Über zehn Millionen Menschen sind «staatenlos». Sie gehören rechtlich keinem Staat an. Die Betroffenen haben keinen oder einen erschwerten Zugang zu Bildung, Medizin, sozialer Unterstützung und juristischem Schutz. Die UNO hat dem Problem der Staatenlosigkeit den Kampf angesagt. Erste Erfolge wurden erzielt. Trotzdem steigen die Zahlen.
Laut offizieller Zählung sind 4,4 Millionen Menschen «staatenlos», verteilt auf knapp 100 Länder. Es sind Bürger:innen, die keinem Land zugehörig sind. Weil nicht mal die Hälfte der Länder dem UNHCR ihre Daten rapportiert, ist die Dunkelziffer sehr hoch. Die tatsächliche Zahl der Staatenlosen dürfte bei über 10 Millionen liegen. Zählt man die staatenlosen Palästinenser:innen, die einen besonderen Fall darstellen und nicht in der UNHCR-Statistik erscheinen, dazu, steigt die Zahl staatenloser Menschen weltweit sogar auf rund 15 Millionen.
Für Betroffene hat Staatenlosigkeit gravierende Folgen. Denn ein Ausweisdokument ist Grundlage dafür, ob man Land kaufen, sich an einer Universität einschreiben oder offiziell heiraten kann. Staatenlose haben meist keinen Anspruch auf Sozialleistungen, eine Rente oder Arbeitslosengeld. Sie können keinen Führerschein machen und kein Bankkonto eröffnen. Der Pass ist auch Voraussetzung, damit man wählen und abstimmen darf. Staatenlose führen meist ein Leben in der Illegalität und ohne Perspektiven und faire Chancen im Leben. Sie sind oft unterwegs, leben in Flüchtlingslagern oder informellen Siedlungen am Rande der Gesellschaft.
Vielfältige Gründe für eine Staatenlosigkeit
Es gibt unterschiedliche Gründe für Staatenlosigkeit: In vielen Ländern werden Menschen nach wie vor aufgrund von Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht diskriminiert: So wird z.B. die muslimische Minderheit der Rohingya in ihrer buddhistisch geprägten Heimat Myanmar seit Jahrzehnten verfolgt. Ein Gesetz von 1982 entzog den meisten Rohingya vollends ihre Staatsbürgerschaft. 2017 floh mehr als eine Million Menschen über die Grenze nach Bangladesch, wo sie nun im weltgrössten Flüchtlingslager leben. Heute halten sich noch rund 600'000 Rohingya unter schwierigsten Bedingungen in ihrer Heimat Rakhine im Westen des Landes auf.
2010 entzog die Dominikanische Republik nach einer Verfassungsänderung Zugewanderten aus Haiti ihre Ausweise. Erst nach internationalen Protesten, lenkte die Regierung ein und änderte das Einbürgerungsgesetz. Personen aus Haiti können sich neu registrieren lassen, viele Fälle bleiben aber hängig. Im Libanon wiederum werden Frauen politisch und sozial diskriminiert, indem sie ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben können. Kinder staatenloser Männer bleiben daher staatenlos. Die Regierung zeigt bislang wenig Interesse, an dieser veralteten Praxis zu rütteln.
Staatenlos ist aber auch, wer mit der Bürokratie und dem Umgang mit Behörden überfordert ist, die Regeln und Gesetze des Landes zu wenig kennt – oder von der Regierung als nachrangig behandelt wird, vor allem in neu gegründeten Staaten. So waren z.B. die (ehemals) nomadisch lebenden Tuareg für die arabische Mehrheit das rückständige Berbervolk. Heute verteilen sie sich auf Algerien, Mali, Burkina Faso und Libyen, wobei ihre Chance auf Einbürgerung klein ist. Manche entschliessen sich deshalb zur Flucht über das Mittelmeer. Ähnlich wie den Tuareg ergeht es den Bidun, die von Nomaden abstammen und weit verstreut in Irak, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Bahrain leben – und in Kuwait, wo sie sich nach der Unabhängigkeit des Emirates 1961 wegen mangelnder Sprachkenntnisse und fehlendem Wohnsitz nicht registrieren liessen. Noch heute werden ihnen grundlegende Rechte vorenthalten, etwa der reguläre Schulbesuch oder der Anspruch auf Sozialleistungen. Eine Gesetzesreform 2015 hat ihre Situation nur marginal verbessert.
Schliesslich drohen bald unzählige Menschen im Zuge des Klimawandels staatenlos zu werden. Denn der steigende Meeresspiegel wird zahlreiche Inseln wie die Malediven, Kiribati, Tuvalu und Mikronesien im Wasser verschwinden lassen. Noch können die dortigen Bevölkerungen auf keinen Schutz irgendeiner Regierung hoffen. So gilt in naher Zukunft noch mehr als heute: Staatenlosigkeit ist ein politisches, humanitäres und internationales Problem, dem sich die globale Staatengemeinschaft annehmen muss. Sie muss frühzeitig den rechtlichen Rahmen für Staaten schaffen, in denen es künftig wegen steigender Meere und Überschwemmungen, Wüstenbildung oder Landverödung kein bewohnbares Land mehr geben wird.
Eine UNO-Kampagne erzielt Erfolge – doch die Ziele bleiben unerreichbar
Da sich die Probleme von Flüchtlingen und Staatenlosen oft überschneiden, übertrug die UNO-Generalversammlung 2003 dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR ein spezielles Mandat für Staatenlose. Im Rahmen dieses Mandats arbeitet das UNHCR mit den Regierungen zusammen auf das Ziel hin, die rechtliche und soziale Situation von Staatenlosen zu verbessern und die Zahl von staatenlosen Personen zu vermindern. 2014 lancierte das UNHCR die Kampagne «#IBelong» («Ich gehöre dazu») mit dem Ziel, Staatenlosigkeit mittels eines ambitionierten globalen Aktionsplans innerhalb von zehn Jahren zu beenden. Die Kampagne trägt direkt zum UNO-Ziel für nachhaltige Entwicklung SDG 16.9 bei: Bis 2030 eine legale Identität für alle schaffen, einschliesslich einer Geburtsregistrierung. Die Beendigung von Staatenlosigkeit trägt auch zu den SDGs bei, die sich unter anderem auf die Gleichstellung der Geschlechter, auf Bildung, auf Arbeit und auf Gesundheit beziehen.
Dank der Kampagne hat sich das Bewusstsein für die Staatenlosigkeit in vielen Ländern geschärft, viele Regierungen – etwa Kirgistan und Usbekistan, Kenia und die Elfenbeinküste, Thailand und Malaysia, Kolumbien sowie Estland und Lettland – haben Erfolge erzielt. Seit Kampagnenstart haben weltweit 517’000 staatenlose Menschen eine Staatsbürgerschaft erhalten, 15 Regierungen haben die gesetzlichen Hürden für staatenlose Kinder reduziert, 21 Länder haben die Hürden für den Erwerb einer Staatsbürgerschaft gesenkt. Der Fortschritt zeigt sich auch darin, dass immer mehr Länder das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 mittragen (eine Ratifizierung durch die Schweiz steht bis heute aus). Gleichwohl besteht in vielen Ländern nach wie vor grosser Handlungsbedarf. Gleichzeitig kommen mit der Klimakrise und der zunehmenden Flucht und Vertreibung neue Herausforderungen hinzu.
Der «Statelessness Index» macht auf bestehende Lücken in der Schweiz aufmerksam
Im Juni 2023 lebten 2'470 Personen in der Schweiz, bei denen die Herkunft unbekannt ist. Grossmehrheitlich reisen diese Menschen als Flüchtlinge ohne Papiere bzw. staatenlos in die Schweiz ein. Wie in vielen Ländern ist der Schutz der Staatenlosen auch hierzulande schwach. Das zeigt der sog. Statelessness Index auf, der auf bestehende Lücken in Politik und Praxis hinweist. Seit Jahren setzt sich UNHCR Schweiz dafür ein, dass Staatenlose einen besseren Zugang zu Informationen erhalten, geschützt und angehört werden und angemessen unterstützt werden.
Weltweit ersehnen sich Millionen Menschen eine Staatsangehörigkeit – unerwünschte Minderheiten und diskriminierte Religionen, benachteiligte Mütter und (unbegleitete) geflüchtete Kinder. Andere wiederum erkaufen sie sich: So reisen z.B. viele wohlhabende Russ:innen seit Ausbruch des Ukrainekriegs nicht mehr mit ihrem russischen Pass in die Schweiz ein, sondern mit einem gekauften Zweitpass, etwa einem maltesischen oder zypriotischen. Während staatenlosen Frauen, Männern und Kindern also weltweit und auch hierzulande bürokratische Steine in den Weg gelegt werden und für sie das Reisen ein ferner Traum bleibt, scheint es auf den Ankunfts-Flughäfen für Privatjets niemanden zu interessieren, welche Identität sich hinter den Jet-Settern verbirgt, die nach St. Moritz, Gstaad oder Zermatt weiterreisen. Es ist das Privileg, reich zu sein.