Einmal mehr zeigt uns ein Krieg, dass seine Auswirkungen Leid weit abseits der Schlachtfelder auslöst. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verschärft in vielen Ländern in Afrika und im Nahen Osten die Ernährungskrise. Neben dem humanitären Engagement sind entwicklungspolitische Bemühungen für mehr Ernährungssicherheit ein weiterer Hebel, um soziale Konflikte und neue Kriege zu vermeiden.
Nach Jahren des Rückgangs nimmt der Hunger global gesehen wieder zu. Gründe, warum sich die Welt laut der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) in einem kritischen Stadium befindet, gibt es zahlreiche: Vielerorts verunmöglichen gewaltsame Konflikte Anbau und Ernte, Verarbeitung und Transport sowie Versorgung und Vermarktung von Lebensmitteln.
Hinzu kommen die immer dramatischer werdenden Folgen des Klimawandels: Höhere Temperaturen, veränderte Niederschlagsmuster und häufigere Extremwetterereignisse wie Dürren und Sturzfluten machen die Ernährungssituation immer unsicherer. Auch die Coronakrise hat den globalen Hunger noch einmal ansteigen lassen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, kommt nun noch der völkerrechtswidrige russische Angriff auf die Ukraine hinzu.
Die Ukraine und Russland gelten als «Kornkammern Europas», ja gar der Welt: Zusammen decken die beiden Länder rund 30 Prozent des weltweiten Weizenbedarfs ab. Seit Jahren rangieren Russland und die Ukraine unter den grössten Exporteuren von Weizen, Mais, Raps, Sonnenblumenkern und Sonnenblumenöl.
Seit Beginn des Krieges hat Russland seine Weizenexporte stark eingeschränkt; die Ukraine exportiert gar nichts mehr, um die Versorgung im eigenen Land zu sichern. Gerade im Norden des Landes ist die Landwirtschaft zusammengebrochen. Bäuerinnen und Bauern können ihre Felder nicht mehr erreichen, es fehlt an Dünger und an Treibstoff, Landarbeiter fliehen in andere Landesteile oder werden für das Militär eingezogen. Offen ist, ob der bereits ausgesäte Weizen im Sommer geerntet werden kann. Ausserdem hätte im März das Sommergetreide und Mais ausgesät werden sollen. In den Sternen steht, wie es nächstes Jahr aussieht.
Klar ist hingegen, dass die Abhängigkeit vieler Entwicklungsländer von russischem und ukrainischem Weizen gross ist. Durch die Exportbeschränkungen könnten laut der FAO die Preise für Nahrungsmittel und Futter auf dem Weltmarkt um bis zu 22 Prozent steigen und damit den höchsten Stand aller Zeiten erreichen. Erinnerungen an den Arabischen Frühling werden wach, als steigende Lebensmittelpreise, vor allem für Brot, zu weitverbreiteten Protesten in nordafrikanischen Staaten führten.
Uno-Generalsekretär warnt vor «Wirbelsturm des Hungers»
Eindringlich warnte UN-Generalsekretär António Guterres schon Mitte März vor den weltweiten Folgen des Kriegs. Die Kornkammer werde bombardiert, und es drohe ein «Wirbelsturm des Hungers». Angesichts der grossen Bedeutung der Ukraine als Nahrungsmittelexporteur sei die Invasion «auch ein Angriff auf die am meisten gefährdeten Menschen und Länder der Welt».
Denn während in Ländern des globalen Nordens die steigenden Lebensmittelpreise nicht so stark ins Gewicht fallen, wird in Ländern des globalen Südens der allergrösste Teil des Einkommens für die tägliche Mahlzeit ausgegeben.
Die 45 am wenigsten entwickelten Länder der Welt importierten mindestens einen Drittel ihres Weizens aus der Ukraine oder Russland, 18 Länder darunter sogar über 50 Prozent. Dazu gehören Ägypten und der Kongo, Libyen und Somalia, der Sudan und Jemen. Allesamt Länder, die schon heute auf humanitäre Hilfe und Nahrungsmittellieferungen angewiesen sind, weil bereits jetzt Millionen von Menschen massiv unter Hunger leiden.
Der Krieg trifft auch Länder, in denen Helvetas tätig ist. Zum Beispiel Madagaskar, das 75 Prozent des Weizens aus Russland und der Ukraine importiert. Die Ernährungslage verschlechtert sich zusehends. Dabei leidet die Bevölkerung bereits stark unter langanhaltenden Dürren und klimabedingten Extremwetterereignissen: Anfang Jahr sind innert vier Wochen vier Wirbelstürme über die Insel gefegt.
In Tunesien, das beinahe 40 Prozent des Weizenbedarfs aus der Ukraine bezieht, steigen die Weizenpreise ins Unermessliche. Der tunesische Präsident macht den Krieg in der Ukraine sowie einsetzende Nahrungsmittelspekulation, die damit einhergeht, für die schlechte Situation verantwortlich. Weil die Verschuldung immer stärker ansteigt, ersuchte die tunesische Regierung schon vor Ausbruch des Krieges um finanzielle Hilfe beim Internationalen Währungsfonds (IWF).
Auch der Libanon, der 75 Prozent des Weizens aus Russland und vor allem aus der Ukraine besorgt, sucht verzweifelt nach anderen Weizenexporteuren, doch bislang ohne Erfolg. Die Regierung wendete sich mit einem Hilferuf an die internationale Staatengemeinschaft. Befürchtet werden nun Rationierungen und markante Preisanstiege, die die bereits gebeutelte Bevölkerung hart treffen.
Burkina Faso und Mali, die über 30 Prozent bzw. 25 Prozent des Weizens aus Russland beziehen, spüren die Auswirkungen des Kriegs ebenfalls. Wegen der Klimaveränderung und Covid-19 war die Zahl der hungernden Menschen in Ländern der Sahelregion laut dem Uno-Welternährungsprogramm (WFP) bereits vor Kriegsausbruch in der Ukraine zehn Mal höher als noch 2019. Aufgrund sinkender Importe und steigender Preise wird sich die Lage in diesen Ländern zusätzlich verschärfen.
Schliesslich das Horn von Afrika, wo bereits 13 Millionen Menschen an Hunger leiden: Äthiopien importiert rund 40 Prozent des Weizens aus Russland und der Ukraine, Kenia 30 Prozent und Somalia über 90 Prozent. 2022 sind in dieser Weltregion bis zu 20 Millionen Menschen gefährdet, warnt die FAO. Verantwortlich dafür: die Klimaveränderung und häufigere Extremwetter wie Dürren, Heuschreckenschwärme und die Zerstörung von Weideland, wirtschaftliche Einbrüche infolge der Covid-19 Pandemie – und die russische Regierung.
Die Hebel der Schweiz
Die Schweiz hat politische Hebel und verschiedene Möglichkeiten, betroffene Menschen und Länder zu unterstützen. Sie kann – alternativ zur Aufstockung des Armeebudgets – ihr humanitäres Engagement vor Ort und in der Region ausbauen. Dank ihrer grossen Erfahrung kann die Schweiz entwicklungs- und friedenspolitische Bemühungen verstärken und jene zum Schutz der Menschenrechte intensivieren.
Um die absehbaren Hungersnöte abzuwenden, muss der Handel mit Nahrungsmitteln international geregelt werden. Es geht nicht an, dass Spekulation mit knappen Nahrungsmitteln Hungerkrisen verschärft. Weil 80 Prozent der russischen Rohstoffe über Genf, Lugano, Zürich und Zug gehandelt werden, trägt die Schweiz hier eine Verantwortung.
Schliesslich kann die Schweiz die Sanktionen rigoroser umsetzen: Anders als andere Staaten, gehen Bundesrat und Politik, Banken und Treuhänder zögerlich vor. Von geschätzten russischen Vermögen von 200 Milliarden Franken sind bislang weniger als sechs Milliarden eingefroren. Politikerinnen und Politiker bis ins bürgerliche Lager fordern mittlerweile, dass mehr unternommen wird, um Gelder von sanktionierten Putin-Vertrauten aufzuspüren.