Die frisch gewählte Helvetas Präsidentin im Interview
Regula Rytz, wie passt Helvetas in Ihren Lebensweg?
Ich habe mich schon in jungen Jahren für Gerechtigkeit eingesetzt und für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Aber auch für Bildung als Voraussetzung für Selbstbestimmung und wirtschaftliche Perspektiven. Ich bin mit der Atomkatastrophe in Tschernobyl politisiert worden. Es war auch die Zeit des Apartheidregimes in Südafrika. Menschen aus Sri Lanka suchten Schutz in der Schweiz, die sich als sehr knausrig entpuppte. Ich begriff, dass nicht alle Menschen auf dieser Welt mit denselben Chancen geboren werden und dass wir zum Ausgleich dieser Ungerechtigkeit einen Beitrag leisten können.
Ein Engagement in einer globalisierten Welt.
Ja, wir sehen heute mit dem UkraineKrieg, wie vernetzt alles ist. Wir kaufen Erdöl und Gas aus Russland, Menschen in Nordafrika sind angewiesen auf den Weizen aus der Ukraine. Wegen dieser Abhängigkeiten steigt die Ungleichheit und auch die Armut nimmt wieder zu. Eine Welt, in der viele Menschen Verliererinnen und Verlierer sind, ist eine höchst ungemütliche Welt. Auch für uns. Das Verständnis, dass die Welt unsere Heimat ist – das ist mein Lebensgefühl –, das müssen wir verankern. Denn nur so übernehmen wir Verantwortung für Chancengleichheit und Lebensperspektiven über die Landesgrenzen hinaus.
Was verbindet Sie mit Helvetas?
Mein Mann lebte als Kind in Nepal. 2017 haben wir dort mit Freundinnen und Freunden zusammen Deza-Projekte besucht. In jedem zweiten Haushalt gibt es Menschen, die im Ausland arbeiten, die beispielsweise in Katar Fussballstadien bauen. Das läuft unter sehr prekären Umständen. Helvetas informiert deshalb die Migrationswilligen mit lokalen Organisationen zusammen über ihre Rechte. Gleichzeitig werden Familienmitglieder in der Heimat in Kursen dazu ermutigt, nachhaltig mit dem Geld aus den Rücküberweisungen umzugehen und eine Existenz aufzubauen. Es geht um sicherere Migration. Der Ansatz hat mich sehr überzeugt, denn er verbessert innerhalb der gegebenen Realität, zu der auch Migration gehört, die Lebensgrundlagen der Menschen. Als ich angefragt wurde, ob ich mich als Helvetas-Präsidentin zur Wahl stellen würde, war mir rasch klar: Hier möchte ich einen Beitrag leisten.
Was liegt Ihnen denn besonders am Herzen?
Am Herzen liegt mir die Stärkung der Frauen. Ebenso die Berufsbildung und die wirtschaftliche Unabhängigkeit als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Als Grüne ist mir natürlich auch wichtig, dass wir den Klimawandel bremsen. Der jüngste Bericht des Weltklimarats zeigt deutlich, dass die Hälfte der Weltbevölkerung unmittelbar davon bedroht ist. Das macht mir enorme Sorgen.
Worauf stellen Sie sich ein?
Ich fürchte, dass wir in eine schwierigere Zeit kommen, weil sich viele Krisen überlagern: allen voran die Klimakrise und damit verbunden eine Nahrungsmittelkrise. Wenn Menschen sich nicht mehr ernähren können, verlassen sie ihre Heimat, was zu grossen Migrationsbewegungen führen wird. Wir haben eine Biodiversitätskrise als Folge einer industrialisierten Landwirtschaft, die von grossen Konzernen kontrolliert wird. Wir haben eine Demokratiekrise: Weniger als 50 Prozent der Weltbevölkerung leben noch in demokratisch geführten Ländern, über ein Drittel in Diktaturen. Menschen brauchen Hoffnung, Kinder Bildungsmöglichkeiten, Jugendliche und Erwachsene Jobaussichten und alle eine gesunde Umwelt. Das können wir nur erreichen, wenn wir die internationale Zusammenarbeit stärken und die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung ernst nehmen. Meine Hoffnung ist es, dass Regierungen, Parlamente und Wirtschaft sich einen Ruck geben, damit wir die Überlebensfähigkeit dieses Planeten sichern können. Kurz gesagt: Es wird weniger Schönwetter sein, und etwas mehr Sturm.
Und das entmutigt Sie nicht?
Nein, das spornt mich an. Nach vielen Jahren Rund-um-die-Uhr-Politik könnte ich es etwas gemütlicher nehmen. Aber das interessiert mich nicht. Ich will mein breites politisches und gesellschaftliches Netzwerk nutzen, um die Arbeit von Helvetas zu unterstützen. Auch in der Entwicklungs- und der Klimapolitik.
Interview: Rebecca Vermot
Regula Rytz