Weltweit sind die Preise für Getreide angestiegen. Zuerst während Corona, nun aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine. Wie in den letzten Ernährungskrisen ab 2007 und 2011 deutet alles darauf hin, dass Finanzspekulation auch diese Krise befeuert – und Millionen Menschen zusätzlich in Not und Armut stürzt.
Ein halbes Jahr nach Beginn des Ukrainekrieges ist die Inflation der Nahrungsmittelpreise in vielen Ländern besorgniserregend hoch. Zwar haben sich die Preise nach einem anfänglich sprunghaften Anstieg kurz nach Kriegsausbruch gegen den Sommer hin wieder etwas normalisiert. Sie liegen aber immer noch deutlich über dem Vorjahresniveau. Angesichts der wirtschaftlichen Einbrüche in vielen Ländern des Globalen Südens und der Tatsache, dass Millionen Menschen während der Coronapandemie ihre Verdienstmöglichkeiten verloren haben, wirken sich die Preisanstiege gravierend auf die Ernährungssituation der Bevölkerung ärmerer Länder aus.
Der Index für Nahrungsmittelpreise (Food Price Index) der UNO-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) hat sich in den vergangenen knapp 20 Jahren mehr als verdoppelt, von 66 Indexpunkten im Jahr 2004 auf 160 bis im Mai 2022 und nun 138 diesen August. Damit haben die Preise Rekordwerte erreicht, die sogar über dem Niveau der Nahrungsmittelkrisen von 2007/2008 und 2011 liegen.
Unterschiedliche Aspekte des stark internationalisierten und störungsanfälligen Ernährungssystems sind für die hohen und volatilen Nahrungsmittelpreise verantwortlich: Ernteausfälle aufgrund von gewaltsamen Konflikten und klimabedingten Extremwetterereignissen; steigende Energiepreise und höhere Transportkosten; Transportblockaden und Unterbrüche bei länderübergreifenden Lieferketten (Blockade ukrainischer Seehäfen und Lieferunterbrüche wegen Corona) sowie Exportrestriktionen (z.B. Indien) und das Horten von Getreide (z.B. China). Hinzu kommt die Spekulation an den internationalen Agrarrohstoffmärkten.
Mit dem Handel kam die Spekulation
Spekulation ist an sich nichts Neues. Seit jeher steigen und sinken die Preise für Agrarprodukte wie Mais, Maniok oder Weizen – aufgrund der saisonalen Produktion und weil die Erträge klima- und witterungsbedingten Schwankungen unterliegen. Durch Lagerung von Nahrungsmitteln wie Getreide und Ölsaaten wird schon seit tausenden von Jahren darauf spekuliert, dass eine vorhergesagte Knappheit in der Zukunft den Preis und somit die Gewinne erhöht. Gleichzeitig können mittels Lagerhaltung Einbrüche und Verknappungen im Angebot ausgeglichen werden.
Im Laufe der Zeit kamen Warenterminkontrakte hinzu: Bereits im Vorfeld wird ein Verkaufspreis für einen bestimmen Liefertermin in der Zukunft vertraglich festgehalten. Dadurch können sich Landwirte bereits vor der Weizenernte gegen einen Preisabfall, und Getreidehändler und Käufer der Ernte gegen einen Preisanstieg absichern. Terminmärkte gelten als wichtiges Instrument für die «Preisfindung», und senken die sogenannten «Transaktionskosten» für die Marktakteure, indem Produzenten und Käufer nicht lange nach passenden Vertragspartnern suchen müssen. Expertinnen und Experten sind daher mehrheitlich der Meinung, dass Finanzspekulation inhärenter Teil funktionierender und effizienter Agrarmärkte ist, und es falsch wäre, Nahrungsmittel vollständig von spekulativen Geschäften auszuschliessen.
Spekulation «off the hook»
Dass spekulative Termingeschäfte mit Agrarrohstoffen seit den 2000er Jahren immer häufiger in den Portfolios von Banken und Pensionskassen gelandet sind, ist allerdings problematisch. Finanzspekulanten wie Hedgefonds und Index Trader entdeckten Agrarrohstoffe als interessante Anlageklasse neben Aktien und Immobilien. Schon seit langem warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Weltbank und der UNO, dass gewisse Finanzmarktprodukte die Nahrungsmittelpreise stark beeinflussen und Preisschwankungen verursachen, und somit ein Risiko für die Ernährungssicherheit in ärmeren Ländern darstellen.
Besonders bedenklich ist der Hochfrequenzhandel, auf dem inzwischen ein Grossteil der Transaktionen am Warenterminmarkt für Agrarrohstoffe beruht. Basierend auf statistischen Modellen, ist er von der Realität komplett abgekoppelt: Das Ziel des Hochfrequenzhandels ist maximaler Gewinn für Investorinnen und Investoren, und zwar innert kürzester Zeit. Real-weltliche Aspekte wie Nahrungsmittelknappheit, lebensbedrohliche Mangellagen und Hungersnöte in ärmeren Ländern interessieren die Spekulantinnen und Spekulanten in keiner Art und Weise. Für Kritiker ist daher klar: Während der Ernährungskrise 2007/2008 war die exzessive Finanzspekulation für die Preisspitzen bei Agrarprodukten mitverantwortlich.
Während der Corona-Krise und jüngst mit dem Angriffskrieg in der Ukraine hat der spekulative Handel noch einmal zugenommen, so z.B. an der ältesten und weltweit wichtigsten Terminbörse in Chicago. Während die weltweiten Nahrungsmittelpreise gemäss dem FAO-Nahrungsmittelpreisindex im März 2022 den höchsten Stand je erreichten, und sich die prekäre Ernährungslage in vielen Ländern Nordafrikas und im Nahen Osten zuspitzte, fluteten Finanzspekulanten die Agrarmärkte regelrecht, in der Hoffnung, bei steigenden Preisen hohe Gewinne zu erzielen.
Ganz bewusst verkauften die «Wohlstandsabteilungen» (Vermögensverwaltungen, Wealth Management) einschlägiger Grossbanken ihren superreichen Kundinnen und Kunden Landwirtschaftsfonds und profitierten von landwirtschaftlichen Preiserhöhungen, die Millionen von Menschen in ärmeren Ländern in Hunger und Not trieben. Die Weltbank schätzt, dass jeder Anstieg der Nahrungsmittelpreise um einen Prozentpunkt rund 10 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut stürzt. Für das Internationale Expertenpanel zu nachhaltigen Ernährungssystemen (iPES Food) steht ausser Frage: Die gegenwärtigen Preisaufschläge und -schwankungen werden durch Rohstoff-Spekulation zusätzlich befeuert.
Vier Konzerne dominieren den Agrarrohstoff-Handel: Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus (auch bekannt als ABCD-Gruppe). Sie besitzen Silos, Ölmühlen und Fabriken ebenso wie Hochseeschiffe, Häfen und Eisenbahnen. Hinzu gekommen ist der chinesische Staatsbetrieb Cofco. Die Konzerne sichern ihren Agrarhandel gegen Preisrisiken ab und haben wegen ihrer schieren Marktmacht die globalen Agrarmärkte im Griff. Die drei wichtigsten Waren des landwirtschaftlichen Rohstoffhandels sind Weizen, Mais und Soja. Je nach Marktlage, Qualität und Preis werden diese Agrarrohstoffe als Nahrungsmittel, Futtermittel oder Agrokraftstoff verkauft. Die Agrarmultis besitzen ausserdem eigene Investmentgesellschaften und sind in spekulative Geschäfte an den Warenterminbörsen involviert. Da die ABCD-Gruppe ihren gesamten Getreidehandel am Genfersee abwickelt, ist die Schweiz weltweit der wichtigste Handelsplatz für Landwirtschaftsgüter – 60 Prozent aller Getreide werden in der Schweiz gehandelt. Genf ist also als grösster Handelsplatz für Rohwaren nicht nur die Nummer eins bei Öl, Zucker und Kaffee, sondern auch bei Getreide, Reis und Ölsaaten.
Die Regulierung greift nicht
Eigentlich war sich die Staatengemeinschaft nach der Ernährungskrise 2007/2008 einig: Die Markttransparenz muss dringend ausgebaut und die schädliche Rohstoffspekulation eingeschränkt werden. 15 Jahre später zeigt sich: Die unternommenen Schritte sind absolut unzureichend. Zwar haben die USA und auch die EU die Regulierung ausgebaut. Doch die gegenwärtigen Entwicklungen an den weltweiten Agrarrohstoffmärkten deuten darauf hin, dass die Aufsicht immer noch zu wenig greift. Daran wird wohl auch der Appell der Landwirtschaftsminister am G7-Gipfel in Berlin von Anfang März wenig ändern. Im Communiqué zum russischen Angriff auf die Ukraine sprachen sich die Agrarminister dafür aus, gegen «künstlich überhöhte Preise» und «spekulatives Verhalten» vorzugehen, und «die Märkte, die das Lebensmittelsystem beeinflussen, einschliesslich der Terminmärkte, genau zu beobachten, um volle Transparenz herzustellen».
Klarere Worte in dieser Sache findet Olivier De Schutter, UNO-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte: «Spekulative Aktivitäten mächtiger institutioneller Investoren, die sich im Allgemeinen nicht um die Fundamentaldaten des Agrarmarktes kümmern, wetten in der Tat auf den Hunger und verschärfen ihn noch».
Dringend erforderlich wäre eine stärkere Regulierung der Handelsplätze für Agrarrohstoffe. Es braucht mehr Markttransparenz und Überwachung an Terminbörsen. Es braucht tiefere Positionslimiten, um exzessive Spekulation einzuschränken. Es braucht klare Regeln, die den destabilisierenden Einfluss des Hochfrequenzhandels begrenzen. Und es braucht – besonders in Krisenzeiten wie jetzt – eine freiwillige Selbstbeschränkung der grossen Agrarplayer, Banken und Fondsgesellschaften auf Finanzspekulation mit Nahrungsmitteln.