Während ihres ersten Jahres im UNO-Sicherheitsrat hat die Schweiz in New York nicht nur konkrete Resultate geliefert, sondern aufgezeigt, wie eine moderne, kohärente Schweizer Friedens- und Sicherheitspolitik aussehen könnte. Leider nur wollen Bundesrat und Parlament nichts davon wissen.
Wäre die Schweizer UNO-Delegation eine Erstklässlerin und der UNO-Sicherheitsrat ein Schulzimmer, die Eltern hätten wohl längst eine Versetzung beantragt: Von Beginn weg herrscht in der Klasse dicke Luft, Mobbing und wüste Beleidigungen sind an der Tagesordnung, und die grossen Jungs zanken sich mitten im Unterricht. An eine Erfüllung des Lehrplans ist schon lange nicht mehr zu denken. Und als wäre das alles nicht genug, bestehen auch noch berechtigte Zweifel daran, wie lange das Fundament des in die Jahre gekommenen Schulhauses noch hält.
Tatsächlich fällt der erste Einsitz der Schweiz als nicht-ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat in New York in eine denkbar schwierige Phase einer globalen «Poly-Krise»: Der anhaltende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, offene oder schwelende Konflikte im Südsudan, in Syrien oder Myanmar sowie die präzedenzlose Eskalation im Nahen Osten sorgen für enorme geopolitische Spannungen. Hunger und Armut sind wieder auf dem Vormarsch, der Klimawandel beschleunigt sich rasant, und die meisten Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung sind längst ausser Reichweite. Dazu kommt ein neuer Rechtspopulismus, der selbst vermeintlich stabile Demokratien erschüttert und die regel-basierte internationale Ordnung sowie den Multilateralismus offen in Frage stellt. Alles in allem könnte es grad besser laufen.
Die Kritik, die in Bundesbern bis kurz vor der offiziellen Wahl in den Sicherheitsrat im Juni 2022 an der Schweizer Kandidatur geäussert wurde, bezog sich allerdings kaum auf diese Schwierigkeiten. Stattdessen befürchteten damals vor allem rechtsbürgerliche Kreise, dass die Schweiz ihre Neutralität im Sicherheitsrat nicht aufrechterhalten könne und sich unnötig in «fremde Händel» verstricken würde. Ausserdem könne sie als kleines Land sowieso nichts bewegen. Bis zum letzten Moment wurde versucht, die über Jahre hinweg sorgsam vorbereitete Schweizer Kandidatur zu verhindern – letztlich aber ohne Erfolg. Zum Glück.
Zählbare Resultate
Denn die Schweizer UNO-Vertretung hat während ihres ersten Jahres im Sicherheitsrat nicht nur äusserst solides diplomatisches Handwerk geliefert und zählbare Erfolge erzielt. Sie hat mit ihrer progressiven, umfassenden Interpretation von Friedens- und Sicherheitspolitik auch aufgezeigt, wie sich die Schweiz international konstruktiv und gewinnbringend engagieren kann.
Gleich zum Auftakt erzielte die Schweiz im Sicherheitsrat einen ersten Durchbruch, als es ihr zusammen mit Brasilien gelang, das UNO-Mandat zur grenzüberschreitenden humanitären Hilfe in Syrien um weitere sechs Monate zu verlängern. Damit konnten über vier Millionen Menschen weiterhin direkt und unabhängig vom syrischen Regime mit Hilfsgütern versorgt werden. Zuvor war gemutmasst worden, dass Russland eine Verlängerung des Mandats verhindern würde – dank sorgfältiger diplomatischer Arbeit hinter den Kulissen blieb ein solcher Eklat jedoch aus. Die Freude währte allerdings nur kurz: Im Juli 2023 machte Russland seine Drohungen schliesslich wahr und verhinderte eine erneute Mandats-Verlängerung.
Wurde die Syrien-Resolution in den Schweizer Medien noch vielfältig und positiv rezipiert, so blieben spätere Schweizer Erfolge im Sicherheitsrat weitgehend unbemerkt. Das gilt etwa für die Verlängerung des Mandats des UNO-Büros für Westafrika und den Sahel (UNOWAS), dank der sich die Weltgemeinschaft in der Region für weitere drei Jahre für den Schutz der Zivilbevölkerung und die Friedensförderung einsetzen kann. Und schliesslich spielte die Schweiz im November 2023 bei der erfolgreichen Verlängerung der EU-Mission in Bosnien-Herzegowina (EUFOR) eine wichtige Rolle. Auch hier bedurfte es wiederholter Gespräche mit Russland, um den Widerstand Moskaus gegen eine anhaltende Präsenz der EU auf dem Westbalkan zu zerstreuen.
Wichtige Vermittlerrolle
Nebst diesen konkreten Resultaten tut sich die Schweiz auch immer wieder als Vermittlerin und «Watchdog» hervor: Regelmässig mahnt sie die grundlegenden Prinzipien der internationalen Ordnung an und erinnert Grossmächte und Konfliktparteien an das humanitäre Völkerrecht. Dank geschicktem Agenda Setting ist es ihr 2023 auch wiederholt gelungen, die Diskussion zum Thema «Klimasicherheit» (vgl. die vier Prioritäten der Schweiz im Sicherheitsrat) aufrechtzuerhalten – obwohl ein entsprechender Vorstoss unter der Federführung Nigers und Irlands Ende 2021 noch spektakulär am Widerstand Russlands gescheitert war.
Ebenso bemüht sich die Schweizer Vertretung darum, die Diskussionen im Sicherheitsrat um Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu bereichern. Dazu lädt sie, etwa im Rahmen der Women, Peace and Security Agenda (WPS), wiederholt Vertreter:innen lokaler Partnerorganisationen der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit nach New York ein, um ihre Anliegen und Sichtweisen einzubringen. Und sie sorgt dafür, dass diese Anliegen nicht einfach höflich abgenickt werden, sondern verschriftlicht die Kernbotschaften und reibt sie den anderen Mitgliedern im Sicherheitsrat bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder unter die Nase. Gemäss der Politikwissenschafterin Flavia Keller, die an der Universität Lausanne die Arbeit der Schweiz im Sicherheitsrat verfolgt, kommt nicht-ständigen Mitgliedern gerade bei solchen Transversalthemen eine wichtige Rolle zu: «Die Schweiz wirkt in Bezug auf die WPS-Agenda oder die Klimasicherheit sehr konstruktiv. So ist das Klimathema im Sicherheitsrat zwar weiterhin nicht institutionalisiert – trotzdem taucht es immer wieder auf der Agenda auf.»
Verpasste Chance
Die Beispiele zeigen: In New York praktiziert die Schweiz eine kohärente Aussen- und Sicherheitspolitik, die sich nicht einfach in der Wahrung wirtschaftlicher Interessen und der Aufrechterhaltung der eigenen Wehrfähigkeit erschöpft. Stattdessen pflegt sie einen umfassenden entwicklungs- und friedenspolitischen Dialog und bemüht sich dabei auch um die legitimen Interessen des Globalen Südens. All dem liegt die Einsicht zugrunde, dass Frieden, Stabilität und nachhaltige Entwicklung in Nord und Süd im ureigensten Interesse des Kleinstaats Schweiz liegen.
Leider nur findet dieser Ansatz in der Schweizer Politik kaum Resonanz. In Bern, wo derzeit die zukünftige Ausrichtung der Friedens- und Sicherheitspolitik der Schweiz verhandelt wird, dominiert ein sehr eng gefasstes, konventionelles Verständnis von Sicherheit: Während die Rüstungsausgaben in präzedenzloser Art und Weise hochgefahren werden, wird die internationale Zusammenarbeit (IZA) – welche die langfristige Entwicklungszusammenarbeit und die menschenrechts- und friedenspolitische Arbeit im Süden beinhaltet – zusammengestrichen, indem Milliarden von Schweizer Franken für den Wiederaufbau der Ukraine abgezweigt werden sollen. Um ein Missverständnis zu vermeiden: Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine sind absolut notwendig, doch nicht auf Kosten der Entwicklungs- und Friedensarbeit, die mit dem jetzigen Vorschlag nicht nur gegeneinander ausgespielt, sondern zugunsten eines verteidigungspolitischen Alleingangs schrittweise abgebaut wird. Selbst der Aussenminister, der sowohl für die Schweizer UNO-Vertretung als auch die Internationale Zusammenarbeit verantwortlich zeichnet, unterstützt diesen Weg. Doch das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, wofür die Schweiz bei der UNO einsteht.
Dabei wäre der gegenwärtige Einsitz im Sicherheitsrat eine historische Chance für die Schweiz, ihre Rolle in der Welt und ihre Beziehungen zum Globalen Süden neu zu denken und ihr Engagement für das humanitäre Völkerrecht zu erneuern. Noch bleibt ein Jahr Zeit, um dazuzulernen.