Die Digitalisierung ist unumkehrbar, auch in Afrika. Sie kann den Kontinent in Richtung Nachhaltigkeit und Gleichheit verändern, birgt aber auch Risiken. Denn sie ist längst nicht allen zugänglich, und wer nicht daran teilhaben kann, droht zurückgelassen zu werden. Die Afrikanische Union hat sich einer inklusiven digitalen Transformation verpflichtet. Doch der Weg dahin ist steinig.
Wer sich mit Entwicklungsfragen beschäftigt, begegnet umgehend dem Credo einer digitalen Transformation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die Coronapandemie hat den weltweiten Bedarf an digitalen Lösungen in den letzten zwei Jahren nochmals verstärkt – nicht nur im Gesundheitswesen und in der Bildung, in denen die Schwachstellen auch in Industrieländern schmerzhaft spürbar wurden.
Unterschiede in der digitalen Lebensqualität
Die Digitalisierung ist in reichen Volkswirtschaften und im globalen Fluss von Waren, Kapital, Wissen, Daten und Ideen weit fortgeschritten und entwickelt sich rasch weiter. Die Kehrseite dieser rasanten digitalen Dynamik ist eine weitreichende und anhaltende digitale Kluft zwischen jenen, die vom digitalen Zeitalter profitieren, und jenen, die dies nicht können. Menschen ohne Kenntnisse und/oder Zugang zu den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) einschliesslich Internet werden sozial, wirtschaftlich und politisch benachteiligt und ausgegrenzt, da sie kaum in der Lage sind, digitale Informationen zu erhalten, online einzukaufen, sich demokratisch zu beteiligen oder Fähigkeiten zu erlernen und anzubieten. Diese Kluft manifestiert sich sowohl innerhalb einzelner Länder als auch zwischen verschiedenen Ländern und Kontinenten.
Einen Einblick in diese weltweite digitale Realität gibt der aktuelle Digital Quality of Life Index (DQL Index) des Cybersicherheitsunternehmens Surfshark. Der DQL Index untersucht den Stand und die Auswirkungen von fünf Faktoren: Internetkosten, Internetqualität, elektronische Infrastruktur, elektronische Sicherheit sowie E-Government (Einsatz digitaler IKT zur Abwicklung wichtiger Geschäfte von Bevölkerung und Wirtschaft mit den Behörden). Der Index gibt Aufschluss darüber, welche dieser Faktoren sich am stärksten auf das digitale Wohlergehen der Menschen in einem bestimmten Land auswirken und welche Bereiche zur Verbesserung priorisiert werden sollten.
Im aktuellen Index werden 110 Länder aus allen Weltregionen beurteilt, die zusammen 90 Prozent der Weltbevölkerung vereinen. Die maximal zu erreichende Punktzahl für ein Land liegt bei 1.00, wobei die Bewertungen der einzelnen Faktoren addiert werden. Dänemark steht mit 0.83 zuoberst im Ranking, gefolgt von Südkorea und Finnland (je 0.76), die Schweiz rangiert auf Platz 8 mit 0.71 Punkten. Der Index umfasst auch 18 afrikanische Länder, von Südafrika auf Rang 68 (0.49) bis Äthiopien auf Rang 110 (0.20). Die 18 Länder besetzen bei jedem der fünf Faktoren hinterste Ränge. Besonders schlecht schneiden die meisten der untersuchten afrikanischen Länder bei der Erschwinglichkeit des Internets und der elektronischen Infrastruktur ab.
Das digitale Gesicht Afrikas
Vor neun Jahren begab sich die Afrikanische Union mit der «Agenda 2063: The Africa We Want» auf den langen und steinigen Weg einer umfassenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation mit demokratischer Regierungsführung, Sicherheit und Frieden – hin zu einem «inklusiven Kontinent, auf dem kein Kind, keine Frau und kein Mann zurückgelassen oder ausgeschlossen wird». Ein Hauptziel der Agenda ist dabei der Auf- und Ausbau der notwendigen Infrastruktur, «um Afrikas beschleunigte Integration sowie Wachstum, technologischen Wandel, Handel und Entwicklung zu unterstützen. Dazu gehören Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetze, Strassen, Schifffahrtslinien, See- und Luftverkehr sowie gut entwickelte IKT und die digitale Wirtschaft».
Tatsächlich sehen viele afrikanische Regierungen in der Digitalisierung ein Potenzial für ihre sozioökonomische Entwicklung, speziell um den Industrie- und Dienstleistungssektor voranzutreiben und die landwirtschaftliche Produktion zu verbessern. Sie wird als wichtige Triebkraft für Wachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und eine umweltfreundlichere industrielle Entwicklung angesehen. Daher riefen sieben afrikanische Staatsoberhäupter 2013 am Transform Africa Summit in Kigali das «Smart Africa Manifesto» ins Leben, das ein Jahr später alle 54 AU-Mitglieder guthiessen. Heute versteht sich Smart Africa als «eine mutige und innovative Verpflichtung» von 30 afrikanischen Staaten mit einer Bevölkerung von 750 Millionen Menschen. Smart Africa will bis 2030 durch den erschwinglichen Zugang zu Breitbandinternet und IKT einen digitalen afrikanischen Binnenmarkt entwickeln und eine Wissensökonomie etablieren. Smart Africa hat sich dazu mit einer breiten Palette grosser IKT-Unternehmen zusammengeschlossen.
Die Dynamik digitaler Lösungen
Diese hohen Erwartungen werden indes durch die tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Afrika – und aktuell wegen der Coronapandemie – zunehmend in Frage gestellt. Zudem besteht trotz aller Bemühungen das Risiko, dass sich die digitale Kluft zwischen den afrikanischen und den technologisch fortgeschritteneren Ländern bei der Herstellung und Kontrolle der IKT-Hard- und Software weiter vergrössert und die Marktungleichgewichte sich verstärken. Nur wenige afrikanische Länder verfügen über nennenswerte Produktionskapazitäten für IKT-Produkte und -Komponenten «made in Africa».
Allerdings haben sich mittlerweile – nicht zuletzt wegen der starken Zunahme von Mobiltelefonie und Smartphone-Nutzung – vielerorts Technologiezentren gebildet, in denen an Lösungen für die Probleme des Kontinents gearbeitet wird. Zum Beispiel das südafrikanische mLab, das neue Kompetenzen, Lösungen und Unternehmen fördert. Oder das Innovationszentrum iHub in Nairobi, das Sozialkapital und Technologie voranbringen will und bereits über 450 Start-ups inspiriert und unterstützt hat. Zu nennen ist auch das erste afrikanische Smartphone, das Mara Phone, das 2019 auf den Markt kam und dank Onlineangebot auch hierzulande erhältlich ist. Gestartet als kleines Hardware-Handelsunternehmen in Ruanda, ist die Mara Corporation heute in 25 afrikanischen Ländern tätig. Oder das in Nigeria gegründete Start-up Jumia, das sich zur führenden E-Commerce-Plattform in Subsahara-Afrika entwickelt hat und als erstes afrikanisches Start-up an der New Yorker Börse notiert ist.
Auch die «Digitalisation for Agriculture» (D4Ag) entwickelt sich rasch. 2018 gab es laut einer Studie in Subsahara-Afrika 390 elektronische D4Ag-Anwendungen. Darunter gehören all jene digitalen Technologien, Innovationen und Daten, mit deren Hilfe landwirtschaftliche Wertschöpfungsketten verbessert werden sollen, indem sie für höhere Produktivität, besseres Erntemanagement, Marktzugang oder Finanzierung sorgen. Stellvertretend dafür sei die interaktive App der ugandischen Sozialfirma Farm Kiosk genannt, die Bauernfamilien mit den Märkten verbindet und Wissen vermittelt, womit diese ihre Erträge deutlich steigern können. Oder die App Plantix, die als mobiler «Pflanzendoktor» die Analyse von Schäden ermöglicht und Behandlungstipps gibt, um die Ernteerträge der Bauern sicherzustellen. Auch die in Afrika weit verbreiteten Spar- und Kreditgruppen nutzen vermehrt Apps wie Zeepay, um die Finanzen zu regeln und die Einzahlungen, Kredite und Zinszahlungen zu kontrollieren.
Digitale Transformation für alle
Solche Initiativen tragen dazu bei, das Potenzial der Digitalisierung freizusetzen und technikferne Menschen an sie heranzuführen. Sie genügen aber nicht, wenn dieses Potenzial auch wirklich allen Menschen von Nutzen sein soll. Denn solange zwei von drei Menschen in Afrika keinen Internetanschluss haben und Frauen Mobiltelefone verwehrt werden, bleibt die digitale Transformation der ganzen Gesellschaft eine Mär. Sie gilt dann nur für die urbane Elite sowie Teile der jungen Generation und der Privatwirtschaft.
Erste Voraussetzung für eine faire gestaltete Digitalisierung ist das Schliessen der digitalen Kluft zwischen Reich und Arm und zwischen urbanen Zentren und ländlichen Regionen. Dazu gehört eine weitreichende öffentliche Infrastruktur mit kostengünstigem Internet. Denn ein Smartphone zu haben, genügt nicht. Und es braucht einen Investitionsschub in die Schul- und Berufsbildung – verstanden als lebenslanges Lernen –, damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene aktiv an der Digitalisierung teilhaben können. Eine nachhaltige digitale Entwicklung setzt zudem Geschlechtergleichheit voraus. Daher müssen angesichts der heutigen Ungleichheit (in armen Ländern sind Männer mit 52 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit online als Frauen) Frauen und Mädchen in den Mittelpunkt der digitalen Entwicklung rücken.
Für staatliche und private Entwicklungsorganisationen gehört der Umgang mit der Digitalisierung längst zu ihrem entwicklungspolitischen Engagement. So fokussiert Helvetas beim Aufbau einer inklusiven, lokalen Wirtschaft für den «Aufbruch in Afrika» auch auf unternehmerische Initiativen im IKT-Bereich, um «die Nutzung des digitalen Potenzials für eine nachhaltige Entwicklung» zu nutzen. Gleichzeitig engagiert sie sich bei der lokalen Unternehmensförderung dafür, «insbesondere Frauen und andere benachteiligte Gruppen, die bei der Digitalisierung von Tätigkeiten oft durch die Maschen fallen, Perspektiven zu bieten». Am besten in enger Zusammenarbeit mit innovativen lokalen Start-Ups junger Afrikanerinnen und Afrikaner.