Das Risiko, vergewaltigt oder Opfer von häuslicher Gewalt zu werden, ist für Frauen zwischen 15 und 44 Jahren höher, als an Krebs zu erkranken oder überfahren zu werden. Trotz internationaler Konventionen und nationaler Gesetze ändert sich nichts: Weltweit erlebt mindestens jede dritte Frau in ihrem Leben Gewalt, wird geschlagen, missbraucht oder zu sexuellen Handlungen gezwungen. Straffreiheit ist nach wie vor weitverbreitet. Deshalb gehen Frauen auf die Strasse und schuldigen an. Wo sie das nicht können, müssen sie ermutigt werden, andere Wege zu finden. Doch Frauen sind die stetigen Proteste leid.
Für Frauen zwischen 15 und 44 Jahren ist Gewalt eine der Hauptursachen für Tod oder Behinderung, schreibt die Uno-Frauenorganisation UN Women. Sie schätzt, dass von den 87’000 Frauen, die 2017 weltweit ermordet wurden, etwa 50'000 von ihren Partnern oder Familienangehörigen getötet wurden. Mit anderen Worten: Jeden Tag werden weltweit 137 Frauen von ihnen nahestehenden Männern ermordet.
Etwa 15 Millionen Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren werden irgendwann in ihrem jugendlichen Leben zu Sex gezwungen. Bei einer Befragung von Studentinnen an 27 Universitäten in den USA gaben ein Viertel an, sexuelle Übergriffe erlebt zu haben. Eine von 10 Frauen in der Europäischen Union muss sich gegen Cyber-Belästigung wehren. Jährlich müssen 12 Millionen Mädchen heiraten, obwohl sie noch keine 18 Jahre alt sind, in Ländern südlich der Sahara sind es zwei von fünf Mädchen.
Die Auflistung frauenfeindlicher Praktiken liesse sich beliebig fortführen – und ergänzt werden mit Zahlen zu Lohndiskriminierung und der Last der Care-Arbeit sowie Statistiken, die die Benachteiligung der Frauen wissenschaftlich belegen und den ökonomischen Schaden berechnen. Diese Informationen sind allesamt nicht neu und Betroffenen wie auch Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern längst bekannt. Dennoch, und das ist schockierend, sterben auch heute über 100 Frauen einen gewaltsamen Tod, weil sie Frauen sind. In diesem Moment werden hunderte Mädchen zu Sex gezwungen, werden Mütter vergewaltigt und werden junge Frauen auf ihrem Handy mit Bildern und Worten, die sie nicht sehen wollen, belästigt. In dieser Minute wieder subventionieren Millionen von Frauen die Wirtschaft, weil sie für weniger Lohn arbeiten müssen als Männer, weil sie Wasser schleppen und den Schwiegervater pflegen auf Kosten ihrer Gesundheit, ihres Einkommens und ihrer politischen Mitbestimmung.
Es ist, als ob Frauen unsichtbar sind
Seit Jahrhunderten wehren sich Frauen gegen Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierungen aller Art. Schon 1791 forderte Olympe de Gouges mit ihrer Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne dieselben Rechte und Pflichten für Frauen ein. Es war ein Protest gegen Männer-Privilegien, weil die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Männern vorbehalten waren. Die Suffragetten mussten vor gut 100 Jahren in Grossbritannien und den USA mit passivem Widerstand, Ungehorsam, Hungerstreik und auch Störungen offizieller Veranstaltungen für das allgemeine Frauenwahlrecht kämpfen – und durchbrachen so eine vermeintlich göttliche Ordnung. Seit 1977 stehen die Mütter und Grossmütter auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, wo sie um ihre verschwundenen Angehörigen trauern sowie Aufklärung und Aufarbeitung der Militärdiktatur fordern. Sie protestieren noch heute jeden Donnerstag. #MeToo hat dank sozialer Medien sexuelle Belästigung ins Scheinwerferlicht gezerrt. Und auch wenn Harvey Weinstein der Vergewaltigung schuldig gesprochen wurde, nutzen Tausende Männer ihre Macht und erzwingen Sex. Kurz: Nichts geht.
Deshalb müssen auch heute, im Jahr 2020, Frauen ihre Forderungen – und ihre Wut – auf die Strasse tragen. Und die Wut nimmt zu. In der kleinen, wohlhabenden Schweiz haben am vergangenen 14. Juni eine halbe Million Frauen und auch viele Männer am Frauenstreik teilgenommen. Nationalrätin Tamara Funiciello hat «die ganze verdammte Bäckerei» gefordert – mit einem Stück des Kuchens geben sich die Frauen nämlich nicht mehr zufrieden. Es braucht einen Systemwechsel, damit Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen endlich ein Ende haben.
Doch nicht überall können Frauen auf der Strasse ihrer Wut freien Lauf lassen. Wo das nicht möglich ist, müssen subtilere Formen des Protests gefunden und gestärkt werden. Manchmal reicht eine Rechtsberatung für Frauen, wie sie die DEZA in Tadschikistan unterstützt. Dort geht es um Recht und Gerechtigkeit in einer patriarchalen Gesellschaft. Und um kleine Erfolge, etwa, wenn aufgrund dieser Arbeit Dorfbewohnerinnen und -bewohner bei einer Gemeindeversammlung diskutieren, dass häusliche Gewalt kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem ist und beraten, was dagegen unternommen werden muss. Kleine Schritte, wichtige Schritte, notwendige Schritte.
Gesetze, die nicht eingehalten werden
Weltweit verfügen mindestens 144 Länder über Gesetze gegen häusliche Gewalt und 154 Länder über Gesetze gegen sexuelle Belästigung. «Doch selbst wenn Gesetze existieren, bedeutet dies nicht, dass sie immer mit internationalen Normen und Empfehlungen übereinstimmen oder umgesetzt werden», schreibt UN Women. 2017 wurden in Latein- und Zentralamerika gerade einmal zwei Prozent aller Femizide und Fälle von Gewalt gegen Frauen aufgeklärt. In 98 Prozent der Fälle gingen die Täter straffrei aus! Der Grund: Polizei und Justiz sind männerdominiert. Budgets werden von Männern gemacht und in männerdominierten Parlamenten verabschiedet. Geld fliesst in Verteidigung statt in Bildung, in Wirtschaftsförderung statt in Gesundheit.
Deshalb klagt in Chile das feministische Künstlerinnen-Kollektiv LasTesis zusammen mit Zehntausenden Frauen Staat und Justiz an, Frauen systematisch zu benachteiligen und zu «vergewaltigen». Die Performance «El violador en tu camino» geht um die Welt. In dutzenden Sprachen singen Frauen von Mexiko über Paris, den Kosovo, die Türkei bis nach Indien: «Es war nicht meine Schuld, egal, wo ich war oder was ich trug! Der Vergewaltiger bist du!» Das Patriarchat sei ein Richter, der Frauen dafür verurteile, dass sie geboren wurden, und die Strafe sei die Gewalt, die man nicht sehe. Femizid, Straffreiheit für Mörder, Verschwinden lassen, Vergewaltigung. «Und es war nicht meine Schuld, egal, wo ich war oder was ich trug! Der Vergewaltiger bist du!» Polizisten, Richter, der Staat, der Präsident. «Der unterdrückende Staat ist ein Vergewaltiger. Der unterdrückende Staat ist ein Vergewaltiger.»
Frauen sind es leid, dass ihre Rechte keine Selbstverständlichkeit sind. Dass sie in einer männerdominierten Gesellschaft um ihre Sicherheit und Integrität bangen müssen – auch in der Schweiz. Sie sind die kleinen Schritte leid. Sie sind die Proteste leid, so lustvoll sie auch scheinen mögen – und oft auch sind. Menschenrechte sind auch Frauenrechte, verdammt nochmal! Was die Frauen wollen, ist eine Welt, in der sie ohne Angst und Bedrängnis leben können. Eine Welt, in der sie nicht systematisch zu schutzlosen Opfern gemacht werden. Eine Welt, in der sie Beteiligte und Entscheidungsträgerinnen sind.
Gerade einmal drei Länder gewichten das Wohlbefinden ihrer Bürgerinnen und Bürger höher als das Wirtschaftswachstum: In der Wellbeing Economy Governments Initiative sind Schottland, Island und Neuseeland – alles Länder, die von Frauen regiert werden.