Die Eawag, das Wasserforschungsinstitut der ETH, sagt, dass bis zu 4,4 Milliarden Menschen ohne Zugang zu sicherem Wasser sind. Das sind doppelt so viel wie bisher angenommen. Sind Sie überrascht?
Ehrlich gesagt, nein. Die Schätzung kommt der Wahrheit wohl nahe. Auf meinen Reisen sehe ich, wie Regierungen Trinkwasser mit Leitungswasser gleichsetzen. Doch was aus dem Hahn kommt, ist nicht per se trinkbar. Immer öfter sind Wasserressourcen mit giftigen Schadstoffen belastet, etwa mit Pestiziden oder Schwermetallen aus dem Bergbau oder von unverantwortlichen Industrien. Auch im Leitungsnetz selbst wird Wasser verunreinigt, weil zu wenig gechlort wird oder die Leitungen alt sind. In Städten versickert über 40 Prozent des Leitungswassers, weshalb die Verantwortlichen die Bewohner:innen anders versorgen müssen. Durch Druckabfall oder Wasserunterbrüche dringen dann Schadstoffe an den Leckstellen ein.
Vor 15 Jahren hat die Uno-Generalversammlung Wasser und sanitäre Versorgung als Menschenrecht verankert. Kann das je erreicht werden?
Ja. Dafür müssen Regierungen aber überdenken, wie sie Wasserressourcen und Wasserökosysteme bewirtschaften. Und ihre Prioritäten anders setzen. Gemäss WHO beträgt das lebensnotwendige Minimum für ein menschenwürdiges Leben 50 bis 100 Liter pro Person und Tag. Das sind weniger als fünf Prozent des gesamten Wasserverbrauchs. Es hat also genug, um dem Menschenrecht Vorrang einzuräumen, um allen Menschen Zugang zu Wasser zu garantieren, was eigentlich eine Pflicht einer jeden Regierung ist. Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit bräuchte es strenge Gesetze, die es unter Strafe verbieten, Flüsse und Grundwasser zu verschmutzen. Selbst Armut ist keine Entschuldigung, das Menschenrecht auf Wasser hintan zu stellen.
Milliarden von Menschen haben keinen sicheren Zugang zu Wasser. Regierungen und Institutionen tun sich schwer, mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Meist sind es Frauen, die sich für das Menschenrecht auf Wasser einsetzen, Tag für Tag, und werden dafür kriminalisiert und unterdrückt.
Was wurde bisher erreicht?
Weniger als nötig ist. Aber es gibt Fortschritte. Immer mehr Länder nehmen das Menschenrecht in ihre Verfassungen auf, doch nur wenige erlassen entsprechende Gesetze und Verordnungen. Es gibt Länder, die gesetzlich verbieten, armen Familien das Wasser abzustellen, etwa Frankreich. In Spanien hat jeder Mensch Anrecht auf 100 Liter Wasser pro Tag – auch wer es nicht bezahlen kann. Südafrika ist trotz seiner Armutsrate ein Vorbild bei Gesetzgebung und Umsetzung. Am meisten Fortschritte machen Städte, die Familien in prekären Lebensumständen das Wasser nicht abschalten – so Lyon oder Medellín in Kolumbien.
Welches sind die grössten Herausforderungen? Und warum?
Indigene Gemeinschaften, Bauernfamilien und Menschen in den verarmten Randgebieten von Grossstädten stehen vor den grössten Herausforderungen. Besonders betroffen sind Frauen und Kinder. Grund sind fehlende Investitionen in Wasserinfrastrukturen, weil die öffentliche Hand andere Prioritäten setzt. Landund Wassergrabbing sowie Umweltverschmutzung in ländlichen und indigenen Gebieten sind weitere Faktoren. Die politische und soziale Marginalisierung der Betroffenen führt dazu, dass ihre Stimmen in den Entscheidungsgremien nicht gehört werden.
Pedro Arrojo-Agudo, Uno-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Wasser
Was können Sie für Menschen tun, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen bei Ihnen melden?
Ich schreibe zuerst einen Brief an die entsprechende Regierung. Sie erhält zwei Monate Zeit zu antworten, bevor ich den Brief veröffentliche. Vor dem Menschenrechtsrat in Genf und vor der UnoGeneralversammlung in New York kann ich Vorwürfe thematisieren und Lösungen vorschlagen. Die internationale Sichtbarkeit dieser Berichte und die Medienberichterstattung in den jeweiligen Ländern erzeugen zweifellos Druck und stärken gleichzeitig die sozialen Bewegungen, die sich für das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Versorgung einsetzen. Kurz: Ich kann Probleme sichtbar machen sowie Vorschläge und Empfehlungen unterbreiten, die den Regierungen, aber vor allem den betroffenen Bevölkerungsgruppen nützen.
Was können NGOs wie Helvetas beitragen?
Soziale Bewegungen und NGOs spielen eine entscheidende Rolle, indem sie die Zivilgesellschaft stärken und den Menschen auf allen Ebenen Gehör und Verständnis verschaffen – auch bei Regierungen und internationalen Institutionen. Sie müssen den interkulturellen Dialog fördern, um traditionelles Wissen und traditionelle Praktiken zu verstehen. Denn daraus können wir Lehren ziehen – sowohl im Hinblick auf die ökologische Nachhaltigkeit als auch auf den demokratischen Umgang mit lebenswichtigen Gütern wie Wasser. Nur wenn wir Wasser als Gemeingut verstehen und verwalten, lassen wir niemanden zurück.
Was kann jede einzelne Person tun?
Wir alle tragen Verantwortung. Es ist unsere Pflicht, uns für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in unserer Gemeinde zu interessieren und uns auch einzumischen. Wir müssen von den Verantwortlichen Transparenz, Rechenschaft und Partizipation fordern, da Wasser ein öffentliches Gut ist. Wir können und sollten auch zuhause dem Wasser Sorge tragen, aber unser Beitrag zum Wassersparen ist weit geringer, als wenn Leitungsnetze repariert werden. Wenn wir alle unsere Regierungen auffordern, dem Menschenrecht auf Wasser nachzukommen, ist das keine Übung in Wohltätigkeit, sondern schlicht und einfach eine Frage der demokratischen Verantwortung.
(Das Interview wurde schriftlich geführt.)