Nach langem Warten und Zögern beantragt der Bundesrat dem Parlament endlich die Schaffung einer nationalen Menschenrechtsinstitution, wie die UNO sie schon seit 30 Jahren fordert. Der Ständerat wird die Gesetzesvorlage als Erstrat behandeln. Menschenrechte auch im eigenen Land einzuhalten, muss für die Schweiz eigentlich selbstverständlich sein. Alles andere als eine klare Zustimmung wäre ein Affront.
Am 8. Juni wird der Ständerat die Weichen stellen, ob die Schweiz endlich eine unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution einrichten wird. Endlich, liegt das Thema doch schon seit zwanzig Jahren auf dem Tisch. Noch einmal acht Jahre vorher, am 20. Dezember 1993, hatte die UNO-Generalversammlung in der Resolution 48/134 die Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, «wirksame nationale Institutionen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte zu schaffen und in ihrer Zusammensetzung Pluralismus und Unabhängigkeit zu gewährleisten». Doch das musste die Schweiz damals nicht kümmern, wurde sie doch erst neun Jahre später UNO-Mitglied.
Menschenrechte schon, aber nicht zuhause
Menschenrechte haben in der Schweiz einen schweren Stand. Vorbei sind die Zeiten, als sich die Forderung nach deren Einhaltung wie ein roter Faden durch die politischen Diskussionen zog. Die Menschenrechte werden zwar weiterhin gerne in Präambeln zitiert und sind Bestandteil der Schweizer Aussenpolitik, lösen aber schnell Ablehnung aus, wenn es um politische Massnahmen im Inland geht. So hielt die NZZ im März 2011 anlässlich der Schaffung des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR, siehe unten) fest: «Jedermann ist für Menschenrechte und Rechtsstaat. Geht es aber um institutionelle Garantien oder Organisationsstrukturen, die für deren Durchsetzung einstehen sollen, wächst die Skepsis in der Schweiz. Die direkte Demokratie wird nicht selten Menschenrechten und Rechtsstaat konfliktreich gegenübergestellt.»
Sinnbildlich dafür steht der seit den 1990er Jahren schwelende Streit um die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950, die am 28.11.1974 auch für die Schweiz in Kraft trat. Stein des Anstosses ist dabei insbesondere Artikel 46, wonach sich die Vertragsparteien verpflichten, «in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen». Gemeint sind Entscheide des 1959 errichteten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der am 1.11.1998 seine heutige Form als ständiges Gericht in Strassburg erhielt und Individualbeschwerden zulässt. Seither versuchen rechtsnationale Kreise die Menschenrechte als Massstab für die Schweizer Innenpolitik zu diskreditieren. Ihr Ziel: die EMRK aufzukünden und damit aus dem EGMR auszutreten. Dies gipfelte in der 2014 lancierten Selbstbestimmungsinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter». Am 25.11.2018 wurde die Initiative von Volk und Ständen jedoch im Verhältnis 2:1 deutlich abgelehnt.
Die Forderung nach einem NMRI gemäss Pariser Prinzipien
Zurück zum Sommer 2001, als über hundert NGOs, Gewerkschaften, kirchliche Institutionen und Persönlichkeiten an einer Medienkonferenz die Schaffung eines nationalen Menschenrechtsgremiums forderten. Gleichzeitig wurde auch das Parlament aktiv. Denn längst hatte die Schweiz die wichtigsten Menschenrechtsübereinkommen ratifiziert – und damit zugesagt, die eingegangenen Verpflichtungen im eigenen Land umzusetzen. Es brauche daher dringend eine Institution, um die Einhaltung der Menschenrechte in der Schweiz regelmässig zu überprüfen, Defizite aufzuzeigen und Verbesserungsvorschläge zu machen, hiess es damals.
Eckpfeiler einer solchen nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI) sind die in der UNO-Resolution 48/134 festgelegten Pariser Prinzipien: (1) gesetzliche Verankerung, (2) umfassendes Mandat, (3) ausreichende Finanzierung und Infrastruktur, (4) garantierte Unabhängigkeit von Regierung und Parlament, (5) pluralistische Vertretung der gesellschaftlichen Kräfte sowie (6) angemessene Untersuchungsbefugnisse.
Ob eine NMRI diesen Anforderungen genügt, wird vom NMRI-Dachverband «The Global Alliance of National Human Rights» (GANHRI) geprüft. Je nach Grad der Übereinstimmung mit den Pariser Prinzipien erhält sie den A- (vollständig erfüllt), den B- (teilweise erfüllt) oder den C-Status (nicht erfüllt). Aktuell sind beim GANHRI 84 NMRI mit A- und 33 mit B-Status akkreditiert. 30 europäische NMRI haben den A- und neun den B-Status. Keine NMRI haben unter anderem Italien, Rumänien, Tschechien, Weissrussland und die Schweiz.
Im Juli 2009 entschied sich der Bundesrat für ein Pilotprojekt als Zwischenschritt zur unabhängigen NMRI: Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) – ein Netzwerk der Universitäten Bern, Freiburg, Genf, Neuenburg und Zürich – nahm am 6. Mai 2011 seinen Betrieb auf. Ursprünglich befristet bis Ende 2015, verlängerte der Bundesrat die Laufzeit des SKMR zunächst bis Ende 2020 und dann nochmals bis Ende 2022. Dann soll es von einer NMRI abgelöst werden. Dem SKMR wurde ein Beirat zur Seite gestellt, in dem Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Verwaltung, Fachkommissionen und Kantone vertreten sind. Damit sollte die Akzeptanz des SKMR auch mit Blick auf die spätere NMRI gestärkt werden.
Ohne ausreichende Mittel kein A-Status
Weil die Zeit drängte, beschloss der Bundesrat im Sommer 2016, eine NMRI zu schaffen, und liess einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten. In der 2017 durchgeführten Vernehmlassung zu diesem Entwurf sprach sich eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden für ein NMRI gemäss Pariser Prinzipien aus. Irritiert von diesem Befund, verabschiedete der Bundesrat erst nach langem Zaudern und auf Druck des Parlaments, des SKMR-Beirats und der Zivilgesellschaft am 13.12.2019 seine Botschaft mit der gesetzlichen Grundlage zuhanden des Parlaments. Darin sieht er die Schaffung einer unabhängigen NMRI mit A-Status in Form einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft vor. Dabei soll die NMRI in das bestehende «Bundesgesetz über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und zum Schutz der Menschenrechte» (neu: Art. 10.a-c) integriert werden. Damit reagiert der Bundesrat auch auf die Empfehlungen des UNO-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und des UNO-Menschenrechtsrats.
Gemäss Botschaft des Bundesrats umfasst das Mandat der NMRI Aufgaben in den Bereichen Information und Dokumentation, praxisorientierte Forschung, Beratung von Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, Förderung von Dialog und Zusammenarbeit, Menschenrechtsbildung, Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie internationaler Austausch. Der Vorschlag entspricht weitgehend den Pariser Prinzipien, allerdings nicht hinsichtlich Finanzierung und Infrastruktur. Hier zeigt sich der Bundesrat knausrig, will er doch gerade einmal «jährliche Finanzhilfen von 1 Million Franken» leisten. Zudem sollen mit der «Beibehaltung der universitären Verankerung» die Kantone «im Sinne einer Partnerschaft weiterhin für die Kosten der Infrastruktur der NMRI aufkommen». Doch damit wäre die neue NMRI ausserstande, ihr gesetzlich vorgegebenes Mandat auch nur annähernd umzusetzen. Dies sagt auch der Direktor des SKMR: Entscheidend sei, dass sie mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werde. Nur so könne sie ihre vorgesehenen Aufgaben kompetent und unabhängig wahrnehmen. Das veranschlagte Budget über eine Million Franken werde dafür nicht genügen.
Die Betragshöhe ist im Gesetzesentwurf nicht festgelegt. Dennoch muss nun der Ständerat in seinen Beratungen auf einen Budgetrahmen hinwirken, der es dem NMRI erlaubt, den Gesetzesauftrag zu erfüllen. Mit einer Million Franken ist – wie auch die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz warnt – die Institution «nicht funktionsfähig und erfüllt lediglich eine Feigenblattfunktion». Die internationale Anerkennung und konkret der A-Status gemäss den Pariser Prinzipien werde dadurch gefährdet. Ausgehend von den Erfahrungen des SKMR und verschiedener ausländischer NMRI braucht es eine jährliche Grundfinanzierung in der Höhe von mindestens fünf Millionen Franken. Auch Menschenrechte haben ihren Preis.