Corona bremst die internationale Arbeitsmigration aus. Die «Krise der Immobilität» als Folge der Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie belastet nicht nur Arbeitsmigrantinnen und -migranten, sondern auch Entsende- und Zielländer. Die Coronakrise stellt die Verknüpfung von Migration und Entwicklung in Frage. Sie bietet aber auch die Chance, alte Muster in der Arbeitsmigration zu überdenken und neu zu gestalten.
Die weltweite Krise der Immobilität stand im Zentrum des 13. Gipfels des Globalen Forums für Migration und Entwicklung (GFMD), das im Januar 2021 von den Vereinigten Arabischen Emiraten organisiert wurde. Der Gipfel war in mehrfacher Hinsicht ein Novum: Er war der erste, der in der Golfregion durchgeführt wurde, einer Region, die in der Migrationsdebatte in vielerlei Hinsicht im Mittelpunkt steht. Er war der erste, der im Zeichen der Coronapandemie stattfand. Und der erste, der online abgehalten wurde. Zum Abschluss appellierte der Vorsitzende an alle GFMD-Mitglieder, «die verwüstete Wirtschaft wiederaufzubauen, die menschenwürdige Arbeit in der Migration zu erneuern und das Migrationsmanagement wiederherzustellen». Doch es braucht mehr als Wiederaufbau und «business as usual», wenn die Vorteile der Migration künftig allen zugutekommen sollen. Corona bietet die Chance, bestehende Abhängigkeiten zu hinterfragen und im Sinne der globalen Konnektivität neu zu gestalten.
Der Migrationskorridor Südasien – Golf
Der Migrationskorridor zwischen der Golfregion und Südasien ist sinnbildlich für die Verknüpfung von Migration und Entwicklung. Auf der einen Seite stehen Volkswirtschaften, die von ausländischen Arbeitskräften abhängig sind. Deren Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt dort zwischen 56 und 93 Prozent. Am anderen Ende des Korridors befinden sich Millionen junger Menschen aus Indien, Pakistan, Bangladesch oder Nepal, die den Weg der Arbeitsmigration einschlagen. Jährlich verlassen Hunderttausende ihr Land, die meisten in Richtung Golfregion. Vor Ausbruch der Coronapandemie waren es gegen 400’000 junge Menschen aus Nepal und 800’000 aus Bangladesch. Sie arbeiten als ungelernte Arbeitskräfte im Bausektor oder als Techniker, Koch oder Fahrer. Frauen sind hauptsächlich als Hausangestellte und zunehmend im Care-Bereich tätig; der Aufenthalt ist meist auf 24 Monate begrenzt.
Die Arbeitsmigration ist ein Pfeiler vieler südasiatischer Volkswirtschaften und die Rücküberweisungen (Remissen) sind ein wichtiger Teil des Bruttonationaleinkommens (BNE). Indien war 2020 gemäss Weltbank der weltweit grösste Empfänger von Remissen mit 76 Milliarden US-Dollar; nach Bangladesch flossen 20 Milliarden. Und bei Nepal machen Remissen knapp 25 Prozent des BNE aus. Sie dienen der Existenzsicherung der Daheimgebliebenen (für Nahrung, Wohnen, Gesundheit usw.), ermöglichen aber auch Investitionen in Bildung und Kleinunternehmen und tragen so zur (lokalen) Entwicklung bei.
Trotz dieser Vorteile bleiben das Migrationsmanagement und speziell der Schutz der Arbeitnehmerrechte im Migrationskorridor Südasien – Golf lücken- und mangelhaft. Bilaterale Abkommen zwischen Entsende- und Zielländern werden zwar genutzt, um formell einen Migrationskorridor zu eröffnen, enthalten aber oft nur vage Bestimmungen zum Schutz und zu den Rechten der Arbeitnehmenden und wie sie diese einfordern können. Denn bei den Verhandlungen möchte jedes Entsendeland für sich den Zugang «seiner» Migrantinnen und Migranten zum Arbeitsmarkt nicht aufs Spiel setzen – auf Kosten von Bestimmungen zu würdigen Arbeitsbedingungen.
Ohne Schutz im Lockdown und mit Auswirkungen in den Herkunftsländern
Die Pandemie hat drastische Auswirkungen auf das Migrationssystem und auf die Situation der Betroffenen, beispielsweise für jene aus Nepal. Auf beiden Seiten schlossen Länder ihre Grenzen für Ein- und Ausreisen. International im Stich gelassen, sitzen zahllose Arbeitsmigrantinnen und -migranten in einer Falle, ohne Klarheit über ihre Rechte und ohne Möglichkeit, nach Hause zu gehen. Haben sie keine Arbeit mehr, wird ihre Situation schnell dramatisch: Von sozialen Schutzsystemen ausgeschlossen, sind sie für Nahrung und Unterkunft oft auf den «guten Willen» ihres Arbeitgebers oder auf zivilgesellschaftliche Initiativen angewiesen. Botschaften waren unvorbereitet und verfügten nicht über genügend Ressourcen, um ihren Landsleuten zu helfen. Viele Migrantinnen und Migranten arbeiteten weiter, sei es in Teil- oder Vollzeit, und einige von ihnen, ohne während der Zeit der Krise bezahlt zu werden. Jene, die es schafften, nach Hause zurückzukehren, waren nach ihrer Rückkehr oft mit Stigmatisierung konfrontiert und wurden geächtet, weil sie als Verbreiter des Virus angesehen wurden.
Die Auswirkungen der Krise der Immobilität sind vielfältig. Hinzu kommen zwei Herausforderungen, die – mit Verzögerung – die Entsendeländer, für die Migration normalerweise ein Mechanismus zur Bewältigung interner Schocks ist, treffen werden. Als erste und unmittelbare Folge wurde schon früh ein Rückgang der Remissen angenommen. So schätzte die Weltbank zunächst, die Remissen nach Südasien würden 2020 um 22 Prozent zurückgehen. Das hat sich nicht überall bestätigt. In einigen Ländern blieben sie relativ stabil, während andere nach einem vorübergehenden Einbruch während des Lockdowns im zweiten Halbjahr sogar einen Anstieg verzeichneten, wie zum Beispiel Nepal. Teilweise lässt sich dieser Anstieg aber damit erklären, dass Migrantinnen und Migranten wegen der Reisebeschränkungen vermehrt formelle statt informelle Überweisungskanäle nutzen. Dadurch werden mehr Überweisungen registriert, als wenn Geld informell, beispielsweise über heimreisende Bekannte, nach Hause geschickt wird. Für das künftige Gesamtvolumen der Transfers wird vor allem die Anzahl der verbleibenden Arbeitsplätze von Bedeutung sein.
Die zweite Herausforderung betrifft die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und gezwungen sind, nach Hause zurückzukehren. Ihre Wiedereingliederung in die nationalen Arbeitsmärkte wird erhebliche Unterstützungsmassnahmen verlangen. Doch noch ist die Nettobilanz dieser «Rückwanderung» schwer abschätzbar und dürfte von Land zu Land und von Branche zu Branche sehr unterschiedlich sein. Und noch immer zeigen Umfragen in den Entsendeländern, dass viele Junge ihre unmittelbare berufliche Zukunft nach wie vor im Ausland sehen.
Arbeitsmigration neu ausgestalten
Die Folgen der Coronapandemie bleiben im Detail schwer vorhersehbar. Für Migrantinnen und Migranten aus Südasien waren die ersten zwölf Monate besonders hart. Gleichzeitig hat die Krise Lücken bei der internationalen Migrationszusammenarbeit aufgezeigt. Betroffene Staaten ergriffen oft Massnahmen im Alleingang, ohne sich untereinander abzustimmen oder die Situation der anwesenden Arbeitsmigrantinnen und -migranten zu berücksichtigen. Die Regelungen und Mechanismen waren unzureichend, um die Gesundheitskrise zu bewältigen, mit der Immobilität umzugehen und die Betroffenen, die oft auf sich alleingestellt waren, adäquat zu informieren und zu schützen.
Der weltweite wirtschaftliche Abschwung wird sich unweigerlich auf die Herkunftsländer auswirken. Der ausländische Arbeitsmarkt wird attraktiv bleiben und gleichzeitig noch wettbewerbsfähiger werden. Damit erhöht sich auch das Risiko betrügerischer Praktiken und Ausbeutung. Gleichzeitig wird die zu erwartende Rückkehr jener Migrantinnen und Migranten, die ihre Arbeit verloren haben, in Kombination mit einem Rückgang der Remissen die Volkswirtschaften und einzelnen Haushalte der Herkunftsländer weiter schwächen.
Dies alles legt nahe, dass ein Wiederaufbau der alten Mechanismen nicht ausreicht und auch nicht wünschenswert ist. Jede Krise birgt die Chance, bestehende Modelle zu überdenken und zu verändern. So gesehen kann die Coronakrise für südasiatische Länder der Moment sein, einen «anderen» Wiederaufbau anzugehen und die Bedeutung von Migration innerhalb der Gesellschaft zu überdenken und sie mit nationalen Wirtschafts- und Entwicklungsstrategien zu verknüpfen. Die Krise kann der Moment sein, die bisherige volkswirtschaftliche Abhängigkeit von der Migration zu verringern und auf zukunftsgerichtete Sektoren mit Potenzial für den heimischen und den internationalen Arbeitsmarkt zu fokussieren. Und sie kann und sollte ein Weckruf für die internationale Zusammenarbeit sein, die Spielregeln im Migrationsprozess neu zu gestalten und den Zugang aller Migrantinnen und Migranten zu Schutz, Grundversorgung und menschenwürdiger Arbeit zu verbessern.