Erfolge bei der Korrektur-Initiative und der Menschenrechtsinstitution, Rückschlag für eine zukunftsgerichtete Migrationspolitik sowie unwürdige asyl- und migrationspolitische Wortgefechte vor dem Hintergrund der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan: Die Herbstsession des Nationalrats bot alles – von Überraschungen bis hin zum unwürdigen Schauspiel.
Die Beratungen des Nationalrats zu Beginn der jüngsten Herbstsession (13.09. – 01.10.) waren entwicklungspolitisch von gehobenem Interesse: Es ging um Waffenausfuhren in Bürgerkriegsländer, um Menschenrechte in der Schweiz und um die weltweite Migration. Am zweitletzten Tag kam es zudem zu einer ausführlichen und teilweise unschönen Debatte über «Afghanistan und Zuwanderung».
Schon am zweiten Sessionstag beschloss der Rat mit 105 zu 77 Stimmen gegen den Willen von SP, GP und GLP, die Beratung über den Migrationspakt zu sistieren. Damit stellt sich die Schweizer Aussenpolitik in einem wesentlichen Politikbereich selbst ins Offside (siehe die September-Ausgabe von Polit-Sichten). Direkt im Anschluss befand der Nationalrat über die Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI). Nachdem sich der Ständerat im Juni deutlich dafür ausgesprochen hatte, folgte ihm der Nationalrat mit 136 gegen 52 Stimmen. Einzig die SVP wollte von einem Engagement für die Menschenrechte in der Schweiz nichts wissen. In den Schlussabstimmungen am 1. Oktober bekräftigten beide Räte ihren Entscheid zugunsten einer NMRI deutlich – ein Erfolg für die jahrelangen Bemühungen zahlreicher Menschenrechtsorganisationen. Nun erwartet die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz, dass der Bund genügend Mittel dafür bereitstellt, damit die Institution ihren gesetzlichen Auftrag auch wirklich erfüllen kann.
«Wir sind hier nicht im Zirkus!»
Begonnen hatte der Nationalrat die Session am 13. und 15. September mit einer stundenlangen Debatte über die Korrektur-Initiative «Gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer» und den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats. Dabei wurden von allen Seiten längst bekannte Argumente und Positionierungen vorgetragen, neue Aspekte gab es keine. Dass die Initiative selbst im Nationalrat – wie schon zuvor im Ständerat – keine Chance haben würde, war von Anfang an klar. Zu erwarten war auch, dass der Nationalrat den indirekten Gegenvorschlag grundsätzlich annehmen würde. Diesen hatte der Ständerat im Sommer dahingehend verschärft, dass er dem Bundesrat keine «Abweichungskompetenz» von den neu im Gesetz verankerten Bewilligungskriterien zugestand.
Unsicher aber war, ob der Nationalrat den strengeren Vorgaben des Ständerats folgen würde. Zur Diskussion stand ein Antrag seiner Aussenpolitischen Kommission, wonach Waffenexporte in Bestimmungsländer, die in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sind, zulässig sein sollten, sofern es sich um «demokratische Länder, die über ein Exportkontrollregime verfügen, das mit demjenigen der Schweiz vergleichbar ist», handelt. Mit diesem als Kompromiss bezeichneten Vorschlag sollte die Streichung der bundesrätlichen «Abweichungskompetenz» mehrheitsfähig gemacht werden – für das Komitee der Korrektur-Initiative aber ein inakzeptabler Vorschlag, da weder «demokratische Länder» noch «vergleichbares Exportkontrollregime» klar definierte Begriffe sind und daher Waffenexporte in Bürgerkriegsländer weiterhin möglich blieben. Doch überraschend lehnte der Nationalrat den Antrag mit 96 zu 91 Stimmen ab. Als dieser Entscheid aufleuchtete, gab es im Rat einige Begeisterungs- und Unmutsbekundungen, worauf der Ratspräsident die Parlamentsmitglieder hörbar verärgert ermahnte: «Wir sind hier nicht im Zirkus!» Nebenbei: Dieser Tadel fand (leider) nicht Aufnahme im Wortprotokoll.
Den Zirkus mag man finden, wie man will. Jedenfalls stimmte der Nationalrat anschliessend dem indirekten Gegenvorschlag zu und bestätigte dies in der Schlussabstimmung vom 1. Oktober trotz intensivem Lobbying der Gegner mit 111 zu 85 Stimmen. Die geschlossene Ablehnung seitens SVP und FDP hatte nicht genügt; SP, GLP, GP und Mitte obsiegten. Gleichentags tat es ihm der Ständerat mit 25 zu 16 Stimmen gleich. Damit machte das Parlament den Weg frei für den Rückzug der Initiative.
Dringliche Afghanistan-Debatte
Am zweitletzten Tag der Session gab der Nationalrat in einer kurzfristig anberaumten Diskussion zum Themenkomplex «Afghanistan und Zuwanderung» ein unwürdiges Schauspiel ab. Gegenstand des Streits waren Geld und Zuwanderung, nicht die politische Lage nach der Machtergreifung durch die Taliban oder die verschärfte humanitäre Krise: Mehr als die Hälfte der Menschen in Afghanistan ist derzeit auf Nahrung, Trinkwasser, medizinische Versorgung und Unterkünfte angewiesen. Ein Drittel der Bevölkerung, das sind 14 Millionen Menschen, hat nicht ausreichend zu essen. Ende 2020 waren 2,9 Millionen Menschen Flüchtlinge im eigenen Land, und diese Zahl hat sich 2021 um etwa 665'000 intern Vertriebene erhöht, davon 80 Prozent Frauen und Kinder (Stand September 2021). Im Weiteren sind laut UNHCR 2,2 Millionen afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan registriert, wobei sich die Zahl 2021 nur um knapp 40'000 erhöhte (Stand 9.10.2021).
Angesichts dieser Zuspitzung der humanitären Krise war es nachvollziehbar, dass alle Fraktionen dringliche Interpellationen eingereicht hatten, um eine rasche Aussprache über das humanitäre und migrationspolitische Engagement der Schweiz zu ermöglichen. Dass sich die Schweiz weiterhin humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit leistet, war im Grundsatz kaum umstritten, wohl aber die Höhe der Mittel. Der Bundesrat hat für 2021 und 2022 rund 60 Millionen Franken vorgesehen. Den einen war dies zu wenig, andere sahen die Gelder bereits «zu den Taliban oder zum ‘Islamischen Staat’ fliessen» und verlangten scharfe Kontrollen – obwohl der Bundesrats mehrmals bekräftigt hatte, dass die Mittel ans IKRK, an UN-Organisationen und an internationale NGO gehen würden.
Zankapfel Zuwanderung
Doch vor allem ging es um Migrationspolitik, um Asyl und vorläufige Aufnahme, um «Personen mit Bezug zur Schweiz» und um Resettlement. Wer das Gezänk dazu im Wortlaut nachliest, muss sich fragen, ob das nun das übliche Niveau parlamentarischer Auseinandersetzungen sei. Wäre das Thema nicht so ernst, man könnte erneut von schlechtem Zirkus sprechen. Verhärtet waren die Fronten insbesondere, wenn es darum ging, ob der Bund humanitäre Visa für Menschen mit einem direkten Bezug zur Schweiz ausstellen, ob er sich an vorläufigen Aufnahmeaktionen und Resettlement-Programmen des UNHCR beteiligen und ob er die rechtliche Situation der in der Schweiz anwesenden Afghaninnen und Afghanen verbessern solle. Von grosszügiger Aufnahme tausender Personen bis hin strikten Weigerung jeglicher Zugeständnisse war alles zu hören, zumeist mit klaren Worten.
Richtig heftig wurde der Streit aber, als die SVP die Schweiz schon mal «in ein Asylchaos schlittern» sah – obwohl weit und breit keine grösseren Fluchtbewegungen nach Europa auszumachen sind. Die Partei stehe «erdbebensicher auf der Grundlage unseres Asylrechts». Dazu sagte sie, so als gebe es weder humanitäres Völkerrecht noch Menschenrechte: «Was Recht ist, das gilt, und was Recht ist, das beschliessen Volk und Stände. Das gilt auch und gerade in der Asylpolitik». Im Übrigen wurde «Leuten aus diesen Kulturkreisen» schon mal unterstellt, sie seien «nicht gewillt, sich zu integrieren», und «zu faul, um zu arbeiten». Sie würden direkt «ins Sozialsystem einwandern». Teile der Ratslinke seien bereit, «Hunderttausende von Islamisten, von Islamangehörigen in die Schweiz zu importieren». Doch auch diese teilten aus. Der SVP wurden Krokodilstränen und «politische Perversion» vorgeworfen. Der Bundesrat habe «politische Scharaden» gemacht und das sei «erbärmlich».
So zogen sich die Wortgefechte ohne konkrete Erkenntnisse endlos in die Länge. Am Schluss blieb der Ratsvizepräsidentin nur noch zu sagen: «Wir sind damit am Ende dieser Debatte angelangt.» Wie wahr.