungsmittelpreise in den letzten Jahren dramatisch angestiegen und eine Entspannung ist nicht in Sicht. Der FAO Food Price Index (FFPI), der die Preise für die am meisten gehandelten Grundnahrungsmittel misst (Getreide, Milchprodukte, Speiseöle, Zucker, Fleisch), erreichte im März 2022 einen neuen Höchstwert: Innerhalb von zwei Jahren war er um rund 60 Prozent angestiegen. Seither sinkt er wieder, liegt aber immer noch um einen Drittel höher als vor Jahresfrist. Der Getreidepreis stieg zwischen März 2020 und März 2022 um rund 70 Prozent. Dass er seither wieder (vorübergehend?) auf den Stand von Ende Februar gesunken ist, begründen Marktbeobachterinnen und -beobachter damit, dass Ägypten den Weizenimport um 500'000 Tonnen pro Jahr senken will.

Die Folgen der hohen Nahrungsmittelpreise treffen Menschen weltweit. In vielen Ländern des globalen Südens geben Haushalte den Grossteil ihres Einkommens fürs Essen aus. Und wer, wie in Burkina Faso, Madagaskar, Nepal oder Myanmar, weit über die Hälfte seines Einkommens für Lebensmittel aufbringen muss (in der Schweiz ist es durchschnittlich weniger als ein Zehntel), hat bei den aktuellen Preisanstiegen kaum noch etwas übrig für Wohnen, Gesundheit oder die Schulbildung der Kinder.

Störungen im Ernährungssystem

Das heutige globale Ernährungssystem ist ein komplexes Netzwerk. Die drei dominanten «Knoten» des Netzes sind (1) die grossen Exporteure und Importeure, (2) die Unternehmen, die den Handel mit Getreide, Saatgut und Agrarchemikalien dominieren, und (3) die Häfen, durch die die Lebensmittel transportiert werden. Diese Knoten sind aufs Engste miteinander verflochten, und eine Störung reicht aus, um das ganze System ins Wanken zu bringen – Störungen wie gestiegene Energiekosten, Exportrestriktionen und/oder Transportblockaden, Kontrolle des Handels in den Händen weniger Konzerne und nicht zuletzt auch die Spekulation, wie die Organisation Lighthouse Reports aufzeigt.

Fakt ist, dass die Exporte von Weizen, Sonnenblumenöl und Mais aus Russland und der Ukraine stocken. Russland exportiert in erster Linie in «befreundete Staaten», für andere Länder sind Importe unsicher und teuer geworden. In der Ukraine werden Kornspeicher bombardiert und sind die Häfen blockiert, Seewege vermint und wichtige Anlagen zerstört, sodass Schiffe nicht auslaufen können. Der Transport ist fast völlig zum Erliegen gekommen, lediglich über die Schiene werden kleinere Mengen der Vorjahresernte exportiert, was aber angesichts unterschiedlicher Spurbreiten und langwieriger Formalitäten schwierig ist. Es ist daher von einem bedrohlichen Rückgang der Exporte aus der Ukraine auszugehen. Aktuelle Gespräche der Konfliktparteien über die Öffnung des Hafens von Odessa für Weizenexporte sind in dieser Situation ein kleiner Lichtblick.

Fakt ist im Weiteren, dass die Energiepreise weltweit laut der Weltbank allein zwischen Januar und April 2022 um 26 Prozent angestiegen sind. Fakt ist schliesslich, dass der weltweite Getreidehandel heute von wenigen Konzernen kontrolliert wird: von Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus (auch ABCD-Group genannt) sowie vom chinesischen Staatsbetrieb Cofco. Pikant: Laut der Swiss Trading & Shipping Association, der auch die vier ABCD angehören, werden 60 Prozent aller Getreide in der Schweiz gehandelt.

Mittlerweile wurde die Frühjahrsaussaat in der Ukraine weitgehend abgeschlossen, wobei die Anbaufläche – wegen der Kampfhandlungen oder weil Arbeitskräfte, Maschinen und Treibstoff fehlen – 22 Prozent unter dem Niveau von 2021 liegt. In diesem Jahr wird eine Aussaat von 14,2 Millionen Hektar Frühjahrskulturen erwartet, gegenüber 16,9 Millionen Hektar im Vorjahr, und somit ein deutlicher Rückgang der Ernteerträge. Hinzu kommt: Zurzeit sind über 10 Millionen Tonnen Weizen gelagert und im Juli steht die Ernte des Winterweizens an. Wird das gelagerte Getreide nicht in den nächsten Wochen transportiert und verarbeitet, wird es verderben. Zudem könnte die kommende Ernte von geschätzten 18,2 Millionen Tonnen nicht vollständig eingelagert werden.

Explosive Entwicklungen

Die Verknappung und die extremen Preissteigerungen treffen auf eine ohnehin sehr angespannte Lage: Gerade in Afrika, das bis zu Beginn des Ukraine-Kriegs mehr als 40 Prozent seines Bedarfs an Weizen aus der Ukraine und Russland bezog, sind die hohen Preise für alle spürbar. Dies gilt insbesondere für die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens – und birgt dort die Gefahr der Instabilität wegen sozialer Unruhen. Hinzu kommt, dass Bauernbetriebe wegen steigender Treibstoffkosten ihre Produkte nicht auf die Märkte bringen können und steigende Saatgut- und Düngerpreise ihre Existenzgrundlage bedrohen. Ohne Dünger brechen die Erntemengen ein, denn die Böden sind derart ausgelaugt, dass sie davon abhängig sind; eine Umstellung braucht Jahre. Die Folge: Armut und Hunger nehmen weiter zu.

Auf die Hungersnöte in Afghanistan, Äthiopien, Somalia oder im Jemen und Südsudan haben die steigenden Lebensmittelpreise verheerende Auswirkungen: Luca Russo, FAO-Chefanalyst für Nahrungsmittelkrisen, warnt, «der Preisanstieg bei Weizen, Mais und Treibstoff bedeutet, dass wir mit demselben Geld viel weniger Hilfe leisten können». Zudem kann die FAO die vielen Menschen in Konfliktgebieten nicht erreichen. Im Jemen musste das WFP seine Hilfsrationen bereits reduzieren.

Die Ernährungskrise ist insbesondere für ärmste Ländern höchst explosiv. Und sollte der Ukraine-Krieg andauern, werde 2023 insbesondere für jene Länder, die von Importen aus der Ukraine und Russland abhängig sind und/oder deren Grundnahrungsmittel Weizen und Mais sind, ein sehr gefährliches Jahr, sagt Luca Russo.

Die zunehmende Hungerkrise und die genannten strukturellen Schwachstellen lassen nur einen Schluss zu: Das globale Ernährungssystem muss dringend umgestaltet, die Nahrungsmittelproduktion diversifiziert und die Macht der grossen Agrarkonzerne begrenzt werden. Es braucht ein nachhaltiges, agrarökologisches System als Alternative zur grossflächigen, exportorientierten Landwirtschaft und zum industriellen Ernährungssystem. Alles andere wäre – frei nach Albert Einstein – «Wahnsinn: Das Gleiche immer und immer wieder tun und ein anderes Ergebnis erwarten».

Hinweis: Lesen Sie unsere ausführliche Analyse und Forderungen zur globalen Ernährungskrise und erfahren Sie mehr über die Situation in Helvetas-Partnerländern.

© Simon Opladen
Nation Station farmers’ market in Beirut, Lebanon | © Dalia Khamissy

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